28 Oktober, 2021 / 6:00 PM
Die Rede von Gott in der Kirche scheint in diesen Tagen nahezu verstummt zu sein. Warum das so sei, fragte mich ein Agnostiker in mittleren Jahren neulich in einer Arztpraxis, ein Mensch, der glauben möchte, aber nicht glauben kann. Verwundert, rat- und sprachlos machten ihn die Debatten, die beherzt geführt würden. Zwar nähme er nur wenig davon wahr, auch weil er kaum Zeit hätte. Doch er verstünde das nicht.
Der Agnostiker wartete auf ein Rezept für seine Ehefrau, die schwer, ja unheilbar erkrankt sei. Er könne ihr das Leid nicht abnehmen. Der Agnostiker fühlte sich ohnmächtig. Mehr sagte er nicht, aber er sagte genug. Dann verabschiedete er sich. Ich nickte ihm zu. Seine Gedanken gingen mir nach, seine nur angedeutete Geschichte nicht weniger.
Viele Agnostiker leben unter uns, mit uns und neben uns. Besonders Menschen in Grenzsituation des Lebens stellen sich Fragen, die über den Horizont der Endlichkeit hinausreichen. Einige sind religiös aufgewachsen und sozialisiert worden. Irgendwann wandten sie sich ab. Manche sind aus der Kirche ausgetreten, andere haben sich oft ganz unbemerkt von Gott entfremdet. Von der Glaubenskrise wird heute nicht gesprochen. Doch die Gottesfrage bleibt.
Die Passion aber ist eingezeichnet in den Alltag, von Anfang an. Ich denke an die Fischer am See Genezareth, die ihre Netze flickten, aber auf gewisse Weise vielleicht schon lange keinen Fisch mehr gefangen hatten. Von innen her waren sie offen, auf der Suche. Ihre Geschichte – beispielhaft dafür steht Simon Petrus – ist reich an Sehnsucht und Glaubensstärke, auch an Zweifel und Verleugnung, an Ängsten und Hoffnungen. Der Weg der Apostel führt durch manche Dunkelheit des Glaubens und ins Martyrium hinein. Der Herr beruft sie in seine Nachfolge, das heißt auch und zuerst – in die Passionsgemeinschaft mit ihm.
Benedikt XVI. hat dies im dritten Band der Jesus-Bücher, dem Prolog über die Kindheitsgeschichten, dargelegt und als besondere Erfahrung der Mutter des Herrn beschrieben, mit Blick auf das „Schwert des Schmerzes“ (vgl. Lk 2, 35): „Je näher ein Mensch zu Jesus kommt, desto mehr wird er in das Mysterium seiner Passion einbezogen.“ (Joseph Ratzinger – Benedikt XVI.: Gesammelte Schriften 6/1, Freiburg 2013, 124)
Die Frohe Botschaft verbleibt ganz im Realismus. Am Kreuz kommen wir nicht vorbei. Es bleibt uns nicht erspart, und es wird uns auf Erden nicht von den Schultern genommen. Wir sehen ganz besonders deutlich den Schmerz, wenn wir unsere Nächsten, die Menschen, denen wir von Herzen zugetan sind, leiden sehen. Manche von uns, Gläubige, Suchende und auch Ungläubige, richten dann den Blick zum Himmel. So viele Lichter brennen in unseren Kirchen. Einige kämpfen mit den Tränen. Andere sitzen stumm in der Bank und schauen auf den Tabernakel.
Ist die Frage nach Gott in den Kirchen, in der Theologie und im Alltag der Gläubigen gänzlich verstummt? Das glaube ich nicht, aber das, was wesentlich ist, wird so oft verdeckt und beiseitegeschoben. Dann scheint es so, als sei der dreifaltige Gott aus dem Leben der Christen und auch aus der Liturgie der Kirche verschwunden. Wir alle könnten Beispiele dafür nennen. Alles, was Gott entgegensteht, in Kirche und Welt, wird aufs Ganze gesehen keinen Bestand haben. Benedikt XVI. zeigt in dem Buch, dass Christus bis heute „Zeichen des Widerspruchs“ bleibt: „Gott steht mit seiner Wahrheit der vielfältigen Lüge des Menschen, seiner Eigensucht und seinem Hochmut entgegen. Gott ist Liebe.“ Diese Liebe sei „nicht romantisches Wohlgefühl“ und „nicht Wellness“, sondern die Befreiung aus der „Verzwängung ins Ich“: „Diese Befreiung kostet den Schmerz des Kreuzes.“
Die Passionsgemeinschaft mit Christus hat viele Gesichter. Ich denke auch an eine Sentenz des heiligen Augustinus. Er sagte in einer Predigt über den Zöllner Zachäus , der den Maulbeerfeigenbaum emporkletterte: „Besteig‘ das Holz, an dem Jesus für dich hing, und du wirst Jesus sehen.“ Dieses Kreuz ist das eigene Leiden, und es ist vielleicht mehr noch das Leid des geliebten Mitmenschen, an dem wir zuinnerst teilhaben. Benedikt schreibt: „Von Maria können wir das wahre Mitleiden lernen, ganz unsentimental im Annehmen fremden Leidens als eigenes Leid.“ Das ist das Kreuz, das wir tragen möchten, aber nicht tragen dürfen. Benedikt zeigt uns, dass die Kirchenväter die „Fühllosigkeit“ und „Unempfindlichkeit dem Leiden anderer gegenüber“ als „typisch für das Heidentum“ angesehen hätten: „Dem stellt der christliche Glaube den Gott entgegen, der mit den Menschen mitleidet und uns so ins Mitleiden hineinzieht.“ (ebd., 98)
Meine Gedanken gehen zu dem Agnostiker zurück. In meinem schon recht langen Leben, das eng verflochten ist mit dem Glauben der Kirche, habe ich mich manchmal gefragt, ob wir alle, die wir uns Christen nennen, wirklich glaubwürdige Zeugen des Herrn in der Welt von heute sind. Viele von Ihnen werden diese Frage kennen. Die Debatten der Zeit verblassen davor, so machtvoll Einzelne auftreten mögen oder von sich reden machen. Das ist, aufs Ganze gesehen, ohne Bedeutung. Das gilt auch für uns selbst, wenn wir den Herrn aus dem Blick verlieren. Mir scheint, wir haben als Kirche für viele Menschen, die auf ihre je eigene Weise sich nach dem Brot des Lebens sehnen, nur Steine übrig. Wovon aber ist unter uns heute die Rede? Vielleicht mögen auch Sie darum im Vertrauen auf die Gottesmutter beten: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Muttergottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
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