8. Februar 2021
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
ich danke dem Doyen Seiner Exzellenz Herrn George Poulides, dem Botschafter von Zypern, für seine freundlichen Worte und guten Wünsche in Ihrer aller Namen, und möchte mich vor allem für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, welche Ihnen die Absage des für den 25. Januar vorgesehenen Termins vielleicht bereitet hat. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis und Ihre Geduld und dass Sie die Einladung, heute Morgen an unserer traditionellen Begegnung teilzunehmen, trotz der Schwierigkeiten angenommen haben.
Wir treffen uns heute in der geräumigeren Aula delle Benedizioni, um größeren Abstand zwischen den Personen halten zu können, wie es die Pandemie erfordert. Der Abstand ist jedoch rein physisch. Unser Zusammenkommen symbolisiert eher das Gegenteil. Es ist ein Zeichen der Nähe, jener Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung, nach der die Familie der Nationen streben muss. In dieser Zeit der Pandemie ist diese Pflicht umso dringlicher, weil jedem klar ist, dass das Virus keine Grenzen kennt und nicht einfach isoliert werden kann. Die Verantwortung für seine Bekämpfung betrifft daher einen jeden von uns persönlich, aber auch unsere Länder.
Ich bin Ihnen daher dankbar für Ihren täglichen Einsatz zur Förderung der Beziehungen zwischen Ihren Ländern bzw. den von Ihnen vertretenen Internationalen Organisationen und dem Heiligen Stuhl. Im Laufe dieser Monate konnten wir zahlreiche Zeichen gegenseitiger Verbundenheit austauschen, auch dank der modernen Technik, die es ermöglicht hat, die von der Pandemie verursachten Einschränkungen zu überwinden.
Zweifelsohne hoffen wir alle, so schnell wie möglich wieder zum unmittelbaren persönlichen Kontakt zurückzukehren, und unser heutiges Treffen möchte in diesem Sinne ein gutes Omen sein. Ebenso ist es mein Wunsch, in Kürze die Apostolischen Reisen wiederaufzunehmen, beginnend mit der für den kommenden März geplanten Reise in den Irak. Die Reisen sind in der Tat ein wichtiger Aspekt der Sorge des Nachfolgers Petri für das Volk Gottes auf der ganzen Welt sowie des Dialogs des Heiligen Stuhls mit den Staaten. Außerdem sind sie oft eine günstige Gelegenheit, um in einem Geist des Austauschs und des Dialogs die Beziehungen zwischen den verschiedenen Religionen zu vertiefen. In unserer Zeit ist der interreligiöse Dialog ein wichtiger Bestandteil der Begegnung zwischen den Völkern und Kulturen. Wenn er nicht als Verzicht auf die eigene Identität verstanden wird, sondern als Gelegenheit zu einem vertieften Kennenlernen und gegenseitiger Bereicherung, stellt er eine Chance für die Religionsführer und die Gläubigen der verschiedenen Bekenntnisse dar und kann die Arbeit der politischen Entscheidungsträger in ihrer Verantwortung für das Gemeinwohl unterstützen.
Ebenso wichtig sind die internationalen Vereinbarungen, die es erlauben, die Bande des gegenseitigen Vertrauens zu vertiefen, und die die Kirche in die Lage versetzen, wirksamer zum geistlichen und sozialen Wohl Ihrer Länder beizutragen. In diesem Zusammenhang möchte ich hier den Austausch der Ratifikationsurkunden des Rahmenabkommens zwischen dem Heiligen Stuhl und der Demokratischen Republik Kongo und des Abkommens über den Rechtsstatus der katholischen Kirche in Burkina Faso erwähnen sowie die Unterzeichnung des Siebenten Zusatzvertrags zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zum Vertrag zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen vom 23. Juni 1960. Darüber hinaus haben der Heilige Stuhl und die Volksrepublik China am 22. Oktober vereinbart, die Gültigkeit des 2018 in Peking unterzeichneten vorläufigen Abkommens bezüglich der Ernennung von Bischöfen in China um weitere zwei Jahre zu verlängern. Es handelt sich um eine Übereinkunft, die im Wesentlichen pastoraler Natur ist. Der Heilige Stuhl hofft, dass der eingeschlagene Weg im Geiste des Respekts und gegenseitigen Vertrauens weitergeht und zur Lösung von Fragen gemeinsamen Interesses weiterhin beiträgt.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
das vor kurzem zu Ende gegangene Jahr hat über die vielen Todesfälle hinaus bedrückende Angst, Entmutigung und Verzweiflung hinterlassen. Es hat die Menschen in eine Spirale der Absonderung und des gegenseitigen Verdachts versetzt und die Staaten dazu bewegt, Barrieren zu errichten. Die vernetzte Welt, an die wir gewöhnt waren, ist einer Welt gewichen, die wieder fragmentiert und geteilt ist. Nichtsdestotrotz sind die Auswirkungen der Pandemie wirklich global, weil sie zum einen tatsächlich die gesamte Menschheit und alle Länder der Erde betrifft, zum anderen aber auch weil sie viele Aspekte unseres Lebens berührt und zur Verschärfung von Krisen beiträgt, »die eng miteinander zusammenhängen, wie die Klima-, Ernährungs-, Wirtschafts- und Migrationskrisen«. Aufgrund dieser Überlegungen hielt ich es für angebracht, die Vatikanische Covid-19-Kommission zu gründen, um die Reaktion des Heiligen Stuhls und der Kirche auf die aus den Diözesen der ganzen Welt kommenden Anregungen zu koordinieren, um der gesundheitlichen Notlage und den Bedürfnissen zu begegnen, die die Pandemie ans Licht gebracht hat.
Von Anfang an war nämlich klar, dass die Pandemie einen großen Einfluss auf unseren gewohnten Lebensstil haben würde und zu einer Abnahme von Komfort und zum Schwinden von etablierten Gewissheiten führen würde. Sie versetzte uns in eine Krise und zeigte uns das Gesicht einer Welt, die nicht nur an einem Virus erkrankt war, sondern auch was die Umwelt betrifft, die wirtschaftlichen und politischen Prozesse und erst recht die menschlichen Beziehungen. Sie hat die Risiken und Folgen einer von Egoismus und Wegwerfmentalität geprägten Lebensweise ans Licht gebracht und uns vor die Alternative gestellt, den bisherigen Weg fortzusetzen oder einen neuen Weg einzuschlagen.
Ich möchte daher auf einige der Krisen eingehen, die durch die Pandemie verursacht oder deutlicher sichtbar wurden, und gleichzeitig die Chancen betrachten, die sich daraus für den Aufbau einer menschlicheren, gerechteren, solidarischeren und friedlicheren Welt ergeben.
Die Pandemie hat uns mit voller Wucht zwei unausweichliche Dimensionen der menschlichen Existenz vor Augen gestellt: Krankheit und Tod. Gerade dadurch erinnert sie auch an den Wert des Lebens, jedes einzelnen menschlichen Lebens, und an seine Würde in jedem Augenblick seines irdischen Weges, von der Empfängnis im Mutterleib bis zu seinem natürlichen Ende. Bedauerlicherweise ist festzustellen, dass sich unter dem Vorwand, vermeintliche subjektive Rechte zu garantieren, eine wachsende Zahl von Gesetzgebungen in der ganzen Welt von der unabdingbaren Pflicht, menschliches Leben in jeder Phase zu schützen, zu entfernen scheint.
Die Pandemie erinnert uns auch an das Recht auf eine allgemeine Fürsorge, die jedem Menschen zukommt, wie ich auch in meiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Januar dieses Jahres betont habe. »Jede menschliche Person ist – in der Tat – Selbstzweck, niemals einfach Mittel, das nur seines Nutzens wegen geschätzt wird; sie ist dazu geschaffen, um in der Familie, in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft zusammenzuleben, wo alle Mitglieder an Würde gleich sind. Aus dieser Würde leiten sich die Menschenrechte ab, aber auch die Pflichten, die z.B. an die Verantwortung erinnern, die Armen, die Kranken, die Ausgegrenzten […] aufzunehmen und ihnen zu helfen«. Wenn das Recht auf Leben im Falle der Schwächsten unterdrückt wird – wie sollen dann die übrigen Rechte wirksam gewährleistet werden?
In diesem Sinne erneuere ich meinen Appell, jedem Menschen die Fürsorge und den Beistand zukommen zu lassen, den er braucht. Dazu ist es notwendig, dass sich die Verantwortlichen in der Politik und in der Regierung für einen allgemeinen Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung einsetzen, wie auch für die Schaffung von lokalen medizinischen Zentren und Gesundheitseinrichtungen, welche den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen, sowie für die Verfügbarkeit von Behandlungen und Medikamenten. In der Tat kann es nicht sein, dass die Logik des Profits in so sensiblen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung und der allgemeinen Fürsorge den Ton angibt.
Es ist auch unerlässlich, dass die beträchtlichen medizinischen und wissenschaftlichen Fortschritte, die im Laufe der Jahre gemacht wurden und die es ermöglicht haben, in sehr kurzer Zeit wirksame Impfstoffe gegen das Coronavirus zu entwickeln, der gesamten Menschheit zugutekommen. Ich rufe daher alle Staaten auf, sich aktiv an den internationalen Initiativen zu beteiligen, die darauf abzielen, eine gerechte Verteilung der Impfstoffe sicherzustellen – und zwar nicht nach rein wirtschaftlichen Kriterien, sondern unter Berücksichtigung der Bedürfnisse aller, vor allem der Bevölkerungen besonders bedürftiger Länder.
In jedem Fall muss der Zugang zu Impfstoffen angesichts eines so heimtückischen und unberechenbaren Feindes wie Covid-19 immer von einem verantwortungsvollen persönlichen Verhalten begleitet sein, das darauf abzielt, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern, und zwar durch die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen, an die wir uns in den letzten Monaten gewöhnt haben. Es wäre fatal, allein auf den Impfstoff zu setzen, als wäre er ein Allheilmittel, das von einem kontinuierlichen Engagement des Einzelnen für die eigene Gesundheit und die anderer Menschen befreit. Die Pandemie hat uns gezeigt, dass niemand eine Insel ist, so der berühmte Satz des englischen Dichters John Donne, und dass gilt: »Jedes Menschen Tod ist mein Verlust, denn ich bin Teil der Menschheit«.
Nicht nur Menschen erkranken, sondern auch unsere Erde. Die Pandemie hat uns einmal mehr gezeigt, wie anfällig sie ist und wie sehr sie der Hilfe bedarf.
Es gibt sicherlich wesentliche Unterschiede zwischen der Gesundheitskrise, die durch die Pandemie hervorgerufen wurde, und der ökologischen Krise, die durch die wahllose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen verursacht wurde. Letztere ist viel komplexer und anhaltender und erfordert gemeinsame langfristige Lösungen. Tatsächlich sind die Auswirkungen z. B. des Klimawandels – sowohl die direkten, wie extreme Wetterereignisse, etwa Überschwemmungen und Dürren, als auch die indirekten, wie Unterernährung oder Atemwegserkrankungen – oft mit langwierigen Folgen verbunden.
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Die Lösung dieser Krisen erfordert eine internationale Zusammenarbeit in der Sorge um unser gemeinsames Haus. Ich hoffe daher, dass die nächste Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP26) im November diesen Jahres in Glasgow eine wirksame Vereinbarung zur Bekämpfung der Folgen des Klimawandels ermöglichen wird. Jetzt ist es an der Zeit zu handeln, denn die Auswirkungen fortgesetzter Untätigkeit sind bereits spürbar.
Ich denke da zum Beispiel an die Auswirkungen auf die vielen kleinen Inseln im Pazifik, die allmählich zu verschwinden drohen. Diese Tragödie verursacht nicht nur die Zerstörung ganzer Dörfer, sondern zwingt auch die lokalen Gemeinschaften und insbesondere die Familien, ständig umzuziehen, was mit dem Verlust ihrer Identität und Kultur verbunden ist. Ich denke auch an die Überschwemmungen in Südostasien, vor allem in Vietnam und auf den Philippinen, die zahlreiche Opfer gefordert und ganze Familien um ihren Lebensunterhalt gebracht haben. Ebenso wenig kann man die fortschreitende Erderwärmung ignorieren, die verheerende Brände in Australien und Kalifornien verursacht hat.
Auch in Afrika gibt der Klimawandel, der durch unüberlegtes menschliches Handeln und nun auch durch die Pandemie verschärft wird, Anlass zu großer Sorge. Ich beziehe mich in erster Linie auf die unsichere Ernährungslage, von der im letzten Jahr insbesondere Burkina Faso, Mali und Niger betroffen waren, wo Millionen von Menschen Hunger leiden. Ich denke da auch an die Situation im Südsudan, wo die Gefahr einer Hungersnot besteht und wo außerdem eine ernste humanitäre Notlage herrscht. Mehr als eine Million Kinder leiden an Mangelernährung, während humanitäre Korridore oft blockiert und die Präsenz humanitärer Organisationen in dem Gebiet eingeschränkt werden. Auch um diese Situation in den Griff zu bekommen, ist es dringender denn je, dass die südsudanesischen Verantwortungsträger allen Zwist überwinden und den politischen Dialog im Hinblick auf eine vollständige nationale Aussöhnung weiterführen.
Das Ziel, das Coronavirus einzudämmen, hat viele Regierungen dazu veranlasst, Maßnahmen zur Einschränkung der Freizügigkeit zu ergreifen. Diese haben über mehrere Monate zur Schließung von Geschäften und zu einem allgemeinen Rückgang der Produktion geführt, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Unternehmen, vor allem auf kleine und mittlere Betriebe, hat wie auch auf die Beschäftigung und damit auf das Leben von Familien und ganzen Gesellschaftsschichten, insbesondere der schwächeren.
Die daraus folgende Wirtschaftskrise hat eine weitere Krankheit unserer Zeit ans Licht gebracht, nämlich die einer Wirtschaft, die auf der Ausbeutung und dem Wegwerfen von Menschen und natürlichen Ressourcen basiert. Dabei hat man allzu oft die Solidarität und andere Werte vergessen, die die Wirtschaft in die Lage versetzen, einer ganzheitlichen menschlichen Entwicklung zu dienen und nicht nur Einzelinteressen. Zudem sind die soziale Bedeutung der Wirtschaftstätigkeit und die universelle Bestimmung von Gütern und Ressourcen aus dem Blick geraten.
Die aktuelle Krise ist daher ein günstiger Anlass, das Verhältnis zwischen Mensch und Wirtschaft neu zu überdenken. Es braucht eine Art „neue kopernikanische Wende“, die die Wirtschaft in den Dienst des Menschen stellt und nicht umgekehrt; die beginnt, »eine andersgeartete Wirtschaft zu studieren und zu praktizieren, eine Wirtschaft, die Leben lässt und nicht tötet, die inklusiv ist und nicht exklusiv, die menschlicher macht und nicht entmenschlicht, die sich der Sorge für die Schöpfung widmet und sie nicht ausbeutet«.
Um die negativen Folgen dieser Krise zu bekämpfen, haben viele Regierungen verschiedene Initiativen und die Bereitstellung erheblicher finanzieller Mittel geplant. Allerdings hat man auch oft versucht, diesem Problem von globalem Ausmaß mit Teillösungen zu begegnen. Heute ist es weniger denkbar denn je, dass man es alleine schafft. Zum Erhalt der Arbeitsplätze und zum Schutz der ärmsten Bevölkerungsschichten braucht es gemeinsame und abgestimmte Initiativen, auch auf internationaler Ebene. In dieser Hinsicht halte ich das Bemühen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten für bedeutsam, die trotz aller Schwierigkeiten zeigen konnten, dass man durch beherztes Handeln zu zufriedenstellenden Kompromissen zum Wohle aller Bürger gelangen kann. Die im Rahmen von Next Generation EU bereitgestellten Mittel sind ein bedeutendes Beispiel dafür, dass Zusammenarbeit und eine gemeinsame Nutzung von Ressourcen im Geiste der Solidarität nicht nur wünschenswerte, sondern auch wirklich erreichbare Ziele sind.
In vielen Teilen der Welt hat die Krise vor allem diejenigen getroffen, die im informellen Sektor arbeiten und als erste den Verlust ihrer Existenzgrundlage erleiden mussten. Da sie außerhalb der formellen Wirtschaft leben, haben sie auch keinen Zugang zu sozialen Absicherungen, einschließlich Arbeitslosenversicherung und Gesundheitsversorgung. Aus Verzweiflung haben daher viele nach anderen Einkommensmöglichkeiten gesucht und sich der Ausbeutung durch illegale Arbeit oder Zwangsarbeit, Prostitution und verschiedene kriminelle Aktivitäten, Menschenhandel inbegriffen, ausgesetzt.
Dementgegen hat jeder Mensch das Recht auf »die geeigneten Mittel zu angemessener Lebensführung« und muss in die Lage versetzt werden, sie zu erhalten. Es ist in der Tat notwendig, dass für alle die wirtschaftliche Stabilität gewährleistet wird, um das Übel der Ausbeutung zu verhindern und dem Wucher und der Korruption, die zahlreiche Länder der Welt heimsuchen, entgegenzuwirken wie auch so vielem anderen Unrecht, das sich jeden Tag vor den müden und unaufmerksamen Augen unserer heutigen Gesellschaft ereignet.
Die vermehrt zu Hause verbrachte Zeit hat dazu geführt, dass sich Menschen übermäßig mit Computern und anderen Medien befasst haben. Dies hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die gefährdetsten Personengruppen, insbesondere auf Arme und Arbeitslose. Sie sind eine leichtere Beute für die Cyberkriminalität in ihren ganz entwürdigenden Formen, von Betrug bis hin zu Menschenhandel, zu Ausbeutung durch Prostitution, auch Kinderprostitution, und zu Kinderpornografie.
Die pandemiebedingte Schließung der Grenzen hat zusammen mit der Wirtschaftskrise ebenso verschiedene humanitäre Notlagen verschärft, sowohl in Konfliktgebieten als auch in vom Klimawandel und von der Dürre betroffenen Regionen sowie in Flüchtlings- und Migrantenlagern. Ich denke dabei insbesondere an den Sudan, wohin Tausende von Menschen aus der Region Tigray geflüchtet sind, sowie an andere Länder in Afrika südlich der Sahara oder auch an die Provinz Cabo Delgado in Mosambik, wo viele gezwungen waren, ihren ursprünglichen Lebensraum zu verlassen und sich nun in sehr prekären Verhältnissen befinden. Meine Gedanken gehen auch in den Jemen und nach Syrien, wo neben anderen ernsten Notsituationen ein großer Teil der Bevölkerung von Ernährungsunsicherheit betroffen ist und die Kinder durch Unterernährung ausgezehrt sind.
In einigen Fällen werden humanitäre Krisen durch Wirtschaftssanktionen verschärft, die am Ende meist nicht die politisch Verantwortlichen, sondern vor allem die schwächsten Bevölkerungsschichten treffen. Deshalb sieht der Heilige Stuhl, selbst wenn er die Logik hinter den Sanktionen versteht, sie als nicht wirksam an und hofft auf ihre Lockerung, nicht zuletzt, um die humanitären Hilfen zu ermöglichen, vor allem was Medikamente und medizinisches Gerät betrifft, die in dieser Zeit der Pandemie äußerst notwendig sind.
Die derzeitige Konjunkturlage sollte dementsprechend auch als ein Anlass gesehen werden, den ärmsten Ländern die Schuldenlast zu erlassen oder zumindest zu reduzieren, die faktisch ihre Erholung und volle Entwicklung verhindert.
Auch im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Migranten weiter an, die wegen der Grenzschließungen auf immer gefährlichere Routen ausweichen mussten. Der massive Zustrom führte zudem zu einem Anstieg der Zahl illegaler Zurückweisungen, die oft durchgeführt wurden, um Migranten daran zu hindern, Asyl zu beantragen, was einen Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement) darstellt. Viele werden abgefangen und in Sammel- und Inhaftierungslager zurückgeschickt, wo sie Folter und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind, wenn sie nicht im Meer und bei der Überquerung anderer natürlicher Grenzen den Tod finden.
Die humanitären Korridore, die in den letzten Jahren eingerichtet wurden, tragen sicherlich dazu bei, einige der genannten Probleme anzugehen und viele Leben zu retten. Das Ausmaß der Krise macht es jedoch immer dringlicher, die Ursachen, die zur Migration führen, an der Wurzel zu bekämpfen, und erfordert zugleich eine gemeinsame Anstrengung zur Unterstützung der Erstaufnahmeländer, welche die moralische Verpflichtung, Leben zu retten, übernehmen. In dieser Hinsicht sieht man mit besonderem Interesse den Verhandlungen über das neue Migrations- und Asylpaket der Europäischen Union entgegen. Hierbei ist jedoch festzustellen, dass konkrete politische Maßnahmen und Mechanismen nicht funktionieren werden, wenn sie nicht durch den notwendigen politischen Willen und das Engagement aller Beteiligten, einschließlich der Zivilgesellschaft und der Migranten selbst, gestützt werden.
Der Heilige Stuhl schätzt alle zugunsten der Migranten unternommenen Anstrengungen und unterstützt die Bemühungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) – in diesem Jahr feiert sie ihr 70-jähriges Bestehen – unter voller Achtung der in ihrer Konstitution genannten Werte und der Kultur der Mitgliedsstaaten, in denen die Organisation tätig ist. Ebenso bleibt der Heilige Stuhl als Mitglied des Exekutivkomitees des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) den Grundsätzen des Genfer Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 und des Protokolls von 1967 treu, in denen die rechtliche Definition eines Flüchtlings, seine Rechte und die rechtliche Verpflichtung der Staaten, ihn zu schützen, festgelegt sind.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Welt nicht mehr einen so dramatischen Anstieg der Flüchtlingszahlen erlebt wie heute. Es ist daher dringend notwendig, die Bemühungen zu ihrem Schutz zu verstärken, auch für die Binnenvertriebenen und alle gefährdeten Personen, die vor Verfolgung, Gewalt, Konflikten und Krieg zu fliehen gezwungen sind. In diesem Zusammenhang bringt der Heilige Stuhl, trotz der bedeutenden Anstrengungen der Vereinten Nationen bei der Suche nach konsequenten Lösungen und konkreten Vorschlägen zum Problem der Zwangsvertreibung, seine Besorgnis über die Lage der Vertriebenen in verschiedenen Teilen der Welt zum Ausdruck. Ich beziehe mich vor allem auf die Region Zentralsahel, wo sich die Zahl der Binnenvertriebenen in weniger als zwei Jahren verzwanzigfacht hat.
Die Probleme, die ich bisher genannt habe, weisen auf eine viel tiefere Krise hin, die in gewisser Weise an der Wurzel der anderen liegt und deren dramatische Tragweite gerade durch die Pandemie deutlich gemacht wurde. Es ist die Krise der Politik, die schon seit einiger Zeit viele Gesellschaften betrifft und deren zermürbenden Auswirkungen während der Pandemie zutage getreten sind.
Einer der emblematischen Faktoren dieser Krise ist das Anwachsen der politischen Gegensätze und die Schwierigkeit, wenn nicht gar Unfähigkeit, gemeinsame und abgestimmte Lösungen für die Probleme zu finden, die unseren Planeten heimsuchen. Dieser Trend, den man schon seit einiger Zeit beobachten kann, breitet sich auch in Ländern mit einer langen demokratischen Tradition immer weiter aus. Die Demokratie lebendig zu erhalten ist eine Herausforderung dieses Moments in der Geschichte, die alle Staaten direkt angeht, mögen sie groß oder klein sein, wirtschaftlich fortgeschritten oder auf dem Weg der Entwicklung. In diesen Tagen denke ich besonders an das Volk von Myanmar, dem ich meine Verbundenheit und Nähe bekunde. Der Weg der Demokratisierung der letzten Jahre wurde durch den Staatsstreich vergangene Woche jäh unterbrochen. Dabei wurden einige führende Politiker verhaftet, und ich hoffe, dass sie umgehend freigelassen werden als ermutigendes Zeichen für einen ehrlichen Dialog zum Wohl des Landes.
So stellte im Übrigen Pius XII. in seiner denkwürdigen Radioansprache von Weihnachten 1944 fest: »Seine Meinung sagen über die ihm auferlegten Pflichten und Opfer und nicht gezwungen sein, zu gehorchen, ohne gehört worden zu sein – das sind zwei Rechte des Bürgers, die in der Demokratie, wie schon ihr Name sagt, ihren Ausdruck finden«. Demokratie beruht auf gegenseitigem Respekt, auf der Möglichkeit für alle, zum Wohl der Gesellschaft beizutragen, und auf der Überlegung, dass unterschiedliche Meinungen die Gewalt und Sicherheit der Staaten keineswegs untergraben, sondern in einer ehrlichen Auseinandersetzung gegenseitig bereichern und es ermöglichen, angemessenere Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden. Der demokratische Prozess erfordert, dass ein Weg des inklusiven, friedlichen, konstruktiven und respektvollen Dialogs zwischen allen Gliedern der Zivilgesellschaft in jeder Stadt und Nation beschritten wird. Obschon die Ereignisse auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Kontexten das vergangene Jahr von Ost bis West auch – ich wiederhole – in Ländern mit einer langen demokratischen Tradition geprägt haben, so zeigen sie doch, wie unausweichlich diese Herausforderung ist und dass man von der moralischen und sozialen Verpflichtung, mit einer positiven Haltung an sie heranzugehen, nicht entbunden werden kann. Die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins verlangt, dass individualistische Tendenzen überwunden werden und die Achtung des Rechtsstaats obsiegt. Das Recht ist nämlich die unabdingbare Voraussetzung für die Ausübung jeder Gewalt und muss von den übergeordneten Organen unabhängig von den herrschenden politischen Interessen gewährleistet werden.
Leider schlägt sich die Krise der Politik und der demokratischen Werte auch auf internationaler Ebene nieder. Dies hat Auswirkungen auf das gesamte multilaterale System wie auch die offensichtliche Folge, dass Organisationen, die zur Förderung von Frieden und Entwicklung – auf der Grundlage des Rechts und nicht des „Rechts des Stärkeren“ – konzipiert wurden, ihre Wirksamkeit beeinträchtigt sehen. Sicherlich darf nicht verschwiegen werden, dass im Laufe der letzten Jahre das multilaterale System auch einige Grenzen erkennen ließ. Die Pandemie ist eine Gelegenheit, die nicht vertan werden darf, um über organische Reformen nachzudenken und sie umzusetzen, damit die internationalen Organisationen ihre eigentliche Berufung wiederentdecken, der Menschheitsfamilie zu dienen, um das Leben eines jeden Menschen und den Frieden zu bewahren.
Ein Zeichen der Krise der Politik ist gerade das oft auftretende Widerstreben, Wege zu Reformen einzuschlagen. Man braucht keine Angst vor Reformen haben, auch wenn sie Opfer und nicht selten einen Mentalitätswandel erfordern. Jeder lebendige Körper muss sich ständig reformieren, und in dieser Perspektive sind auch die Reformen zu sehen, die den Heiligen Stuhl und die Römische Kurie betreffen.
Jedenfalls mangelt es nicht an ermutigenden Zeichen wie dem Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrags vor wenigen Tagen und der Verlängerung des Neuen Vertrags zur Verringerung strategischer Waffen (New START) zwischen der Russischen Föderation und den Vereinigten Staaten von Amerika auf weitere fünf Jahre. Zieht man andererseits, wie ich auch in der letzten Enzyklika Fratelli tutti bekräftigt habe, »die Hauptbedrohungen für Frieden und Sicherheit mit ihren vielen Aspekten in dieser multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts in Betracht […], dann kommen einem nicht wenige Zweifel aufgrund der Unangemessenheit nuklearer Abschreckung als wirksamer Antwort auf diese Herausforderungen«. In der Tat kann »eine auf Angst gegründete Stabilität [nicht nachhaltig sein], insofern sie die Angst noch vergrößert und vertrauensvolle Beziehungen zwischen den Völkern untergräbt«.
Die Bemühungen auf dem Gebiet der Abrüstung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen, die trotz Schwierigkeiten und Reserven intensiviert werden müssen, sollten gleichfalls in Bezug auf chemische Waffen und gegenüber konventionellen Waffen durchgeführt werden. Es gibt zu viele Waffen auf der Welt. »Deshalb fordern Gerechtigkeit, gesunde Vernunft und Rücksicht auf die Menschenwürde dringend, dass der allgemeine Rüstungswettlauf aufhört [und dass die] bereits zur Verfügung stehenden Waffen auf beiden Seiten und gleichzeitig vermindert werden«, wie der heilige Johannes XXIII. im Jahr 1963 sagte. Während mit der weiteren Verbreitung von Waffen die Gewalt auf allen Ebenen zunimmt und wir um uns herum eine von Kriegen und Spaltungen zerrissene Welt sehen, verspüren wir ein immer größeres Bedürfnis nach Frieden, nach einem Frieden, der »nicht nur die Abwesenheit von Krieg [ist], sondern […] ein sinnerfülltes Leben, das in persönlicher Erfüllung und im brüderlichen Austausch mit anderen gelebt wird und darauf ausgerichtet ist«.
Wie sehr wünschte ich mir, dass 2021 das Jahr ist, in dem endlich der Syrien-Konflikt, der vor zehn Jahren begann, ein Ende findet! Dazu bedarf es eines neuen Interesses auch seitens der internationalen Gemeinschaft, ehrlich und mutig die Ursachen des Konflikts anzugehen und nach Lösungen zu suchen, durch die alle unabhängig von ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit als Bürger zur Zukunft des Landes beitragen können.
Mein Wunsch nach Frieden gilt selbstverständlich auch dem Heiligen Land. Gegenseitiges Vertrauen zwischen Israelis und Palästinensern muss die Grundlage für einen erneuten und entschlossenen direkten Dialog zwischen den Parteien sein, um einen Konflikt zu lösen, der schon zu lange andauert. Ich fordere die internationale Gemeinschaft auf, diesen direkten Dialog zu unterstützen und zu erleichtern, ohne zu meinen, Lösungen auferlegen zu können, die nicht das Wohl aller im Blick haben. Palästinenser und Israelis – dessen bin ich mir sicher – hegen beide den Wunsch, in Frieden leben zu können.
Ebenso hoffe ich auf ein neues politisches Engagement auf nationaler und internationaler Ebene zur Förderung der Stabilität des Libanon, der eine innere Krise durchmacht und Gefahr läuft, seine Identität zu verlieren und noch stärker in die Spannungen dieser Region verwickelt zu werden. Es ist notwendiger denn je, dass dieses Land seine einzigartige Identität bewahrt, auch als Gewähr für einen pluralen, toleranten und vielfältigen Nahen Osten, in dem die christliche Präsenz ihren eigenen Beitrag leisten kann und nicht auf eine zu schützende Minderheit reduziert wird. Die Christen bilden das historische und soziale Bindegewebe des Libanon, und es muss ihnen die Möglichkeit zugesichert werden, durch die vielseitigen Bildungs-, Gesundheits- und Wohltätigkeitswerke weiterhin für das Wohl des Landes wirken zu können, zu dessen Gründern sie gehören. Eine Schwächung der christlichen Gemeinschaft birgt das Risiko, das innere Gleichgewicht und den Libanon selbst zu zerstören. Unter diesem Gesichtspunkt sind auch die Fragen rund um die Präsenz der syrischen und palästinensischen Flüchtlinge zu behandeln. Darüber hinaus besteht ohne eine schnelle wirtschaftliche Erholung und einen raschen Wiederaufbau die Gefahr eines Bankrotts des Landes, was gefährliche fundamentalistische Strömungen zur Folge haben könnte. Deswegen ist es notwendig, dass alle politischen und religiösen Führer ihre Eigeninteressen zurückstellen und sich dem Ziel der Gerechtigkeit und der Durchführung echter Reformen zum Wohle der Bürger verpflichten. Dazu gehört, dass sie transparent handeln und die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen.
Frieden wünsche ich auch für Libyen, das ebenfalls unter einem mittlerweile langen Konflikt leidet, und ich hege die Hoffnung, dass das jüngste „Libysche Politische Dialogforum“, das im November letzten Jahres unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen in Tunesien stattfand, tatsächlich den ersehnten Versöhnungsprozess im Land einleiten können wird.
Auch andere Regionen der Welt geben Anlass zur Sorge. Ich beziehe mich in erster Linie auf die politischen und sozialen Spannungen in der Zentralafrikanischen Republik sowie auf die Spannungen in Lateinamerika im Allgemeinen, deren Wurzeln in der großen Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Armut liegen, welche die Würde des Einzelnen verletzen. Ebenso gilt meine besondere Aufmerksamkeit der Verschlechterung der Beziehungen auf der koreanischen Halbinsel, die in der Zerstörung des innerkoreanischen Verbindungsbüros in Kaesŏng gipfelte; ferner der Lage im Südkaukasus, wo mehrere schwelende Konflikte fortbestehen, von denen einige im letzten Jahr wieder aufgeflammt sind und die Stabilität und Sicherheit der gesamten Region bedrohen.
Schließlich kann ich eine weitere schwere Geißel unserer Zeit nicht unerwähnt lassen – den Terrorismus. Jedes Jahr fordert er zahlreiche Opfer unter der wehrlosen Zivilbevölkerung auf der ganzen Welt. Dieses Übel erfuhr seit den 1970er Jahren einen Anstieg und fand in den Anschlägen vom 11. September 2001 in den Vereinigten Staaten von Amerika einen Höhepunkt, als fast dreitausend Menschen getötet wurden. Leider hat die Zahl der Attentate in den letzten zwanzig Jahren zugenommen und verschiedene Länder auf allen Kontinenten betroffen. Ich beziehe mich hier insbesondere auf den Terrorismus vor allem in Afrika südlich der Sahara, aber auch in Asien und Europa. Ich denke an alle Opfer und an ihre Familien, die durch blinde Gewalt, die durch ideologische Verzerrungen der Religion motiviert ist, geliebte Menschen verloren haben. Zudem sind die Ziele solcher Angriffe oft gerade Gotteshäuser mit zum Gebet versammelten Gläubigen. In diesem Zusammenhang möchte ich unterstreichen, dass der Schutz von Gottesdienststätten direkt aus der Verteidigung der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit folgt und eine Pflicht für die zivilen Behörden darstellt, unabhängig von politischer Couleur oder Religionszugehörigkeit.
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
gegen Schluss meiner Ausführungen möchte ich noch auf eine letzte Krise eingehen, die vielleicht die schwerwiegendste von allen ist: die Krise der menschlichen Beziehungen, die Ausdruck einer allgemeinen anthropologischen Krise ist, welche die Vorstellung von der menschlichen Person und ihre transzendente Würde betrifft.
Die Pandemie, die uns zu langen Monaten der Isolation und oft auch der Einsamkeit gezwungen hat, ließ das Bedürfnis, das jeder Mensch nach menschlichen Beziehungen hat, deutlich werden. Ich denke vor allem an die Studierenden, die nicht regelmäßig zur Schule oder zur Universität gehen konnten. »Überall wurde versucht, mit digitalen Unterrichtsangeboten schnell darauf zu reagieren. Dies hat nicht nur eine ausgeprägte Ungleichheit zwischen den pädagogischen und technologischen Möglichkeiten ans Licht gebracht, sondern bei vielen Kindern und Jugendlichen aufgrund des Lockdowns und zahlreicher anderer bereits bestehender Mängel auch einen Rückstand im natürlichen pädagogischen Entwicklungsprozess ergeben«. Darüber hinaus hat die Zunahme des Fernunterrichts auch zu einer größeren Abhängigkeit der Kinder und Jugendlichen vom Internet und generell von den Formen virtueller Kommunikation geführt. Dadurch sind sie aber auch schutzloser und werden verstärkt kriminellen Online-Aktivitäten ausgesetzt.
Wir erleben eine Art „Bildungskatastrophe“, vor der wir zum Wohl der künftigen Generationen und der Gesellschaft insgesamt nicht untätig bleiben dürfen. »Heute bedarf es eines Neubeginns für ein Bildungsengagement, das alle Glieder der Gesellschaft miteinbezieht«, denn Bildung ist »das natürliche Gegenmittel zur individualistischen Kultur […], die bisweilen in einen wahren Kult des Ich und in die Vorherrschaft der Gleichgültigkeit ausartet. Unsere Zukunft darf nicht von der Spaltung, von der Verarmung des Denkens und der Vorstellungskraft, des Zuhörens, des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses gekennzeichnet sein«.
Die langen Zeiten des Lockdowns erlaubten es ihnen aber auch, mehr Zeit mit ihren Familien zu verbringen. Für viele war es ein wichtiger Moment, die Beziehungen mit ihren Familienangehörigen neu zu entdecken. Andererseits gilt, dass »Ehe und Familie zu den kostbarsten Gütern der Menschheit zählen« und die Wiege jeder Zivilgesellschaft bilden. Der heilige Johannes Paul II. – im Vorjahr haben wir den 100. Geburtstag dieses großen Papstes gefeiert – rief in seiner wertvollen Lehre über die Familie in Erinnerung: »Angesichts der weltweiten Dimension, die die verschiedenen sozialen Probleme heute aufweisen, erfährt die Familie, wie sich ihr Auftrag für die Entwicklung der Gesellschaft in bisher nicht gekannten Ausmaßen erweitert«. Die Familien kommen diesem Auftrag vor allem dadurch nach, dass »sie ihren Kindern das Beispiel eines Lebens geben, das sich auf die Werte der Wahrheit und Freiheit, der Gerechtigkeit und der Liebe gründet«. Doch nicht alle konnten im eigenen Zuhause in Ruhe leben, und manchmal kam es beim Zusammenleben zu häuslicher Gewalt. Ich appelliere an alle, an die Behörden und die Zivilgesellschaft, die Opfer von Gewalt in der Familie zu unterstützen. Wir wissen leider, dass es die Frauen sind, oft zusammen mit ihren Kindern, die den höchsten Preis zahlen.
Die erforderlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus hatten Auswirkungen auch auf verschiedene Grundfreiheiten, einschließlich der Religionsfreiheit aufgrund der Einschränkung der Gottesdienste und der Bildungs- und Wohltätigkeitsarbeit der Religionsgemeinschaften. Es darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass die religiöse Dimension einen grundlegenden Aspekt der menschlichen Person und der Gesellschaft darstellt, der nicht abgewertet werden darf; und man darf nicht vernachlässigen, dass man bei allem Bestreben, Menschenleben vor der Ausbreitung des Virus zu schützen, die spirituelle und moralische Dimension des Menschen gegenüber der körperlichen Gesundheit nicht für zweitrangig halten darf.
Die Freiheit der Religionsausübung ist zudem kein Zusatz zur Versammlungsfreiheit, sondern rührt wesentlich vom Recht auf Religionsfreiheit her, welches das erste und grundlegende Menschenrecht ist. Daher muss sie wie die Gesundheit und die körperliche Unversehrtheit von den zivilen Behörden geachtet, geschützt und verteidigt werden. Im Übrigen kann eine gute Pflege des Körpers nie von der Pflege der Seele absehen.
In seinem Schreiben an Cangrande della Scala hebt Dante Alighieri hervor, dass es das Ziel seiner Göttlichen Komödie ist, »diejenigen, die dieses Leben leben, aus dem Zustand des Elends zu befreien und zu einem Zustand des Glücks zu führen«. Dies ist, wenngleich mit unterschiedlichen Rollen und in unterschiedlichen Bereichen, ebenso die Aufgabe sowohl der religiösen als auch der zivilen Autoritäten. Die Krise der menschlichen Beziehungen und folglich auch die anderen von mir genannten Krisen können nur überwunden werden, wenn die transzendente Würde jeder menschlichen Person, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, geachtet wird.
Mit der Erwähnung des großen florentinischen Dichters, dessen 700. Todestag in diesem Jahr begangen wird, denke ich gerne auch besonders an das italienische Volk, das als erstes in Europa mit den schwerwiegenden Folgen der Pandemie zu tun hatte. Ich möchte es auffordern, sich von den gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht entmutigen zu lassen, sondern gemeinsam am Aufbau einer Gesellschaft zu arbeiten, in der niemand ausgesondert oder vergessen wird.
Liebe Botschafterinnen und Botschafter,
im Jahr 2021 haben wir keine Zeit zu verlieren. Und wir werden sie insofern nicht vergeuden, als wir es verstehen, mit vollem Einsatz zusammenzuarbeiten. In diesem Sinne glaube ich, dass die Geschwisterlichkeit das wahre Heilmittel gegen die Pandemie und gegen die vielen Übel ist, die uns getroffen haben. Geschwisterlichkeit und Hoffnung sind wie Medikamente, welche die Welt heute wie Impfstoffe braucht.
Ihnen und Ihren Ländern erbitte ich reiche Gaben des Himmels in dem Wunsch, dass dieses Jahr ein günstiges sein möge, um die geschwisterlichen Bande zwischen der ganzen Menschheitsfamilie zu festigen. Vielen Dank!