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Katholische Soziallehre oder Privatinitiative? Ein Interview mit Martin Rhonheimer

Martin Rhonheimer

In Argentinien hat mit Javier Milei ein Präsidentschaftskandidat mit guten Ergebnissen in den Vorwahlen für Aufsehen gesorgt, dessen politischen und ökonomischen Positionen diejenigen von Papst Franziskus – ebenfalls aus Argentinien – entgegenzustehen scheinen. CNA Deutsch sprach mit dem Priester Martin Rhonheimer, der lange Jahre als Professor für Ethik sowie politische Philosophie an der römischen Päpstlichen Universität Santa Croce lehrte. Dies ist der zweite und letzte Teil des Gesprächs (erster Teil hier).

Der Ökonom Jan Schnellenbach sagte im Gespräch mit CNA Deutsch, Javier Milei sei „überzeugt, dass die private Initiative auch im Sozialen ausreichen kann“. Die katholische Soziallehre hingegen sehe, „dass die rein freiwillige Koordination sozialer Sicherung nicht ausreichen wird, weil jeder Einzelne dann ja doch immer wieder versuchen wird, selbst wenig zu leisten, in der Hoffnung, dass andere es schon tun werden“. Ist das eine legitimer Kritikpunkt?

Es scheint mir unzweifelhaft, dass – nicht nur in Argentinien, dort allerdings auf besonders extreme und bedauerliche Weise – unsere Staatsfinanzen immer mehr aus dem Ruder laufen. Man hat mit dem Euro ein Währungssystem geschaffen, zu dessen Dauerrettung, zusammen mit der damit verbundenen Rettung des Bankensystems, Unsummen von Geld elektronisch durch Knopfdruck aus dem Nichts geschaffen wurden und weiter geschaffen werden. Danach kam die Pandemie, dann die industriepolitischen Riesenprogramme der EU im Rahmen des „Green Deal“ der EU (ähnlich in den USA). Durch das monopolistische Papiergeldsystem, das seit 1971 von jeder Verankerung in einen Warenwert (Gold) gelöst und damit maßlos geworden ist, die damit verbundene inflationäre Geldpolitik wie auch die massive Überschuldung der öffentlichen Hand – angetrieben durch die Verführung des billigen Geldes – wurde viel real existierender Wohlstand vernichtet und Innovation und Wohlstandszuwachs verhindert.

Und dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Man denke auch an die hartnäckige Inflation: Sie ist nicht nur eine Folge von Energieknappheit, sondern, wie führende Ökonomen bereits lange vor Ausbruch des Ukraine-Krieges feststellten, in ihrem Kern dadurch verursacht, dass – und das ist die eigentliche Inflation – zu viel Geld auf zu wenig produzierte Güter und Dienstleistungen stößt, was die Preise in die Höhe treibt und damit die Kaufkraft des Geldes vermindert. Das hängt auch mit dem Fachkräftemangel zusammen, der nun zusätzlich Löhne und Preise ansteigen lässt bzw. Produktivitätsanstiege und Innovation verhindert. Das billige Geld – die niedrigen, gegen Null tendierenden Zinsen – ermöglichte es in den letzten Jahren einer Unmenge von relativ unproduktiven und wenig innovativen Betrieben als sogenannte Zombies zu überleben. Das alles verhinderte eine höhere Produktivität und damit auch höhere Reallöhne für alle Einkommensschichten, mit den entsprechenden Wohlstandsgewinnen. Es führte auch dazu, dass Immobilien- und Aktienpreise – ebenfalls auf inflationäre Weise – anstiegen, was den Abstand zwischen reichen Kapitaleigentümern und wenig Vermögenden enorm vergrößert hat – zumindest in den Statistiken. „Österreichische“ Ökonomen haben immer wieder darauf und die damit verbundene Ungerechtigkeit hingewiesen, die katholischen Sozialethiker haben das Thema verschlafen.

Dazu kommt das Problem der strukturellen Überschuldung der Staaten infolge ihrer Verpflichtungen durch das Sozialsystem, aber auch durch implizite Staatsschulden wie etwa Pensionsansprüche, die zwar nicht als Schulden in den Bilanzen der Staaten stehen, dennoch aber zu zahlen sind – zunehmend auch aus Steuergeldern und durch Aufnahme neuer Schulden. Das bedeutet, dass in Wirklichkeit unsere Sozialstaatssysteme, in sich betrachtet, technisch bankrott sind. Die strukturelle Überschuldung ist Folge eines überbordenden Sozialstaates, der die Eigenverantwortung der Bürger ausgehöhlt und, wie wir jetzt langsam erkennen, auch die demographische Basis seines umlagefinanzierten Rentensystems untergraben hat. Man spricht noch viel zu wenig darüber, das Problem ist auch noch nicht wirklich ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Wir tanzen noch immer wie die Passagiere der Titanic, obwohl bereits das Wasser in den Schiffsrumpf eindringt – die Vertreter der christlichen Soziallehre und der Kirchen tanzen mit. Der Tanz wird so lange andauern, bis die Geldentwertung so weit fortgeschritten sein wird, dass – wie in Argentinien – das böse Erwachen beginnt. Oder aber wir treten in eine Phase der massiven finanziellen Repression mit – infolge einer sich verfestigenden Inflation – dauerhaft negativen Realzinsen, Kapitalverkehrskontrollen usw. ein, was auf die Dauer mit enormen politischen Risiken verbunden ist und auch ökonomisch seine Grenzen hat. Dass die argentinischen Bürger nun massenweise einen Mann wie Milei wählen und nicht einem Sozialpopulisten nachlaufen, zeigt eigentlich, dass sie bereits reifer sind als die Bürger der meisten europäischen Staaten, die, statt mit den ihnen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln gegen eine Politik der Verantwortungslosigkeit zu rebellieren, eben immer noch tanzen.

Während Ludwig Erhard das Soziale der sozialen Marktwirtschaft noch im marktwirtschaftlichen Wettbewerb gesehen hatte, sehen wir heute das „Soziale“ vor allem in Transferleistungen und Subventionen aller Art. Deshalb auch wird „Sozial“ in „Soziale Marktwirtschaft“ heute groß geschrieben: Im Laufe der – letztlich bereits auf Müller-Armack zurückgehenden – Sozialdemokratisierung des Konzepts betrachtete man den „sozialen Ausgleich“ als Korrektiv und Ergänzung einer ihrem Wesen nach gerade nicht als sozial empfundenen Marktwirtschaft. Für Erhard hingegen gehörte die Eigenschaft „sozial“ zum Wesen einer echten, und das heißt eben: wettbewerblichen Marktwirtschaft. Die Folge dieser Umdeutung ist: Die Kosten sind uns über den Kopf gewachsen, auch wenn das nicht zugegeben wird und es darüber kaum eine öffentliche Debatte gibt. Gerade in Deutschland war die Überforderung des Sozialstaates jedoch einmal ein Thema der Kirche gewesen, man denke an das vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Dokument ihrer Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen mit dem Titel „Das Soziale neu denken“ (2003), wo es hieß: „Keine der großen Säulen des Sozialstaats ist ohne tiefgreifende strukturelle Korrekturen zukunftsfähig. Der sozialpolitische Reformstau hat in eine Gesellschaft geführt, in der gesellschaftliche Ressourcen der Solidarität und Eigenverantwortung zusehends geschwächt werden.“ Das Dokument ist in den Schubladen verschwunden.

Man erinnere sich auch an die Worte aus der Enzyklika „Deus caritas est“ des deutschen Papstes Benedikt XVI.: „Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung. Nicht den alles regelnden und beherrschenden Staat brauchen wir, sondern den Staat, der entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip großzügig die Initiativen anerkennt und unterstützt, die aus den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften aufsteigen und Spontaneität mit Nähe zu den hilfsbedürftigen Menschen verbinden.“

Hat Milei mit seiner Kritik also Recht?

Mit seiner Attacke gegen einen Sozialstaat, der wie in Argentinien die großen Massen des Mittelstandes und der Arbeiterschaft durch Transferleistungen und Subventionen von sich abhängig gemacht hat, dabei aber Arbeitslosigkeit und Inflation produziert, so dass für junge Menschen keine Zukunftsperspektive mehr besteht, scheint Javier Milei die Eiterbeule eines geradezu übergriffigen Sozialstaates samt seiner korrupten Politikerkaste aufzustechen und für die Freiheit eine Lanze zu brechen. Ein guter argentinischer Bekannter sagte mir diesbezüglich, Freiheit sei doch ein Grundanliegen der katholischen Soziallehre und zudem finde er, für Milei gälten die Worte aus der Bergpredigt: „Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden …“ Milei wird vorwiegend von jungen Menschen gewählt – bei uns kann die Politik Mehrheiten nur noch mit Hilfe der Älteren und Rentner finden.

Die Idee des modernen Sozialstaates hat vieles für sich, ist aber in der gegenwärtigen Form gescheitert, und kein Katholik, der darauf hinweist, darf angeklagt werden, der kirchlichen Soziallehre zu widersprechen! Vielmehr ist darüber zu diskutieren. Ein Mann wie Javier Milei stößt diese Diskussion dankenswerterweise an. Er mag zu radikal formulieren, aber etwas mehr Radikalität in solchen Fragen würde hier in Europa durchaus gut tun, um uns wieder auf das Prinzip der Subsidiarität zu besinnen, und das heißt vor allem auf die Forderung, dass gerade die Bürger – als einzelne, aber auch gemeinschaftlich organisiert – für soziale und in diesem Sinne „öffentliche“ Belange zuständig sind. Früher betätigte sich hier die Kirche an vorderster Front. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts haben, wo sie es konnten, der Kirche diese Aufgabe entzogen und damit leider – und das ist eine der Kehrseiten ihrer Verdienste, was übrigens auch von „österreichischen“ Liberalen wie Hayek kritisiert wird – einen staatlichen Zentralismus gefördert, der die Kräfte der gesellschaftlichen Selbstorganisation entscheidend geschwächt hat. Das wurde auch von dem großen italienischen Liberalen Guido de Ruggiero beklagt, der in seiner „Geschichte des Liberalismus im 19. Jahrhundert“ (1925) schrieb, die katholische Kirche sei, wenn auch keineswegs aus liberaler Absicht, im 19. Jahrhundert die größte Verteidigerin der Freiheit gewesen, weil sie sich gegen die von den damaligen Liberalen besonders in traditionell katholischen Ländern geförderte, geradezu diktatorische Übermacht des Staates gewehrt und ihr Recht auf freie soziale Betätigung verteidigt habe! Und was müsste man heute sagen? Warum schweigt die Kirche zu diesen Themen?

Grundsätzlich stimme ich freilich Jan Schnellenbachs Aussage zu, dass „die rein freiwillige Koordination sozialer Sicherung nicht ausreichen wird, weil jeder Einzelne dann ja doch immer wieder versuchen wird, selbst wenig zu leisten, in der Hoffnung, dass andere es schon tun werden“. Es gibt Versicherungen, die auf freiwilliger Basis gut funktionieren, andere aber nicht, weil es eine kritische Masse braucht und im Falle von Krankenversicherungen bei Freiwilligkeit die Gefahr einer Kumulation schlechter Risiken besteht: Junge und Gesunde haben weniger Anreiz sich zu versichern, das treibt die Kosten für die Prämien vor allem für die sozial Schwächeren, aber auch die Kosten für das soziale Absicherungsnetz generell in untragbare Höhen. Denn alle wissen, dass im Ernstfall das soziale Sicherungsnetz des Staates niemanden auf der Straße liegen lässt. Das erhöht für jene mit (subjektiv) geringen Risiken – Jungen, Gesunden – den Anreiz, sich nicht zu versichern, und damit auch die Kosten für die Gesellschaft. Sozialversicherungssysteme werden deshalb als Systeme der Zwangssolidarität betrachtet, in denen also alle mitmachen müssen, was gemäß den Ökonomen die billigste Lösung ist.

Das Problem ist, dass die Ansprüche immer weiter gestiegen sind; auch das Niveau, und die Standards der Gesundheitsversorgung wie auch die Leistungskataloge wurden ständig ausgeweitet, damit aber auch die Kosten vermehrt. Deshalb braucht es ein Umdenken: Auch die Kosten von Systemen der Zwangssolidarität laufen mittlerweile aus dem Ruder. Ich bin gegen Extremlösungen, aber nicht gegen radikale Lösungen, solche also, die das Problem an der Wurzel erfassen. Ein Umbau wird schmerzhaft sein und einen Mentalitätswechsel verlangen, aber gerade deshalb, so fürchte ich, politisch nur sehr schwer durchsetzbar sein. Das System wird deshalb wohl früher oder später an die Wand gefahren werden.

Das hört sich nicht gut an …

Das sind tatsächlich keine guten Aussichten und deshalb finde ich, sollte man zumindest bei Leuten wie Milei hinhören. Auch wenn seine Vorschläge, wie die aller Libertären, extrem und in dieser extremen Form politisch impraktikabel sind, beruhen sie auf Einsichten und Analysen, aus denen man sehr viel lernen kann und die dem Geist der katholischen Soziallehre näher stehen, als die meisten glauben. Man lese etwa den Klassiker „Naturrecht und Socialpolitik“ (1893) von Georg von Hertling, der – im Anschluss an „Rerum novarum“ – für die Besserstellung der Arbeiter anstelle von Sozialpolitik für wirtschaftlich-technischen Fortschritt plädierte, oder Bischof Wilhelm Emmanuel von Kettelers Verteidigung der Freiheit des Bürgers und der Kirche gegen seiner Ansicht nach freiheitsberaubende Anmaßungen des „Steuerstaates“, die wir heute schon längst für normal und durchaus angemessen halten.

Die folgenden Aussagen Kettelers aus dem Jahre 1864 („Die Arbeiterfrage und das Christenthum“) klingen geradezu libertär: „Die staatliche Zwangsgerechtigkeit geht nur bis auf eine gewisse Grenze, die zum Schutze Aller und zur Ordnung nothwendig ist. Von da an beginnt das Gebiet der Freiheit, auch der Freiheit des Eigenthums.“ Ketteler selbst setzte sich wenig später aber auch für eine Arbeiterschutzgesetzgebung ein; sie war für ihn vereinbar mit seiner scharfen Ablehnung „der durch Majoritäten decretierten Staatshilfe“. Ebenso hielt er sich bereits 1864 nicht zurück, ein „immer weiter ausgebildetes Steuer- und Zwangssystem, an dem sämtliche Staaten fast zu Grunde gehen und bei denen freie Selbstbestimmung und Gesinnung gänzlich in den Hintergrund treten“ anzuprangern. Den Arbeitern mit Subventionen zu helfen, also Umverteilung, lehnte er ab. Das zeigt: Staatsskepsis, Verteidigung der Freiheit und des Eigentums gehören seit jeher wesentlich zur Tradition der katholischen Soziallehre – Kettelers Ansichten sollten dann auch die Enzyklika „Rerum novarum“ wesentlich prägen.

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Schnellenbach sprach auch den „Gesellschaftsvertrag“ an, wodurch die Menschen dem Staat die Aufgabe übertragen, „Einkommen soweit umzuverteilen, dass jeder in unserem Land ein menschenwürdiges Leben führen kann“. Ein Gesellschaftsvertrag ist allerdings abstrakt, denn weder Sie noch ich haben je etwas derartiges unterschrieben. Es ist auch unmöglich, von dem Vertrag zurückzutreten und sich nur um sich selbst, seine Familie und seine Gemeinde zu kümmern. Wie brauchbar ist also die Idee des Gesellschaftsvertrags?

Die Begründung des Staates durch einen Gesellschaftsvertrag – der sogenannte Kontraktualismus – hat eine lange Tradition, die bis in die frühe Neuzeit zurückreicht. Thomas Hobbes, John Locke und auch, jedoch nicht in liberaler Manier, Jean Jacques Rousseau, dann jedoch wiederum auf liberale Weise Immanuel Kant und in seinem Gefolge im 20. Jahrhundert John Rawls argumentieren kontraktualistisch. Andere, wie David Hume, lehnten die Idee eines Gesellschaftsvertrags mit Spott und Hohn ab – er, so Hume, könne sich nicht erinnern, je eine solchen Vertrag unterschrieben zu haben. Gemeint war mit dem Gesellschaftsvertrag aber die Rechtfertigung für den Staat überhaupt, seine normative Grundlegung also. Kant – bei anderen ist es weniger klar – verstand den Gesellschaftsvertrag explizit als hypothetischen Vertrag, also nicht als einmal stattgefundenes historisches Ereignis, in dessen Folgen man dann ohne persönliche Zustimmung, hineingeboren wird, sondern als die Form einer moralischen Begründung für die politische Organisation der Gesellschaft in einem Staatswesen, mit einer Regierung und einem Recht, das im Rahmen eines staatlichen Gewaltmonopols mit Polizeigewalt durchgesetzt wird.

„Gesellschaftsvertrag“ ist also die aller legitimen politischen Realisierung zugrundeliegende moralische Rechtfertigung politischer Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Der Gesellschaftsvertrag ist damit etwas, dem alle Angehörigen eines Staatswesens, sofern sie sich als rationale und moralische Subjekte begreifen, notwendig zustimmen müssen, weil ohne einen solchen Staat Sicherung von Freiheit, Leben und Eigentum, von Wohlstand und Zusammenleben der Menschen in Frieden und gemäß der Gerechtigkeit nicht möglich wäre, unter dieser Voraussetzung die Ablehnung der Staatsgewalt folglich unmoralisch ist. Damit ist auch Humes Einwand entkräftet bzw. gegenstandslos, denn geboren werden wir ja als moralische bzw. der Moral fähige und entsprechend verpflichtete Subjekte.

Das meint ja auch Jan Schnellenbach, wenn er von einem Gesellschaftsvertrag spricht, „der als rationale, gemeinsame Entscheidung der Einzelnen rekonstruiert werden kann“. Und er wirft Milei – und generell den Anarchokapitalisten – zu Recht vor, eine solche Begründung gar nicht in Betracht zu ziehen, vielleicht gar nicht zu kennen.

Überträgt man jedoch diese aus der Begründung politischer Herrschaft stammende Denkfigur auf die Sozialpolitik, könnte man dann, salopp gesagt, zum Schluss kommen: Ein anständiger Mensch kann doch nichts gegen sozialstaatliche Umverteilung haben! Das Problem ist: Während wir – sofern wir nicht Anarchisten sind – kontraktualistischen Rechtfertigungen der politischen Gewalt und Herrschaft relativ leicht zustimmen, fällt uns das bei einer konkreten politischen oder sozialpolitischen Agenda weniger leicht. Hier wollen wir zusätzliche Argumente für die Angemessenheit, Notwendigkeit und Gerechtigkeit wie auch für die Effizienz entsprechender Maßnahmen – und für deren Grenzen. Das heißt wir wollen Argumente dafür, dass solche Maßnahmen nicht Rechte einzelner Menschen verletzen – zum Beispiel Freiheits- oder Eigentumsrechte. Würden wir das nicht, würden wir in einem reinen Sozialutilitarismus landen, der alles für gerecht hält, was für das „Wohl der Gesamtheit“ oder das „größte Glück der größten Zahl“ nützlich ist – und könnten das dann als angeblichen Gesellschaftsvertrag absegnen.

Es scheint mir deshalb unzureichend, sich im sozialpolitischen Zusammenhang allein auf die Figur eines Gesellschaftsvertrags zu berufen, ohne dessen Inhalt und moralische Normativität wie auch seine Grenzen argumentativ zu rechtfertigen. Gerade in einer Demokratie kann die Berufung auf einen angeblich existierenden Gesellschaftsvertrag problematisch sein. Warum das so ist, darauf haben bereits im 19. Jahrhundert Alexis de Tocqueville in seinem Werk „Über die Demokratie in Amerika“ und im 20. Jahrhundert dann wiederum Friedrich A. von Hayek im dritten Teil seiner Trilogie „Recht, Gesetz und Freiheit“ hingewiesen – und das ist nun eben gerade ein Thema der Liberalen. Es kann nämlich leicht zu einer Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit kommen – die Minderheit ist in der Regel so ungefähr das reichste Drittel der Gesellschaft. In den modernen demokratischen „Zweidrittelgesellschaften“ wird also auch Sozialpolitik letztlich von der Interessen einer Mehrheit diktiert, die dann letztlich definiert, worin der „Gesellschaftsvertrag“ besteht.

Aber mit einem Gesellschaftsvertrag hat diese Logik einer Zweidrittelgesellschaft, wie sie von Soziologen genannt wird, dann eben nichts mehr zu tun. Allerdings hat auch das oberste Drittel der Gesellschaft – die Minderheit – längst eingesehen, dass im Interesse des Friedens, der sozialen Akzeptanz von Reichtum und des gesellschaftlichen Zusammenhalts es auch in ihrem Vorteil ist, sich diesem Diktat der Mehrheit zu fügen. Aber mit einem „Vertrag“ hat das wenig gemein, oder besser: die Interpretation dieses Vertrags ist und bleibt das Diktat einer Mehrheitsentscheidung. Genau deshalb, weil dies unvermeidlich ist – es gibt letztlich keine bessere Alternative zu demokratischen Mehrheitsentscheidungen –, ist von entscheidender Wichtigkeit, dass eine Demokratie auch den Schutz der Minderheitsrechte und vor allem der Grundrechte des Individuums kennt, dass also angeblich auf einem Gesellschaftsvertrag beruhende politische Eingriffe durch grundrechtliche Barrieren vor staatlichen Interventionen verunmöglicht werden.

Und dann wird manches – bei weitem nicht alles –, was die Mehrheit beschließt, plötzlich fragwürdig – zum Beispiel aufgrund von Eigentumsrechten und vor allem unter Berücksichtigung der individuellen Freiheit. Kurz: Mit der Berufung auf einen Gesellschaftsvertrag allein lässt sich gegen Diktate demokratischer Mehrheiten nicht mehr argumentieren. Das scheint ja auch Herr Schnellenbach anzuerkennen, wenn er von Grenzen dieses Gesellschaftsvertrags spricht – und dies explizit gerichtet gegen „Sozialisten, die die Grenzen dieses Gesellschaftsvertragsargumentes nicht sehen und ein viel zu großes Maß an Umverteilung fordern“.

Was dieses „Diktat der Mehrheit“ betrifft, haben sich nun eben – und zwar aufgrund sozialistischer Ideen – die Grenzen des als legitim Erachteten in den meisten Ländern bereits stark verschoben. Durch Anspruchsdenken und Populismus der Linken – „Sozialpopulismus“ könnte man ihn nennen – ist die Leistungsfähigkeit des Sozialstaates überdehnt worden. Gefragt wäre es, sich heute vermehrt durch jene Prinzipien leiten zu lassen, die dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag zugrundeliegen, also der moralischen Rechtfertigung des Staates als solchem. Und da sieht es dann schnell anders aus, denn wir müssen nun rechtfertigen, warum es – mit den Worten von Herrn Schnellenbach – überhaupt eine Aufgabe des Staates, ja eine Forderung der Gerechtigkeit sein sollte, „Einkommen soweit umzuverteilen, dass jeder in unserem Land ein menschenwürdiges Leben führen kann“.

Was bedeutet denn dann ein „menschenwürdiges Leben“?

Ein menschenwürdiges Leben besteht meiner Meinung nach fundamental nicht darin, einen bestimmten Anteil an Ressourcen – ein Einkommen oder Vermögen in einer bestimmten Höhe – zu besitzen (oder zugeteilt zu bekommen), sondern schlicht und einfach in der Möglichkeit, sich aus eigener Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen zu können und daran weder von anderen Menschen noch durch den Staat gehindert zu werden. Der Staat bzw. die Gesetze haben also zunächst einmal die Aufgabe, die Bedingungen sicherzustellen, dass jeder sich seinen Lebensunterhalt mit seiner eigenen Arbeit verdienen kann. Menschenwürde bemisst sich also nicht nach der Höhe des Einkommens oder Vermögens, sondern daran, ob man auf eigenen Füßen zu stehen vermag und nicht auf Kosten der anderen zu leben braucht (so sah es auch Ludwig Erhard, der schon in den 1960er Jahren den „sozialen Untertan“ kritisierte, der seine Hand ständig „in der Tasche des Nachbarn hat“).

Ein menschwürdiges Leben bemisst sich auch daran, die Möglichkeit zu haben, das eigene Leben zu verbessern und nicht durch rechtliche und bürokratische Schranken oder gar durch Diskriminierung daran gehindert zu werden. Gleichzeitig sollten auch die Bürger eines Staates nicht daran gehindert werden, durch ihre eigenen Initiativen Bedürftigen zu helfen und z. B. die Bildungschancen der weniger Begüterten zu verbessern. Man sollte sich einmal überlegen, wie viel in dieser Hinsicht der Sozialstaat gerade nicht tut, vielmehr infolge von Umverteilung und hoher Steuerbelastung der höheren Einkommen gerade verhindert!

Wichtiger als Umverteilung ist also rechtliche Sicherung und die Nichtbehinderung der bürgerlichen und unternehmerischen Freiheit durch Schranken aller Art sowie mehr Vertrauen in das Koordinationssystem des Marktes und zivilgesellschaftlicher Solidaritätsnetze, die nicht gemäß der Logik des marktwirtschaftlichen Preissystems funktionieren. Dabei werden nicht alle Menschen das gleiche Bildungs- und Wohlstandsniveau erreichen. Das kann aber auch nicht Ziel des Staates und der Politik sein, auch wenn diese subsidiär eingreifen können, z. B. durch die vor allem rechtliche Förderung eines Stipendienwesens. Dieses kann aber durchaus auch privat finanziert werden, der entsprechende Zuteilungsmechanismus sollten überdies auf klaren Leistungskriterien beruhen.

Staaten haben vor allem andere Aufgaben: Sie müssen das Zusammenleben der Menschen in Frieden und Freiheit, nach Maßstäben der Gerechtigkeit und des Rechts gewährleisten und Sicherheit im Innern und nach außen bieten. Der Staat als Versorgungsanstalt im Sinne einer Familie, die jedem nach seinen Bedürfnissen zuteilt, ist ganz sicher nicht die Vorstellung der katholischen Soziallehre. Dass es ein soziales Sicherheitsnetz für Bedürftige gibt, aber auch eine gesetzlich verankerte kollektive Absicherung gegen die wichtigsten Risiken des Lebens wie Krankheit, Unfall und Altersarmut, ist in einer Industriegesellschaft, in der die sozialen Sicherheitsnetze der früheren Großfamilie, feudalistischer Schutzverpflichtungen und des Zunft- und Gildenwesens nicht mehr existieren, also jedes Individuum auf sich gestellt ist, wohl unbestritten. Es bedurfte der Zeit, damit auch unter Liberalen diese Einsicht zum Durchbruch kam. Solche Sicherheitsnetze haben aber nichts mit staatlicher Fürsorge oder Umverteilung zu tun. Sie bestehen vielmehr in der Anwendung des Versicherungsprinzips. Zu überdenken und zur Diskussion zu stellen wäre auch das Umlagesystem in der Altersvorsorge, das schon längst zu einem Umverteilungssystem geworden ist, in diesem Fall von den Jungen zu den Alten, was extrem ungerecht ist wie vieles andere auch, was heute unter dem Namen „Sozialstaat“ läuft und angeblich durch einen Gesellschaftsvertrag abgedeckt ist. Auch hier schweigt sich bisher die neuere katholische Soziallehre weitgehend aus.

Was ist zu tun?

Gerade aus Sicht der katholischen Soziallehre wäre einiges nachzuholen und zu korrigieren, was Leute wie Javier Milei in verdienstlicher Weise ansprechen. Der Soziallehre ihrerseits würde es gut tun, von der gesunden liberalen Skepsis gegenüber dem Staat und der staatlichen Lösung und seinem Verständnis für marktwirtschaftliche Ansätze zu lernen. Wenn sie davon spricht, der Staat sei für das Gemeinwohl zuständig, sollte sie nachfragen, was mit „Gemeinwohl“ im konkreten Fall gemeint ist. Oft wird man merken, dass damit lediglich bestimmte Gruppeninteressen artikuliert werden, die sich mit der Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ äußern und für Politiker Gelegenheiten sind, mit dem Geld des Steuerzahlers für die nächsten Wahlen zu punkten. Man kann „Gemeinwohl“ also in völlig verschiedener Weise verstehen – doch mit Leerformeln ist uns nicht gedient.

Schließlich: Der Staat ist kein Übel, wie Milei und generell die Anarchokapitalisten behaupten – auch wenn er natürlich, wie jede Machtstruktur, zum Übel werden und Menschen korrumpieren kann –, sondern unerlässlich für die Existenz und Durchsetzbarkeit einer freiheitlichen Rechtsordnung. Ohne Staat gibt es auch kein gesichertes Eigentum – so mindestens lehrt es die historische Erfahrung und sagt es uns auch die Vernunft. Zudem, wie Herr Schnellenbach richtig betont, ist der Staat auch eine Instanz, die hilft, Koordinationsprobleme zu lösen, die der freie Markt nicht zu lösen vermag. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Der freie Markt kann mehr Probleme lösen, als man ihm auch in ökonomischen Fachkreisen oft zugestehen will. Die Politik wiederum ist daran interessiert, schnellstmöglich ein „Marktversagen“ zu diagnostizieren, um sich für zuständig zu erklären, Probleme zu lösen, die sie nicht lösen sollte noch lösen kann. Und nicht zu vergessen ist: Fehler des Marktes sind dezentraler Natur und werden in der Regel vom Markt selbst korrigiert. Fehler der Politik hingegen wirken sich flächendeckend und langfristig aus und sind praktisch unkorrigierbar. Ein einziges Staatsversagen hat also unsäglich viel schlimmere Auswirkungen als dieses oder jenes einzelne Marktversagen.

Ein Politiker, der sich nicht als Problemlöser präsentiert, wird jedoch nicht wiedergewählt. Politiker haben nicht immer das allgemeine Interesse im Blick; wie die Public-Choice-Theorie zeigt, verfolgen sie immer auch ihre eigenen, oft sehr menschlichen Interessen. Leider sind deshalb sehr viele Probleme, die Politiker zu lösen versuchen, von der Politik selbst verursacht. Das gilt für die Finanzkrise von 2008, aber – um es zu wiederholen – auch für die Eurokrise, die damit verbundene Bankenkrise, kostspielige industriepolitische Verirrungen, die unverantwortliche Politik des billigen Geldes der letzten drei Jahrzehnte, die damit einhergehende exorbitante Staatsverschuldung sowie die durch all das erzeugte Inflation – und natürlich Kriege aller Art. Erst wenn die Politik demütiger wird und der Staat sich wieder auf seine eigentlichen Aufgaben besinnt, können wir meiner Meinung nach wieder sinnvoll von einem Gesellschaftsvertrag als normative Größe – mit dann aber klar definierten Grenzen – sprechen.

Den ersten Teil des Interviews finden Sie hier.

Prof. Martin Rhonheimer (geb. 1950 in Zürich), hat Geschichte, Philosophie und politische Wissenschaft in Zürich und Theologie in Rom studiert. Er promovierte bei Hermann Lübbe, dessen Assistent er war. 1983 wurde er in Rom von Papst Johannes Paul II. zum Priester geweiht. Von 1990 bis 2020 war er Professor für Ethik und politische Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, der er als Gastprofessor verbunden bleibt.

Er ist u. a. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und der Ludwig-Erhard-Stiftung.

2014 gründete er zusammen mit anderen das Austrian Institute of Economics and Social Philosophy mit Sitz in Wien, dessen Präsident er ist. Er lebt in Wien.

Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Sammelbänden, vornehmlich auf dem Gebiet der Ethik und politischen Philosophie sowie der Wirtschafts- und Sozialphilosophie, darunter mehrere Bücher, die zum Teil in verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. Zuletzt: Christentum und säkularer Staat, Freiburg 2012; The Common Good of Constitutional Democracy, Washington D.C. 2013; Homo sapiens. Die Krone der Schöpfung, Wiesbaden 2016; Libertad económica, capitalismo y ética cristiana, Madrid 2017.

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