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Warum der christliche Glaube seine beste Zeit noch vor sich hat

Kreuz in Pensacola Beach (USA)

Die Welt hat sich in den letzten zwanzig Jahren dramatisch verändert. Zukunftsforscher, Sozialwissenschaftler und Trendanalysten sprechen davon, dass wir in einer Zeitenwende leben. Ähnlich wie zu Zeiten Martin Luthers ändert sich gerade unsere gesamte Lebenswirklichkeit. Stichworte wie digitale Revolution, neue Medien, Migration, Klimawandel, Erlebnisgesellschaft, Relativismus, Individualisierung, Terrorismus, Sexualisierung des Alltags illustrieren den Wandel. Die Veränderungen geschehen global und in einem atemberaubenden Tempo. Die Welt von gestern verschwindet. Wir treiben einem völlig neuen Zeitalter entgegen, das unser gesamtes Leben transformieren wird. Und kein Bereich ist davon ausgenommen: Arbeit, Partnerschaft, Freizeitverhalten, Haushaltsarbeit, Medien, Reisen, Forschung, Schule, Erziehung, Ökonomie, Shoppen, Sport, Gesundheit, Kinder kriegen. Und was ist mit Religion?

Der weltweite Aufschwung von Religion boomt, besonders das Christentum. Nicht bei uns. Aber in unvorstellbarem Ausmaß in Asien, Afrika, Südamerika. Selbst in den Vereinigten Staaten. Während der Glaube in Europa immer mehr zum Randphänomen wird, verlagert sich der Schwerpunkt des Christentums nach Süden und Osten. Neue geistliche Bewegungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Christliche Gemeinden werden gegründet in einer Zahl, wie sie dieser Planet noch nie gesehen hat. Ganze Regionen wenden sich dem Glauben zu. Die alte Säkularisierungsthese, dass Bildung und Wohlstand zwangsläufig zum Niedergang von Religion führen, wird heute von kaum einem Wissenschaftler vertreten. Und auch der sogenannte neue Atheismus eines Richard Dawkins ist nur eine Panikreaktion auf ein globales religiöses Erwachen. 

Noch vor fünfzig Jahren war es einhellige Überzeugung an den meisten Universitäten, dass Religion eines Tages verschwunden sein wird. Bildung und Wohlstand vertragen sich nicht mit Religion. Der Sieg der Moderne ist gleichzeitig ein Sieg über je den Glauben. 1968 schrieb der renommierte jüdisch-lutherische Religionssoziologe Peter L. Berger in der New York Times: „Im 21. Jahrhundert wird man re ligiöse Gläubige möglicherweise nur in kleinen Gruppen finden, wo sie eng zu sammengedrängt einer weltweiten säkula ren Kultur widerstehen.“ Nicht nur Peter L. Berger hat sich revidiert. An der Säkularisierungsthese kann man sehen, wie eine wissenschaftlich begründete Grundüberzeugung innerhalb kurzer Zeit zum großen Irrtum einer ganzen Zunft wird. Statt des prognostizierten Niedergangs von Religion, wenn Wissenschaft, Bildung, Industrialisierung und Urbanisierung eine Gesellschaft verändern, öffnen sich gerade Gesellschaften, die sich wirtschaftlich im Aufschwung befinden und intensive Modernisierungsprozesse durchlaufen, in einem unvorstellbaren Ausmaß für den christlichen Glauben. Ausgerechnet in gebildeten und wirtschaftlich erfolgreichen Milieus gewinnt Religion an Attraktivität. Das gilt besonders für den ostasiatischen Raum, wo heute über zehn Prozent der Bevölkerung Christen sind. Vor fünfzig Jahren waren es gerade mal 1,2 Prozent. Wer deutsche Zahlen gewohnt ist, wo immer noch die Hälfte der Menschen einer christlichen Kirche angehört, den wird das nicht beeindrucken. Christsein in Deutschland heißt, dass man formal zu einer Kirche gehört, aber zumeist mit den Glaubensinhalten nichts anzufangen weiß und auch den Glauben kaum praktiziert. 

Ganz anders in den meisten Teilen der Welt. Dort bedeutet Christsein, dass man seinen Glauben kennt und bekennt, seine Bibel liest, wöchentlich einen Gottesdienst besucht und seine Gemeinde mit oft zehn Prozent seines Einkommens mitfinanziert. Das dramatischste Gemeindewachstum kann man in Afrika beobachten. Dort hat sich die Zahl der Christen in den letzten fünfzig Jahren mehr als verfünfzigfacht. Das ist weniger eine Frucht der Arbeit traditioneller Christentümer, sondern neuer geistlicher Bewegungen zumeist pentekostaler Provenienz. Zwei große Bewegungen verändern Lateinamerika: das enorme Wachstum protestantischer Kirchen, zu meist evangelikal pentekostal geprägt (ihre Mitgliederzahl dürfte bei hundert Millionen liegen) und eine Revitalisierung der katholischen Kirche durch die katholisch-charismatische Erneuerung. 

Europas Kirchen im Krisenmodus 

Angesichts der wachsenden weltweiten Dynamik des Christentums reibt man sich beim Blick auf unseren Kontinent verwundert die Augen. Was ist bloß mit Europa los? Ein ganzer Kontinent verabschiedet sich von seinen christlichen Wurzeln. Der Westen verleugnet seine Herkunft und seine religiösen Traditionen. Besonders akut ist der Niedergang in Deutschland, dem Land der Reformation. Jedes Jahr verlassen Menschen in der Größenordnung einer deutschen Metropole eine der beiden Großkirchen. Der Niedergang wird von Jahr zu Jahr dramatischer. „Wir befinden uns im freien Fall“, sagte mir kürzlich ein Oberkirchenrat in Anbetracht des vor allem coronabedingten Rückgangs der Kirchensteuereinnahmen und der vermehrten Kirchenaustritte. Nicht viel besser geht es den meisten der klassischen Freikirchen. Viele schrumpfen resigniert vor sich hin. Nostalgisch schauen sie auf ihre missionarische Vergangenheit und stellen den Be trieb von Mission auf Überleben um. Europa ist zum christlichen Notstandsgebiet geworden. Die in über eintausend Jahren gesammelten Ressourcen der Kirchen an Immobilien, Finanzen und Privilegien täuschen darüber hinweg, dass sich die spirituelle Substanz langsam verflüchtigt und dass den Kirchen ihr wichtigstes Gut aus geht, der Glaube an den dreieinigen Gott und die Faszination an Jesus Christus, den Ursprung und Kern dieser Bewegung. Ist der christliche Glaube ein Auslaufmodell in Europa, besonders auch in Deutschland? Wird man auf diesem alten Kontinent vitale Religion möglicherweise nur noch im Islam finden, während das Christentum – abgesehen von ein paar gläubigen Inseln – schwächelnd vor sich hindümpelt? 

Zwei Sterbeprozesse und zwei religiöse Megatrends 

Der erste Sterbeprozess betrifft unser Kirchenmodell. Um die Krise zu verstehen, in der sich Europas Kirchen befinden, müssen wir einen Blick zurückwerfen auf das kirchliche System, das wir geerbt haben: das sogenannte Volkskirchenmodell. Sein Hauptkennzeichen besteht darin, dass automatisch jeder Bürger (bis auf ein paar Ausnahmen mit Sonderstatus wie zum Beispiel die Juden) zur Kirche gehört. Volk und Kirche bildeten also zwei identische Größen. Der Taufzwang, der mit staatlichen Mitteln durchgesetzt wurde, schuf die Grundlage dafür. Obgleich es ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts allmählich möglich wurde, auch ohne Kirche zu leben, tragen wir das Erbe einer Unfreiwilligkeitskirche mit uns herum.

Der Gedanke, dass Religion die eigene Entscheidung des Menschen ist, tauchte erstmals in der Reformation auf, setzte sich aber da noch nicht durch. Die Religion, zu der man ungefragt gehörte, entschied sich nach der Region, in der man wohnte, je nachdem, ob der Landesherr evangelisch oder katholisch war. Mit der Entdeckung der eigenen Subjektivität in der Aufklärung und der Romantik vor zweihundert Jahren begann ein Prozess, der eine kulturelle Revolution bewirkte, die das gesamte Verhältnis des Menschen zur Religion ändern sollte. Eintausendfünf hundert Jahre lang war Religion etwas, das man übernimmt. Man wurde automatisch in eine Religion hineinsozialisiert durch Eltern, Taufe, Erziehung und überhaupt durch das gesamte soziale und politische Umfeld. Volkskirchliche Religiosität ist nicht wirklich gewählte Religiosität. Schritt für Schritt entdeckten die Menschen, dass Religion etwas ist, wofür man sich entscheiden muss. Der Glaube wird zur Option. Mit einem Mal passt das geerbte Volkskirchenmodell nicht mehr, weil die Weitergabe des Glaubens über Eltern und über kirchliche Institutionen nicht mehr funktioniert. Genügte es früher, einfach mit der Kirche und mit der Gesellschaft irgendwie an Gott zu glauben, brauchen die Menschen heute Gründe für den Glauben und persönliche Zugänge zum Glauben. Sie müssen als Einzelne gewonnen werden. Sie müssen zu einer persönlichen Entscheidung für Jesus und für die Kirche geführt werden. Ich weiß, dass das für einige schrecklich evangelikal klingt, bringt aber die Herausforderung der Zukunft auf den Punkt. Die Religion der Zukunft ist gewählte Religion. Nicht gewählte Religion, die im volkskirchlichen Setting die Regel war, wird es künftig kaum noch geben. 

Für die Zukunft der Kirche heißt das: Sie muss um Menschen werben, in Auseinandersetzung mit anderen Optionen des Glaubens (zum Beispiel Atheismus, Buddhismus, die Pfingstkirche nebenan), eine Entscheidung zu treffen. Warum Jesus? Warum diese Gemeinde? Das geerbte Religionssystem, das daran gewöhnt war, dass die Leute einfach da sind, ist überfordert mit dieser neuen Situation. Es passt nicht in eine offene und liberale Gesellschaft, wo der Mensch frei wählt, auch die Religion. Die Volkskirche hat den Umbau ihres Betriebsmodells als dringliche Aufgabe vor sich. Die meisten Kirchenleute vom Gemeindekirchenrat bis zum Bischof denken, leben und operieren noch innerhalb des volkskirchlichen Paradigmas. Auch der Theologennachwuchs wird für dieses Format ausgebildet. Die viel benannte gegenwärtige Glaubenskrise ist vor allem auch eine Modellkrise. Kirche, wie wir sie kennen, läuft nicht mehr. Es ist der Anfang eines Sterbeprozesses. Wir leben gerade am Ende des ersten Drittels dieses Prozesses. Die Zahl der Kirchenaustritte wird weiter zunehmen. Die Bedingungen sind nicht mehr gegeben, unter denen Volkskirche entstand und funktionierte. Dieses Modell ist nicht zukunftsfähig.

Der Niedergang der Volkskirchen 

Die Religionssoziologie konstatiert zwei religiöse Megatrends, die eine stimmige Erklärung für den Niedergang des Volkskirchenmodells liefern: 

1. Der Niedergang institutioneller beziehungsweise geerbter Religion.

2. Der Aufschwung individueller beziehungsweise gewählter Religion.

Dem korrespondieren zwei gute Nachrichten (für alle, die das Sterben der Volkskirche für eine schreckliche Katastrophe halten). 

Erstens: Unser Volkskirchensystem, das sicher seine Segenszeit hatte, gehört gar nicht wesensmäßig zum Christentum. Das Volkskirchenmodell hat sich als Staatskirche, wie noch zu zeigen sein wird, unter Bedingungen gebildet, in denen eine theokratische Staatsform das einzig denkbare Modell war. Jetzt, wo die Bedingungen in einer freiheitlichen Ordnung nicht mehr gegeben sind, kollabiert folglich auch die aus der Zeit der Staatskirche stammende Volkskirche. Die gute Nachricht ist: Mit dem Untergang der Volkskirche geht keineswegs die Kirche Jesu unter. Die gedeiht besser unter anderen Bedingungen und mit einem anderen Betriebsmodell, wie wir an dem weltweiten Aufbruch des Christentums erkennen können.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Der britische Religionssoziologe David Martin sieht durch aus Chancen für die alten europäischen Kirchen. Die könnten zu neuer Dynamik finden, wenn „sich die alten Verbindungen der Kirchen mit der Staatsmacht und dem Territorium einmal gelockert haben“, die Kirchen sich ihrem eigentlichen Auftrag zuwenden und „die Verstrickungen und sozialen Trümmer ihrer Vergangenheit nicht länger als Hemmnisse wirken“. Daher hat höchstwahrscheinlich der christliche Glaube auch in Europa seine beste Zeit noch vor sich. Das hängt auch mit dem nun folgenden Punkt zusammen.

Zweitens: Individuell gewählte Religiosität (der zweite Megatrend) ist viel näher dran am Neuen Testament und an dem Leben und der Verkündigung der frühen Kirche. Denn das Christentum ist original eine Konversionsreligion. „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ lautet die Zusammenfassung der Verkündigung Jesu. Und Paulus bringt seine apostolische Botschaft auf den Punkt mit den Worten: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ Der Aufschwung gewählter Religion hat durchaus etwas Positives und Gottgewolltes: nämlich dass das eigentliche Wesen der Kirche als Gegenüber und Alternative zur säkularen Bürgergesellschaft, als „Salz und Licht der Welt“, besser verleiblicht wird und da mit auch sichtbarer. Erste Ansätze für diese Entwicklung hatten wir schon einmal in der DDR, als die Kirche die freie und religiöse Alternative zur Diktatur mit ihrer atheistischen Staatsdoktrin war. Aber das ist ja durch die komplette Übernahme des westdeutschen Systems verschwunden. Ein Mensch, der sich für die Option des christlichen Glaubens entschieden hat, wird diesen authentischer und begeistern der leben und verkündigen. Die Auswahl aus einer Fülle von weltanschaulichen und religiösen Angeboten beinhaltet, dass sich jemand mit den Gründen seiner Wahl ein gehend beschäftigt hat. Glaube als Option macht sprachfähig. Der Prozess des Sterbens der Volkskirche wird begleitet von einem anderen Prozess: Aus einer Kirche für alle wird eine Kirche derer, die den Glauben kennen und bekennen – weniger als institutionelles Ritual im Gottesdienst, sondern als Zeugnis im Alltag. 

Im volkskirchlichen System sind Menschen Kirchenmitglieder, weil das irgendwie dazu gehört, weil das halt so Tradition ist. Die Selbstreproduktion der Kirche lief ausschließlich über die Weitergabe des Glaubens in den christlichen Familien und in der pastoralen Versorgung der Mitglieder, falls sie das wünschen. Missionarisches Gemeindewachstum außerhalb dieses Settings? Fehlanzeige! Heute funktioniert die Selbstreproduktion nicht mehr. Immer weniger Familien lassen ihre Kinder taufen. Auch die christliche Erziehung in den Familien ist fast vollständig weggebrochen. Wir haben in Wittenberg für ostdeutsche Verhältnisse noch recht ansehnliche Konfirmandenjahrgänge mit durchschnittlich zwanzig Konfis. Zu Beginn eines jeden Kurses interessiert mich der Grad ihrer religiösen Sozialisation. Dazu stelle ich zwei Fragen: Erstens: Wer von euch hat Eltern, die mit euch gebetet und euch im Glauben unterwiesen haben? Und zweitens: Warum wollt ihr euch konfirmieren lassen? Dazu können sie sich im Raum, in dem der Konfi-Kurs stattfindet, positionieren. An der rechten Wand können sich die aufstellen, deren Eltern sie an den christlichen Glauben herangeführt haben. In der Mitte diejenigen, die sagen „Ich weiß nicht so recht“. 

Und an der linken Wand die, deren Eltern den Glauben nicht weitergegeben haben. Die meisten standen links bei „nicht wei tergegeben“. Einige waren sich unsicher und standen in der Mitte. Nur wenige, meisten nur zwei oder drei, positionierten sich an der rechten Wand. 

Dann die nächste Frage: „Warum lasst ihr euch konfirmieren?“ An der rechten Wand: „Weil ich an Gott glaube“. In der Mitte: „Weiß nicht“. An der linken Wand: „Weil das meine Eltern oder Großeltern so wollen beziehungsweise weil man das in unserer Familie so macht.“ Das Resultat war, dass sich nur wenige an der rechten Wand positionierten (wieder nur zwei oder drei). Einige standen in der Mitte. Die meisten an der linken Wand bei „weil das andere von mir erwarten“. Dieses ernüchternde Ergebnis zeigt das volkskirchliche Problem. Die Weitergabe des Glaubens funktioniert nicht mehr. Die gewaltige Aufgabe heißt also, dass diese kostbaren jungen Menschen zu der großen Entdeckung finden, dass es Gott gibt und dass der Glaube erfahrbar ist als Quelle von großer Freude, Geborgenheit und Lebens kraft. Was den Weg dieser jungen Leute zu einer Entscheidung für den Glauben enorm erschwert, ist ihr Umfeld. Die meisten ihrer Freunde finden Glauben und Kirche nämlich uncool, langweilig und völlig aus der Zeit gefallen. Auch in ihren Familien finden sie diese Ansichten vor, manchmal sogar bei den Eltern. Wenn man sich die Statistik anschaut, so sind es besonders junge Leute zwischen 22 und 35, die aus der Kirche austreten. Meistens haben sie gar nichts gegen Kirche und Glauben. Sie können nur nichts damit anfangen. Was dort gelehrt, geglaubt und gelebt wird, be deutet ihnen nichts. Es hat nichts mit ihrem Leben zu tun. Die Menschen heute brauchen handfeste Gründe, warum sie an Gott glauben sollen und warum sie dazu die Kirche brauchen. Wer keine Gründe findet, wendet sich ab und tritt aus. Es genügt heute nicht mehr, irgendwie mit der Kirche zu glauben. Die Menschen brauchen ihren persönlichen Zugang, ihr eigenes Erweckungserlebnis. Und das bedeutet nicht weniger, als dass die Kirche einen Paradigmenwechsel vor sich hat von institutioneller Religion zu gewählter Religion, eine umfassende Neuformatierung von religiöser Grundversorgung hin zur Sendung in die Welt. 

Die Kirchen haben eine komplette Neuausrichtung ihrer Arbeit, ihrer Kommunikation, ihrer Kultur vor sich, wenn sie nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden wollen. Die meisten Kirchenleute bewegen sich mental und praktisch noch ganz im alten volkskirchlichen Setting. Sie merken zwar, dass die Arbeit schwer geworden ist. Nicht wenige verzweifeln an der gefühlten Fruchtlosigkeit ihres Tuns. Andere nehmen den kirchlichen Niedergang hin als unabwendbare Folge der Säkularisierung. Die Neuformatierung geht in Richtung missionarische Kirche: Ortsgemeinden, die Menschen für den Glauben begeistern können, die das Evangelium hinein kommunizieren in die Kultur der konkreten gesellschaftlichen Milieus. Kirchen, in der die Menschen die dreifache christliche Grunderfahrung machen: Gott nimmt mich an um Jesu willen, er vergibt mir meine Schuld und erfüllt mich mit dem Heiligen Geist. Und da sind wir beim zweiten Sterbeprozess: Unter den Bedingungen einer Staats und Volkskirche, in der man Mission nicht nötig hatte, weil alle dazu gehörten, konnte sich ein theologisches Denkmodell entwickeln, das – wie noch aufzuzeigen sein wird – den missionarischen Aufbruch des Glaubens behindert und verhindert: Das liberale Denkraster. Die sogenannte liberale Theologie des Westens – global betrachtet ein Randphänomen – hat mit ihrem Erkenntnisreduktionismus, der einem materialistischen Weltbild verpflichtet ist, das Fundament des christlichen Glaubens in einen Sumpf verwandelt und die missionarische Kraft der Kirchen beschädigt. Das ist das geistliche Drama des Westens mit der Folge einer desaströsen geistlichen Frucht- und Vollmachtslosigkeit. Das liberale Denkraster erhob die Skepsis zum alles formatierenden Prinzip und hat den Glauben derer, die ihm folgen, banal und kraftlos gemacht, ohne Wunder, ohne Mysterien, ohne Hereinbrechen des Göttlichen in unsere Lebens- und Erfahrungswelt. Für Menschen, die nach spiritueller Erfüllung und geistlicher Orientierung und Erfahrung hungern, ist der Glaube im reduktiven Setting eines fundamentalistischen Rationalismus uninteressant und langweilig. Die Demontage der christlichen Glaubensgrundlagen hat einen unübersehbaren Beitrag dafür geleistet, dass die Kirchen sich leeren. Oder, wie der österreichische Publizist und Religionswissenschaftler Günther Nenning das Phänomen zusammenfasst: „Die Sehnsucht boomt, aber die Kirchen schrumpfen“. 

Der Schaden, den diese reduktive Religion anrichtet, wird am deutlichsten sicht bar an der Christologie, dem Zentrum christlichen Glaubens. Die Christologie stellt sich der Frage „Wer ist Jesus Christus, und was hat er für alle Welt vollbracht?“ Das liberale reduktive Denkraster hat eine beschädigte Christologie hervorgebracht. Die Neuformatierung von einer Volkskirche zu einer missionarischen Kirche benötigt eine gesunde, biblische und gemäß den altkirchlichen und reformatorischen Bekenntnissen geformte Christologie. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen Christologie und der Dynamik eines missionarischen Aufbruchs. Dieser Sachverhalt wird von den Ergebnissen der weltweiten religionssoziologischen Forschung bestätigt und entspricht neutestamentlicher Theologie. Liberales reduktives Christentum ist in einer offenen Gesellschaft, in welcher der christliche Glaube gewählt wird, nicht zukunftsfähig. Wie der Journalist und ehemaliger Leiter des ARD-Studios Südasien Markus Spieker in seinem Zukunftsbuch „Übermorgenland“ aus globaler Perspektive schreibt, wird die theologisch liberale Schule als Elitephänomen „nur an einigen Universitäten überleben“. Ich ergänze: Sie wird auch überleben auf einigen bildungsbürgerlichen Inseln westlicher Metropolen. 

Der amerikanische lutherische Religionssoziologe Rodney Stark sagt, dass der Übergang von einem geschlossenen Religionssystem einer Staatskirche bis zu einer Kirche, die sich auf die Situation eines freien religiösen „Marktes“ eingestellt hat, mindestens einhundert Jahre dauert. Als 1875 der Taufzwang in Deutschland abgeschafft und die Zivilehe durch Bismarcks Zivilstandsgesetz eingeführt wurde, war das nicht weniger als der erste Schritt zu einem freien religiösen Markt. Als schließlich 1919 die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland vollzogen wurde, war der lange Weg frei zu einem säkularen Staat, in dem sich die Religion ohne staatliche Einmischung entwickeln und ein deregulierter freier Religionsmarkt entstehen kann. 

Die Vision Joseph Ratzingers 

Ich sehe in dem Niedergang des Systems Volkskirche, der sicher ein schmerzhafter Prozess ist, die enorme Chance, dass Kirche wieder das werden kann, wozu sie berufen ist: eine Kontrastgesellschaft zur Bürgergesellschaft, ein göttlicher Gegenentwurf zur Welt, eine Einladung Christi, Gottes Alternative zu leben. Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI. hielt am 25. Dezember 1969 eine Radioansprache im Hessischen Rundfunk über die Zukunft der Kirche: „Aus der Krise von heute wird… eine Kirche von morgen hervor gehen, die viel verloren hat. Sie wird klei ner werden, weithin ganz von vorne anfan gen müssen. Sie wird viele der Bauten nicht mehr füllen können, die in der Hochkon junktur geschaffen wurden. Sie wird mit der Zahl der Anhänger viele ihrer Privile gien in der Gesellschaft verlieren. Sie wird sich sehr viel stärker als Freiwilligkeitsge meinschaft darstellen, die nur durch Ent scheidung zugänglich wird… Aus einer verinnerlichten und vereinfachten Kir che wird eine große Kraft strömen. Denn die Menschen einer ganz und gar geplan ten Welt werden unsagbar einsam sein. Sie werden, wenn ihnen Gott ganz entschwun den ist, ihre volle, schreckliche Armut er fahren… Aber ich bin auch ganz sicher darüber, was am Ende bleiben wird: Nicht die Kirche des politischen Kultes, sondern die Kirche des Glaubens. Sie wird wohl nie mehr in dem Maß die gesellschaftsbeherr schende Kraft sein, wie sie es bis vor kur zem war. Aber sie wird von neuem blühen und den Menschen als Heimat sichtbar werden, die ihnen Leben gibt und Hoff nung über den Tod hinaus.“ 

Eine neue Ära bricht für die Kirchen in Europa an. Die privilegierte Stellung der klassischen Großkirchen und überhaupt des Christentums auf diesem Kontinent wird Schritt für Schritt abnehmen. Das bedeutet, wir müssen opferbereiter, vollmächtiger, glaubwürdiger, geistinspirierter Gemeinde bauen. Wir können uns nicht mehr verlassen auf Gelder, staatliche Subventionen, Privilegien. Aber der weltweite Aufbruch des Christentums zeigt, dass Gemeinde unter anderen Bedingungen, ohne Staatsleistungen, ohne die schönsten Gebäude in den besten Lagen der Stadt, ohne sichere Gehälter der Pastoren, ohne dicke Listen mit tausenden von inaktiven Gemeindemitgliedern effektiver und dynamischer arbeiten als hierzulande.

(*) Alexander Garth ist evangelischer Pfarrer und lebt in Wittenberg. Zuerst veröffentlicht im VATICAN-Magazin. Publiziert bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.

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