7. November 2022
Erinnern Sie sich noch an Europas christliche Grundlagen? Mehrheitlich – 324 Ja-Stimmen, 155 Nein-Stimmen und 38 Enthaltungen – hatten sich die Abgeordneten des Europäischen Parlaments am 7. Juli 2022 säkular, selbstbewusst und postmodernistisch-emanzipatorisch für ein „Recht“ auf Abtreibung ausgesprochen, das in die EU-Charta der Grundrechte aufgenommen werden solle: „Jeder hat das Recht auf sichere und legale Abtreibung.“ Zu früheren Zeiten hätte eine solche parlamentarische Mehrheitsmeinung Hirtenworte hervorgerufen. Aber in heutiger Zeit werden solche skandalösen Forderungen vielleicht auch unter Katholiken differenziert beurteilt. Wer weiß das schon.
Viele Katholiken erinnern sich noch an die Worte der ZdK-Präsidentin Dr. Irme Stetter-Karp und ihren Wunsch nach flächendeckenden Abtreibungsangeboten im Sommer und die Reaktionen darauf. Wie viele Bischöfe in Deutschland haben eigentlich gegen dieses Statement unmissverständlich und ohne Umschweife protestiert? Christen aller Konfessionen dürfen sich nicht wundern, dass Andersgläubige und auch viele humanistisch gesinnte Agnostiker in Deutschland und der Welt schon lange nicht mehr verstehen, was im „alten Europa“ vor sich geht.
Vor wenigen Tagen trafen sich die G7-Außenminister in Münster, im Rathaus. Vorab hatten sich das Auswärtige Amt und die Stadt darüber verständigt, dass der Friedenssaal für die Begegnung ein wenig anders gestaltet werden sollte. Die „Tagesschau“ gab später Auskunft darüber: „Ein Sprecher des Auswärtigen Amts sagte, das Kreuz sei im Zuge einer Umgestaltung des Saals für das G7-Ministertreffen entfernt worden. Zur Umgestaltung hätten auch anderes Mobiliar, eine andere Beleuchtung und ein Teppich gehört.“
Das Kreuz ist – weltlich verstanden – ein Dekorationsartikel, ein Stück Mobiliar, ähnlich zu qualifizieren wie Lampen und Fußbodenbeläge. Die Außenministerin sei nicht damit befasst gewesen, das Abhängen des Kreuzes sei also – so der Sprecher – „keine Entscheidung auf politischer Ebene gewesen“. Die Politikerin bedauerte den Vorfall. Die „Tagesschau“ zitiert ihre Aussage: „Das war keine bewusste Entscheidung, erst recht keine politische Entscheidung, sondern offensichtlich eine organisatorische Entscheidung.“ Das beschreibt realistisch, wie gedankenlos, selbstverständlich und routiniert das Kreuz des Herrn einfach mal so abgehängt werden kann.
Vor mehr als zehn Jahren wurde in „Dienst am Wort“ ein Vorschlag für eine Karfreitagspredigt unterbreitet – mit Blick auf die 1943 erschienene Novelle von Reinhold Schneider „Die Schächer ohne den Herrn“: „In ihr wird eben dieses eindrückliche Bild vor Augen geführt, das stehen blieb, als Bilderstürmer in Flandern 1566 ‚sich auch an einer mächtigen alten Kreuzigungsgruppe vergriffen und das mittlere Kreuz umstürzten, während sie die Kreuze der Schächer stehen ließen … So entstand dieses Sinnbild, das der Menschengeist vielleicht nicht hätte ersinnen können: die Schächer ohne den Herrn. Eine furchtbare Lücke klaffte zwischen den beiden Kreuzen; nun war auch der Reumütige verloren, dem der Herr das Paradies verheißen hatte; denn der Herr, der ihn dahin führen wollte, war ihm entrissen. Und in welcher Verlorenheit stand das Kreuz des Lästerers! Der Mittler war verschwunden, die Mitte war leer; vergebens blickte der eine zur Höhe, kehrte sich der andere verkrampften Leibes zur Erde.‘“ Die Schächer werden im Friedenssaal des Münsteraner Rathauses nicht gezeigt – doch die eine oder der andere mag sich vielleicht von innen her in dem guten Schächer am Kreuz wiederentdecken.
Vielleicht haben auch Gäste aus der G7-Konferenz Ausschau gehalten? Wer vermag das zu wissen? Vielleicht hätte das Kreuz jemanden doch bewegt oder an die eigene, längst verloren geglaubte Sehnsucht nach Gott erinnert? Wir wissen es nicht, aber wir wissen eines nun sehr genau: In Deutschland werden Kreuze abgehängt – „aus organisatorischen Gründen“.
Ich kann nur den Kopf darüber schütteln und freimütig bekennen: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. Ja, es ist töricht und ganz leicht, Kreuze abzuhängen – in Münster und anderswo. Aber der Herr wird wiederkommen. Auch zu jenen, die sein Kreuz abgehängt oder sich von Ihm abgewendet haben. Und zu jenen, die verständnisvoll dazu nicken oder am liebsten nichts davon wissen würden.
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.