14. Juni 2022
Die Studie zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster, erschienen im Verlag Herder, ist kostenfrei öffentlich einsehbar – und die Resonanz darauf wird groß sein. Die Lektüre erfordert Zeit.
Niemand, der klaren Sinnes ist, bestreitet die erschreckenden Dimensionen des Missbrauchsskandals, aber nicht wenige bleiben skeptisch gegenüber Ansichten und Forderungen, die jenseits der juristischen Aufklärung liegen und über die strafrechtlichen Konsequenzen dieser schändlichen Verbrechen hinausreichen. Die Münsteraner Studie macht zudem deutlich: Die katholische Kirche wird vielfach nur als Verwaltungsapparat, als Institution oder als Behörde wahrgenommen – auch von Katholiken. Zugleich bietet eine solche einseitige Sicht auf die weltliche Gestalt einer Organisation Möglichkeiten, Verantwortung und Haftung an ein anonymes Kollektiv oder strukturelle Gegebenheiten zu delegieren. In der Studie lesen wir also: „Die Schuld der Kirche gegenüber den Betroffenen und deren Leid ist nach wie vor unabgegolten.“ (S. 545) Ganz schlicht denke ich darüber nach und komme zu folgenden Überlegungen: Eine betroffene Person mag in der Schule unerfreuliche Erfahrungen gemacht haben, aber dafür verantwortlich sind konkrete einzelne Personen, die vielleicht boshaft, heimtückisch oder auch diabolisch gehandelt haben. Auch jene, die als Amtsträger dann nicht angemessen agierten oder Vorfälle vertuschten, haben Schuld auf sich geladen. Die Institution kann weltlich reformiert werden, aber schuldig bleiben die Einzelnen. Weiterhin gedacht: Eine betroffene Person mag im universitären oder beruflichen Alltag übergriffigen und grenzüberschreitenden Verhaltensweisen von Vorgesetzten, Schulmeistern oder anderen Menschen ausgesetzt gewesen sein – und niemand hat der Person geglaubt. Wer aber trägt die Schuld an den Taten? Die Kirche ist keine Haftungsgemeinschaft – und sie kann weder als Sakrament des Heils noch als Institution schuldig werden. Die Schuldigen, also die Täter, müssen sich verantworten, auf Erden und – daran glaube ich – vor Gott, denn wir alle gehen auf das Gericht zu, ungeachtet ob wir daran glauben oder nicht.
Die Autoren der Studie formulieren weiter: „Es sind der Zentralismus der Institution und die Sakralisierung ihrer Machtstrukturen, es ist die Vorstellung vom Priester als ›heiligem Mann‹ und es sind die Unwahrhaftigkeit, Bigotterie und die internen Sprachblockaden, die aufgrund einer zunehmend lebensfremden Sexualmoral im Katholischen Einzug gehalten haben und damit den Missbrauch ermöglichen wie auch Vertuschung begünstigen. Wer die Betroffenen nur bemitleidet, ihnen lediglich Geld als Form der Anerkennung zur Verfügung stellt, sich in ebenso pathetischen wie unkonkreten Schuldbekenntnissen übt, ansonsten aber diese strukturellen Bedingungen als unabänderlich und von Gott gegeben sakralisiert, wird den Skandal des sexualisierten Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche nicht im positiven Sinne aufarbeiten, sondern auf Dauer stellen. Der sexuelle Missbrauch und der Machtmissbrauch in der katholischen Kirche sind noch lange nicht zu Ende.“ (S. 545 f.) Es gibt viele Katholiken, die die aus meiner unmaßgeblichen Sicht als lebensfreundlich verstandene katholische Sexualmoral so begreifen, wie das hier ausgeführt wird. Diese Meinung kann man in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat natürlich haben und öffentlich vertreten. Jeder Mensch, der das möchte, darf die katholische Sexualmoral ablehnen und dafür beliebige Gründe anführen. Wer diese Lehre ablehnt, stellt sich eindeutig gegen das Zweite Vatikanische Konzil. Darum möchte ich zur Lektüre von „Gaudium et spes“ ermutigen. In Abschnitt 49 heißt es über die eheliche Liebe: „Diese eigentümlich menschliche Liebe geht in frei bejahter Neigung von Person zu Person, umgreift das Wohl der ganzen Person, vermag so den leib-seelischen Ausdrucksmöglichkeiten eine eigene Würde zu verleihen und sie als Elemente und besondere Zeichen der ehelichen Freundschaft zu adeln. Diese Liebe hat der Herr durch eine besondere Gabe seiner Gnade und Liebe geheilt, vollendet und erhöht. Eine solche Liebe, die Menschliches und Göttliches in sich eint, führt die Gatten zur freien gegenseitigen Übereignung ihrer selbst, die sich in zarter Zuneigung und in der Tat bewährt, und durchdringt ihr ganzes Leben; ja gerade durch ihre Selbstlosigkeit in Leben und Tun verwirklicht sie sich und wächst. Sie ist viel mehr als bloß eine erotische Anziehung, die, egoistisch gewollt, nur zu schnell wieder erbärmlich vergeht.“ Das ist die Lehre der Kirche, die weder lebensfremd noch leibfeindlich ist – und es ist ein Skandal, dass die katholische Sexualmoral oft bis in den Raum der Kirche eher beschämt versteckt als verkündet wird. Um es noch einmal zu wiederholen: Sexueller Missbrauch muss grundsätzlich aufgeklärt und strafrechtlich sanktioniert werden – und nach meiner Meinung sollte die Verjährungsfrist für diese Verbrechen aufgehoben werden. Wir alle könnten heute auch weltoffen und durch das Zeugnis des eigenen Lebens auf die Schönheit und die Lebensfreundlichkeit der katholischen Sexuallehre hinweisen. Beispielhaft tritt etwa der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer für die Lehre der Kirche ein: „Wer heute nach wie vor meint, vor einer vermeintlichen kirchlichen Verbotsmoral warnen zu müssen, gleicht einem Katastrophenmelder, der nach dem Löschzug der Feuerwehr ruft, während in Wahrheit eine Überschwemmung droht. Es geht doch darum, Orientierungshilfen zu geben, die geeignet sind, den modernen Menschen nicht zuletzt vor den negativen Auswirkungen einer zweifellos vorhandenen Hypersexualisierung unserer Gesellschaft zu bewahren.“
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.
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