Berlin, 26 Oktober, 2020 / 9:00 AM
Die Katholisch Integrierte Gemeinde (IG) war jahrelang innerhalb der katholischen Bewegungslandschaft eine Institution. Ihre Mitglieder sahen sich als eine intellektuelle "Elite", doch sieht sich die Gemeinschaft schweren Vorwürfen ausgesetzt. Papst emeritus Benedikt XVI. hat sich nun laut einem Bericht der "Herder Korrespondenz" von der IG distanziert. Im Interview erklärt der Autor, Benjamin Leven, was seine Recherchen ergeben haben – auch zu Vorwürfen "geistlichen Missbrauchs", von denen ein Untersuchungsbericht des Erzbistums München und Freising spricht.
Herr Dr. Leven, bestätigen Ihre Recherchen diesen Vorwurf?
Die Ex-Mitglieder, mit denen wir gesprochen haben, bestätigen einen Großteil der Vorwürfe aus dem Untersuchungsbericht. Außerdem liegen uns Schriftstücke vor, die nahelegen, dass auf Gemeindemitglieder Druck ausgeübt wurde, um sie zu fundamentalen Lebensentscheidungen zu bewegen: etwa die Scheidung einzureichen. Die Integrierte Gemeinde weist hingegen sämtliche in dem Untersuchungsbericht erwähnten Vorwürfe zurück. Als der Bericht im vergangenen Jahr erstmals in Teilen publik wurde, hat sie in einer Stellungnahme wissen lassen, der Bericht enthalte völlig haltlose Anschuldigungen, unwahre Behauptungen und faktenfreie Vorurteile, die zusammengetragen worden seien, um der Gemeinde ihre Katholizität abzusprechen. Ziel sei eine massive Rufschädigung und die Verhinderung ihrer Arbeit. Wir haben deshalb natürlich auch versucht, Vertreter der Gemeinde mit unseren Recherchen zu konfrontieren, bekamen jedoch entweder keine Antwort oder nur Absagen. "Geistlicher Missbrauch" ist ein Ausdruck, den Menschen benutzen, die bestimmte negative Erfahrungen gemacht haben, zum Beispiel in Gemeinschaften, in Orden oder in der geistlichen Begleitung. Auch ehemalige Mitglieder der Integrierten Gemeinde verwenden ihn, um das, was sie dort erlebt haben, für sich zu interpretieren. Andere Ex-Mitglieder sagen: "Ich bin Teil einer Sekte gewesen".
Die Integrierte Gemeinde – eine Sekte?
Die Äußerungen der Gemeinde selbst zeugen jedenfalls von einem unglaublich exklusiven Selbstverständnis. Da heißt es etwa in einer Publikation aus den späten Sechzigerjahren: "Die Integrierte Gemeinde ist die einzig mögliche Daseinsform des Christen in unserer Zeit."
Es ist natürlich schwierig, Begriffe wie "geistlicher Missbrauch" oder "Sekte" streng objektiv zu fassen. Am besten lässt es sich vielleicht mit dem Worten eines emeritierten Bischofes ausdrücken, der bei uns im Artikel zitiert wird. Er spricht von einer "Indoktrination, die bis in die innersten Gewissens- und Lebensbereiche ging". Entsprechende Bericht ehemaliger Mitglieder, die sich an ihn gewendet haben, hält er für glaubwürdig.
In Ihrem Bericht zitieren Sie mutmaßliche Betroffene, die behaupten, dass die Beschlüsse der Gemeindeversammlungen den Stellenwert eines "Gottesurteils" hatten, nach dem sich alle zu richten hatten. Dort wurde unter anderem über die Partner-, Berufs- oder Wohnortswahl der Mitglieder entschieden. Die Gründerin soll sogar Scheidungen befohlen haben.
Man hätte in der Integrierten Gemeinde sicher nicht von Befehlen gesprochen, sondern vom "Rat der Gemeinde". Viele Aussteiger sagen aber, sie hätten diesen vermeintlichen "Rat der Gemeinde" vor allem als den persönlichen Willen der Gründerin erlebt. Es dürfte sich jedenfalls nicht um einen einfachen Ratschlag gehandelt haben, den man auch hätte ablehnen können.
Was passierte, wenn man sich solchen Anweisungen dennoch widersetzte?
Das Schlimmste für die Mitglieder wäre wohl ein Ausschluss gewesen. Ein Brief, den wir im Artikel zitieren, legt dem Adressaten nahe, er müsse sich zwischen der Gemeinde und seinen Angehörigen entscheiden, die nicht mehr zu der Gruppe gehören. Anschließend heißt es drohend: "Ist es noch zu rechtfertigen, dass Du in der Gemeinde mitleben darfst"? Die Vorstellung, die Gemeinde verlassen zu müssen, war in der Tat bedrohlich, denn für die Betroffenen war die Gemeinde ihr ganzes Leben. Ihre Freunde, ihre Familie gehörten dazu. Und viele hatten wohl auch den Eindruck: Wer die Gemeinde verlässt, der verlässt auch die Kirche.
Sie schreiben, dass die Gründerin Traudl Wallbrecher einen regelrechten Kult um ihre Person und um die Gemeinde aufgebaut hat. Die Mitglieder seien gar von ihrer Herkunftsfamilie abgekapselt worden…
Als "Kult" haben es jedenfalls die Austeiger wahrgenommen, mit denen wir sprechen konnen. Mehrere von ihnen berichten auch, dass durch Auseinandersetzungen in der Gemeinde ihre Familien in die Brüche gingen – ganz einfach dadurch, dass ein Teil der Familie die Gemeinde verlassen hat oder verlassen musste und ein Teil der Familie verblieben ist. Anschließend hätten sie keinen Kontakt mehr mit ihren Angehörigen gehabt. Kinder und Eltern hätten sich feindlich gegenübergestanden. Die Integrierte Gemeinde sah sich als "neue Familie". Im Untersuchungsbericht des Erzbistums München und Freising heißt es: "Die Herkunftsfamilie wurde gering geachtet und hatte keinen Wert. Es zählte nur die neue Familie in der Gemeinde."
Derartiger Missbrauch ist aber schon relativ früh bekannt geworden. Warum haben die Bistümer so spät reagiert?
Ende der Siebzigerjahre erhielt die Integrierte Gemeinde die Anerkennung als kirchlicher Verein, zuerst im Erzbistum München und Freising unter dem damaligen Erzbischof Joseph Ratzinger, dann im Erzbistum Paderborn. Das war so etwas wie ein Gütesiegel, auf das man sich wohl auch in anderen Bistümern verlassen hat. Gleichzeitig wurden über Jahrzehnte hinweg Beschwerden vorgebracht. In München waren beispielsweise schon 1973 Vorwürfe aktenkundig, in denen von Freiheitsbeeinträchtigungen der Mitglieder und von der Trennung von Familien die Rede ist. All diese Beschwerden hätten schon längst eine kanonische Untersuchung gerechtfertigt. Das ist aber nicht passiert.
Woran mag das gelegen haben?
Eine hochrangige Quelle hat uns gesagt: "Bei allem, was man in München in Bezug auf die Integrierte Gemeinde unternommen hat, musste man immer davon ausgehen, dass sie einen mächtigen Protektor hat." Außerdem habe die Gemeinde den Eindruck erweckt, über "Sondergenehmigungen" aus Rom zu verfügen.
(Die Geschichte geht unten weiter)
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Wer soll dieser Protektor gewesen sein?
Joseph Ratzinger. Der Papstbiograf Peter Seewald schreibt, dass die IG Ratzinger als "Aushänge- wie als Schutzschild" vor sich hergetragen habe.
Kardinal Ratzinger hat der Gruppe 1978 immerhin die kirchliche Anerkennung verschafft.
Ja. Und vermutlich reichte dann die Annahme schon aus, dass Ratzinger der Schutzherr der Gemeinde sei, um ein Vorgehen kirchlicher Instanzen gegen sie zu verhindern. Es gab tatsächlich immer wieder Berührungspunkte und Begegnungen zwischen Kardinal Ratzinger und der Gemeinde: Gespräche, Tagungen und Symposien, Gottesdienste, Feierlichkeiten. 1993 weiht Ratzinger Mitglieder zu Priestern, 1996 traut er einen Sohn der Gründerin, später tauft er dessen Kinder.
Aber er muss doch von den Vorwürfen gewusst haben?
Nach unseren Recherchen ist ein Vertreter eines deutschen Bistums im Jahr 2000 eigens nach Rom gereist, um ihn als Präfekten der Glaubenskongregation über verschiedene Vorwürfe gegen die Gemeinde zu informieren. Ihm wurde berichtet, dass manche Aussteiger ihr ganzes Vermögen der Gemeinde überlassen hätten und in die Überschuldung getrieben worden seien, dass Aussteigern Schwierigkeiten gemacht würden. Auch der sehr ernste Vorwurf, dass die ordentliche Beichte in der Gemeinde durch öffentliche Bußgespräche im Rahmen von Versammlungen ersetzt werde, wurde ihm vorgetragen. Kardinal Ratzinger soll wenig überrascht reagiert, aber eingewendet haben, dass Aussteigerberichte immer begrenzte Glaubwürdigkeit hätten und man die Gemeinschaft nicht ghettoisieren, sondern eng begleiten solle.
Wie denkt Papst em. Benedikt XVI. denn heute darüber?
Wir haben ihm unsere Recherchen vorgelegt und er hat dieses Gespräch und seinen Inhalt nicht dementiert. Heute, zwanzig Jahre später, scheint er die Sache trotzdem anders zu sehen. Er hat uns nämlich gesagt: "Dass bei dem Versuch, die Dinge des täglichen Lebens integral vom Glauben her zu gestalten, auch schreckliche Entstellungen des Glaubens möglich waren, ist mir zunächst nicht bewusst geworden. Meine Informationen in diesem Bereich blieben dürftig."
Wurde er getäuscht?
Ex-Mitglieder sagen, dass alles dafür getan wurde, ein möglichst gutes Bild bei hohen Kirchenmännern abzugeben, nicht nur bei Ratzinger, auch bei Kardinälen wie Christoph Schönborn oder Walter Kasper. Zu dieser Form von Beziehungspflege hätten Geschenke und Aufmerksamkeiten gehört, das Kochen der Lieblingsspeisen… Man habe sich teilweise auch aufopferungsvoll und Angehörige der Kirchenmänner gekümmert. Und dann ist es auch eine Frage, welchen Ansatz man verfolgt: Misstraut man neuen Initiativen und Gemeinschaften oder gibt man ihnen einen Vertrauensvorschuss? Der emeritierte Papst sagt uns, er habe es als seine Verpflichtung angesehen, die Gemeinde "auf ihre Rechtgläubigkeit hin" zu begleiten. Er stellt fest: "Mein bischöfliches Handeln zielte allein darauf ab, von der IG den vollen Glauben der Kirche als konkretes Ziel zu fordern und zu fördern." Das ist offensichtlich nicht ganz gelungen. Was seine Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation und als Papst betrifft, so weist er die Behauptung zurück, er habe der Integrierten Gemeinde irgendwelche Sondergenehmigungen erteilt.
Wie erklären Sie sich die Faszination, die von der IG ausgegangen sein muss, sodass sie immerhin so viele Jahre lang wirken konnte?
Das war ein Intellektuellen-Phänomen, das muss man schon so sagen. Es ist in der Nachkriegszeit und in der Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der Kirche viel in Bewegung gewesen. Sie haben vorhin von der "Bewegungslandschaft" gesprochen; es gab alle möglichen Formen von Neuaufbrüchen und Gemeinschaften. Die Integrierte Gemeinde war gerade für Intellektuelle ungeheuer faszinierend, weil man mit dem alten Katholizismus nichts mehr anfangen konnte und nach Möglichkeiten suchte, den Glauben "zeitgemäßer" zu leben.
Die IG stellte sich also als progressive Reformbewegung dar?
Noch im Jahr 2008 schreibt ein Autor in der "Herder Korrespondenz", die Integrierte Gemeinde gehöre zu "den profiliertesten Aufbrüchen und Bewegungen innerhalb der Kirche". Die IG sticht dadurch hervor, dass sie ein dezidiert intellektuelles, theologisch-reflektiertes Profil hat. Da spielten Bibelwissenschaftler eine besondere Rolle, prominente Theologen, die für die Gemeindepraxis so etwas wie einen intellektuellen Überbau lieferten. Die neutestamentliche Forschung schien hier mit dem Neuaufbruch im Gemeinschaftsleben Hand in Hand zu gehen. Das hat Intellektuelle angesprochen, weil sie den Eindruck hatten, dass hier die Erkenntnisse der zeitgenössischen Theologie in eine neue Form von Kirche umgesetzt wurden. Ein Bespiel: Man lebte in der Gemeinde in so genannten "Integrationshäusern" zusammen. Schaut man sich an, wie Neutestamentler, die der Gemeinde nahestanden, das Leben der ersten Christengemeinden schildern, dann hat man das Gefühl: Da geht es zu wie in einem der Integrationshäuser der IG.
Welche Rolle spielt dabei die Gruppenzugehörigkeit?
Diese intensive Form des Gemeinschaftslebens, die in der Gemeinde gepflegt wurde, steht auch für ein Phänomen der Siebzigerjahre, das es in ganz unterschiedlichen Kontexten gab. Die Integrierte Gemeinde war quasi eine "katholische Kommune". In dieser Zeit gab es als Reaktion auf den modernen Individualismus eine große Sehnsucht nach neuen Gemeinschaftsformen.
Die kirchlichen Untersuchungen im Erzbistum München und Freising laufen noch. Sind die Vorwürfe konkret genug für eine Verurteilung der IG?
Ziel einer kirchlichen Visitation ist zunächst nicht die Verurteilung einer Gemeinschaft. Die Visitation soll ihr eigentlich helfen, sich neu aufzustellen. Das Erzbistum München und Freising hat aber die mangelde Kooperationsbereitschaft der Münchner Gruppe beklagt. Vertreter der Gemeinde wiederum haben das bestritten. Zu einer richtigen Zusammenarbeit scheint es jedenfalls nicht gekommen zu sein. Die Vorwürfe aus dem Bereich des geistlichen Missbrauchs – Eindringen in die persönlichen Lebensbereiche, die Kontrolle und Indoktrination von Menschen – sind schwerwiegend, aber kirchenrechtlich auch schwer zu fassen. Andere Vorwürfe betreffen die Sakramentendisziplin. Wenn es stimmen sollte, dass die Beichte durch Bußgespräche in der Versammlung ersetzt wurde, dann wäre das tatsächlich ein schwerwiegender Missbrauch des Sakraments. Im Falle anderer Gemeinschaften wurde zuletzt die mangelnde Unterscheidung von "forum internum" und "forum externum" beklagt. Wenn die Vorwürfe zutreffen, dann gab es in der Integrierten Gemeinde im Grunde gar kein "forum internum".
Wie wird es mit der IG weitergehen? Wird man sie auflösen?
Kirchenrechtlich gesehen scheint die eine Katholische Integrierte Gemeinde gar nicht zu geben, sondern eine Reihe unterschiedlicher Rechträger in den Bistümern. Die Untersuchung in München bezieht sich eigentlich nur auf die dortige Gruppe. Inzwischen haben die einzelnen Ableger in den Bistümern den Ortsbischöfen von sich aus mitgeteilt, ihre Aktivitäten "in der bisherigen kirchenrechtlichen Form" einstellen zu wollen.
Möchte die IG damit einer Auflösung durch die Kirche zuvorkommen?
Man könnte jedenfalls den Eindruck bekommen, dass man sich dadurch dem Zugriff einer kirchenrechtlichen Untersuchung und Maßregelung entziehen will. Unsere Recherchen zeigen, dass man durchaus vorhat, weiter zu arbeiten, aber eben außerhalb des bisherigen kirchenrechtlichen Rahmens. Der Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, könnte die dortige Gruppe als Konsequenz aus der Visitation jetzt auflösen. Aber die haben sich ja quasi schon selbst verabschiedet.
Das ist aber nicht das, was sich die Betroffenen erhoffen.
Ja, mehrere Betroffene wünschen sich darum die Einrichtung einer eigenen Aufarbeitungskommission, Hilfsangebote vonseiten der Erzdiözese sowie eine öffentliche Stellungnahme von Kardinal Marx.
Das Interview erscheint in der kommenden Ausgabe des VATICAN-Magazin. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.
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