9. April 2021
Der Historiker Thomas Großbölting hat sich in einem Interview mit dem Sender HR 2 – ein Gespräch, das thematisch hauptsächlich der Untersuchung des sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster galt – dafür ausgesprochen, das Gercke-Gutachten für das Erzbistum Köln nicht allein mit einer „juristischen Scheuklappe“ zu betrachten. Den nicht erfolgten Rücktritt des an den Missbrauchsvorfällen und deren Vertuschung juristisch schuldlosen Kardinal Rainer Maria Woelki habe der Historiker offensichtlich als „indiskutabel“ bezeichnet, hat das Internetportal der deutschen Bischofskonferenz berichtet. Man muss sich die Chronik der Vorgänge im Erzbistum Köln und darüber hinaus vielleicht einmal in großer Breite vergegenwärtigen: Eine Person wird massiv beschuldigt, an der Vertuschung sexuellen Missbrauchs beteiligt gewesen zu sein. Über die Anschuldigungen wird umfassend berichtet. Im Erzbistum selbst gibt es Proteste. Am 11.12.2020 hat Bischof Dr. Bätzing mit Blick auf die Missbrauchsaufarbeitung in Köln von einem „regelrechten Desaster“ gesprochen, zugleich Kardinal Woelki aber den Willen zur Aufklärung ausdrücklich zuerkannt. Kardinal Reinhard Marx sagte, dass die Entscheidung, ein zweites Kölner Gutachten zu erstellen, bei gleichzeitiger Nichtpublikation des WSW-Gutachtens, „verheerend für uns alle“ gewesen sei. Inwiefern eigentlich? So fragen sich bis heute manche Katholiken und übrigens nicht wenige Säkulare. Den Rücktritt von Kardinal Rainer Maria Woelki forderten in diesem Jahr Kölner Priesterinitiativen, Laiengremien und Kommentatoren aus der Medienwelt – bevor die Schuldfrage im Erzbistum Köln geklärt war.
Seit dem 18. März 2021 liegt bekanntlich das Gercke-Gutachten vor, in das Münchner WSW-Gutachten kann nach Anmeldung in Köln Einsicht genommen werden. Jedermann kann das sorgfältig erarbeitete, differenzierte und juristisch argumentierende Schriftstück der Kanzlei Gercke lesen – es ist frei zugänglich auf der Homepage des Erzbistums Köln. Die Lektüre macht sprachlos. Es wird von erschreckenden Verbrechen, skandalösen Tatbeständen und Vertuschungspraktiken berichtet. Zugleich bin ich sehr dankbar dafür, wenn in juristischen Texten konsequent juristisch – und in theologischen Traktaten konsequent theologisch argumentiert wird. Rechtliche Probleme müssen in einem Rechtsstaat noch immer rechtlich geklärt werden und entsprechende Konsequenzen nach sich ziehen. Zudem lässt sich weiterhin zwischen Schuld und Unschuld unterscheiden.
Natürlich mögen etliche Zeitgenossen weiterhin den Amtsverzicht von Kardinal Woelki, dessen Unschuld gutachterlich erwiesen ist, für geboten halten, erhoffen, erwarten oder fordern. Solche Auffassungen sind – ausdrücklich – vom grundgesetzlich garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung geschützt und damit als Beitrag zu Diskussionen gestattet. Und das ist vollkommen richtig so. Doch Kardinal Woelki ist unschuldig. Vielleicht habe ich unbemerkt „juristische Scheuklappen“ auf? Mag sein. Doch ich kann Forderungen nach einem Rücktritt von Kardinal Woelki weder nachvollziehen noch verstehen – und Sie?
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Bätzing schloss einen Rücktritt aus, für den Fall, dass er in der Missbrauchsaufarbeitung einen Fehler gemacht habe. Mit seinem Rücktritt sei "niemandem geholfen", da er sich schon seit langem für eine "lückenlose Aufklärung" stark mache.https://t.co/nhvXYKneaS via @CNAdeutsch
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