6. Januar 2023
Wortlaut der Predigt von Kardinal Kurt Koch am Hochfest der Erscheinung des Herrn am Campo Santo Teutonico in Rom:
„Verweile doch, o Augenblick, du bist so schön.“ Diese Worte pflegen Menschen zu sprechen, wenn sie bei Liebesbeziehungen mitten im Strudel der Zeit Oasen der Ewigkeit erleben dürfen und deshalb wünschen, dass die Zeit stehen bleibt. Indem sie sich gegenseitig in die Augen blicken, möchten sie am liebsten den Augen-Blick – im tiefen Doppelsinn dieses Wortes – festhalten. Einen solchen Augen-Blick haben gewiss auch die Sterndeuter aus dem Osten erfahren, als sie das verheissene Kind in der Krippe in Betlehem gefunden haben. Von ihnen heisst es im Evangelium ganz einfach und doch bedeutungsvoll: „Da fielen sie nieder und huldigten ihm.“ Dass die Sterndeuter in die Knie gehen und anbeten, kann nur einen Grund haben: Sie haben erkannt, dass sie im Kind in der Krippe dem Heiligen begegnet sind. Vor dem Heiligen ist aber nur die Anbetung die geziemende Haltung.
Grundhaltung der Anbetung
Dass der christliche Glaube seine Herzmitte in der Anbetung Gottes hat, ist die Botschaft des heutigen Hochfestes der Erscheinung des Herrn, das in der griechischen Sprache „Epiphania“ heisst, Erscheinung des Lichtes Gottes und damit seiner Heiligkeit in der Welt der Menschen. Dass im Kind in der Krippe das Heilige selbst gegenwärtig ist, dies bringt der Evangelist Matthäus auf eindrückliche Weise dadurch zum Ausdruck, dass die Sterndeuter aus dem Osten vor dem Kind in der Krippe niederfallen und ihm huldigen, vor ihm in die Knie gehen und es anbeten. Dieselbe Bewegung der Anbetung werden am Ende desselben Evangeliums die Jünger vollziehen, wenn sie vor dem Auferstandenen niederfallen und ihn anbeten. Das Matthäusevangelium beginnt mit Anbetung und endet mit Anbetung. Wie die ganze Weihnachtsgeschichte des Matthäus auf die Anbetung des Kindes in der Krippe durch die Sterndeuter hinausläuft, so zielt das ganze Matthäusevangelium schliesslich auf die Anbetung des Auferstandenen durch die Jünger.
Darin leuchtet bereits das Geheimnis der Kirche auf. Was könnte denn die Kirche im Tiefsten anderes sein als die Gemeinschaft derjenigen Menschen, die das Kommen Gottes in unsere Welt glauben und ihn anbeten, die in ihm das Licht ihres Lebens finden und die in der Taufe das Geschenk der göttlichen Erleuchtung empfangen haben? Anbetung ist deshalb der Ernstfall des Glaubens und das Lebenselixier des kirchlichen Lebens und überhaupt die Grundhaltung des Menschen vor Gott. Dass Anbetung nicht nur notwendig, sondern geradezu lebenswichtig ist, dies hat ein grosser Glaubenszeuge unserer Kirche, nämlich Pater Alfred Delp, der am 2. Februar 1945 von den Nationalsozialisten ermordet worden ist, mit den Worten ausgedrückt: „Brot ist wichtig, die Freiheit ist wichtiger, am wichtigsten aber ist die ungebrochene Treue und die unverratene Anbetung.“
Wenn Anbetung das Wichtigste ist, dann muss es zu denken geben, dass dieses Wort in der heutigen Zeit – und teilweise sogar in der Kirche – zu einem arg unmodernen Wort, wenn nicht gar zu einem Fremdwort geworden ist. Auf das erste Zusehen hin ist dies sogar verständlich. Denn Anbetung bedeutet, dass wir Menschen vor Gott in die Knie gehen, und zwar im buchstäblichen Sinn. In die Knie zu gehen, dies empfindet der heutige Mensch aber weithin als Entwürdigung oder gar als Demütigung, gleichsam als Sabotage seines eigenen Ich. Der heutige Mensch hat vielmehr gelernt, den aufrechten Gang zu lieben, und er hat Angst, sein Rückgrat zu verlieren. Und dies durchaus mit Recht; denn in der Welt muss man „den Mann“ und „die Frau“ stellen, in der Welt darf man in der Tat vor niemandem in die Knie gehen, und in der Welt ist nichts und niemand anzubeten.
Ehrfurcht vor dem Heiligen
Die Anbetung Gottes aber schenkt die umgekehrte heilsame Erfahrung: Nur wer ein starkes Rückgrat hat, kann sich tief bücken, weil er dankbar erspürt, dass er seinen aufrechten Gang gerade Dem verdankt, vor dem er in die Knie geht und Den er anbetet. Den aufrechten Gang in der Welt lernt der glaubende Mensch nur im Kniefall vor Gott. Denn er weiss, dass, wenn wir die Grösse Gottes bestaunen, der Mensch gerade nicht klein, sondern ebenfalls gross gemacht wird. Die Anbetung Gottes führt den Menschen deshalb zu seiner wahren Grösse, wie Papst Johannes XXIII. zu sagen pflegte: „Der Mensch ist nie so gross, wie wenn er kniet.“
Es ist erfreulich, dass diese Überzeugung von modernen Denkern, von denen wir es zunächst nicht erwarten würden, geteilt wird. Angesichts der uns Menschen heute besonders in Wissenschaft und Technik zugewachsenen Möglichkeiten und dementsprechend auch der Verantwortung schreibt der aus dem Judentum stammende Philosoph Hans Jonas: „Es ist die Frage, ob wir ohne die Wiederherstellung der Kategorie des Heiligen, die … zerstört wurde, eine Ethik haben können, die die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd hinzuzuerwerben und auszuüben beinahe gezwungen sind.“ Der Philosoph erblickt also das grösste Problem der heutigen Zeit in der Zerstörung des Heiligen. Denn wenn es zu den Zeichen der Zeit gehört, dass der Mensch meint, aus eigener Kraft leben, alles selbst gestalten und sogar den Menschen selbst herstellen zu können, dann wird der Mensch selbst zum Produkt. Der Mensch ist dann nicht mehr ein Geschenk der Natur und darin des Schöpfergottes, sondern sein eigenes Produkt, bei dem das Heilige keinen Ort mehr hat. Wer es dennoch wagt, auf die in Gott gründende Unantastbarkeit und Heiligkeit des Lebens hinzuweisen, wird bald als Feind der modernen Kultur, als Feind von Wissenschaft und Forschung und als Feind des grenzenlosen Marktes stigmatisiert. Demgegenüber muss es zu denken geben, dass Hans Jonas neue Ehrfurcht vor dem Heiligen und damit Unverfügbaren und Unverletzlichen einklagt und von ihr eine Kurskorrektur in der heutigen Gesellschaft erwartet.
Gerade in der heutigen Zeit, in der das Heilige immer mehr verloren zu gehen droht, brauchen wir neue Ehrfurcht, die dem Heiligen Raum gibt, wie sie in der Anbetung Gottes freigesetzt wird. In ihr öffnet sich der Raum des Heiligen, um das Heilige in das alltägliche Leben hinein strömen zu lassen. Weil der anbetende Mensch das Heilige in der Anbetung lebendig hält, kann er es auch im alltäglichen Leben wieder verlebendigen. Insofern führt die Anbetung Gottes zu einer neuen Achtsamkeit dem Leben und der Schöpfung gegenüber. Solche Ehrfurcht einzuüben ist die besondere Sendung der Kirche, wenn sie sie vom heutigen Hochfest her versteht. Es gibt mir jedenfalls zu denken, dass ausgerechnet Eugen Ionesco, der Begründer des absurden Theaters und zugleich ein leidenschaftlich suchender Zeitgenosse, unserer heutigen Kirche nichts weniger vorgeworfen hat als die Versuchung zur Verweltlichung und Anbiederung an die Welt, die ihre irdische Wanderschaft verdrängt und die Ionesco als jammervoll, mittelmässig, geistlos und dumm bezeichnete. Demgegenüber betonte er in der Leidenschaft eines sinndurstigen Menschen: „Wir brauchen das Ausserzeitliche, denn was ist Religion ohne das Heilige? Es bleibt uns Nichts, nichts Solides, alles ist in Bewegung. Wir indessen brauchen einen Felsen.“
Anbetung als Ernstfall des Christusglaubens
Ja, wir brauchen einen Felsen, den wir nur im Glauben an Jesus Christus finden können. Auch dies zeigen uns die Sterndeuter aus dem Osten. Denn sie sind in Bethlehem nur deshalb in die Knie gegangen, weil sie im Kind in der Krippe nicht nur ein Kind wahrgenommen haben, sondern weil sie in ihm Gott selbst begegnet sind. Damit wird ein noch tieferer Grund dafür sichtbar, dass die Anbetung dem Menschen und selbst dem Christen heute manchmal schwer fällt: Viele Menschen und Christen lassen sich auch heute durchaus berühren von allen menschlichen Dimensionen an Jesus von Nazareth; ihnen bereitet aber das Glaubensbekenntnis, dieser Jesus sei der eingeborene Sohn Gottes, und insofern der kirchliche Christusglaube Mühe.
Selbst in der Kirche will es heute oft nicht mehr gelingen, im Menschen Jesus das Antlitz des Sohnes Gottes selbst wahrzunehmen und in ihm nicht einfach einen – wenn auch hervorragenden und besonders guten – Menschen zu sehen. Mit diesem Glaubensbekenntnis aber steht und fällt der christliche Glaube. Denn wenn Jesus, wie heute viele annehmen, nur ein Mensch gewesen wäre, dann muss seine Anbetung verstummen. Wenn Jesus nur ein Mensch gewesen wäre, dann wäre er vor allem unwiderruflich in die Vergangenheit zurückgetreten; und nur unser fernes Erinnern könnte ihn dann mehr oder weniger deutlich in unsere Gegenwart bringen. So aber könnte Jesus nicht jenes Licht sein, das in die Lebensnacht von uns Menschen kommt und uns aufsucht und heimsucht, um nicht nur die Nacht mit uns Menschen zu teilen, sondern in diese Nacht hinein sein Licht zu bringen, das die Nacht zu beenden vermag.
Nur wenn unser Glaube wahr ist, dass Gott selbst Mensch geworden und Jesus Christus wahrer Mensch und wahrer Gott ist und so Anteil hat an der Gegenwart Gottes, die alle Zeiten umgreift, kann Jesus Christus nicht bloss gestern, sondern auch heute unser wirklicher Zeitgenosse und das Licht unseres Lebens sein, wie dies Angelus Silesius gedichtet hat: „Wär Jesus tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst noch ewiglich verloren.“ Verloren sind wir nur deshalb nicht, weil dieser Jesus nicht nur ein Mensch vor zweitausend Jahren gewesen ist, sondern als der Sohn Gottes auch heute lebt. Nur wenn Jesus der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes ist, haben wir nicht nur mit Freude zu bekennen, dass in ihm jenes Licht schlechthin aufgestrahlt ist, das auch unsere menschliche Nacht erhellt, sondern auch allen Grund, ihn anzubeten und seine Gegenwart in der Eucharistie zu feiern.
Anbetung Christi in der Eucharistie
Gerade bei der eucharistischen Anbetung dürften die Worte von liebenden Menschen in unseren Herzen hochsteigen: „Verweile doch, o Augenblick, du bist so schön.“ In der eucharistischen Anbetung erleben wir sogar den Augen-Blick schlechthin, nämlich den Blick Jesu Christi, der uns ansieht und uns sein Ansehen schenkt, ja, der uns ein solches Ansehen schenkt, dass wir im Herzen froh werden können. Dass die eucharistische Anbetung deshalb für uns Menschen eine Wohltat ist, dies hat die Heilige Edith Stein, die als Jüdin geboren zum christlichen Glauben konvertierte und in den Karmel eintrat und von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, mit diesen tiefen Worten bekannt: „Der Herr ist im Tabernakel gegenwärtig mit Gottheit und Menschheit. Er ist da, nicht Seinetwegen, sondern unsertwegen: weil es Seine Freude ist, bei den Menschen zu sein. Und weil Er weiss, dass wir, wie wir nun einmal sind, Seine persönliche Nähe brauchen. Die Konsequenz ist für jeden natürlich Denkenden und Fühlenden, dass er sich hingezogen fühlt und dort ist, sooft und solange er darf.“
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Wie damals die Hirten in Bethlehem das Kind in der Krippe anbeteten, so begegnen wir ihm heute vor allem im neuen „Bethlehem“, das genau übersetzt „Haus des Brotes“ heisst, nämlich in der Eucharistie, wenn er sich selbst im Geheimnis des verwandelten Brotes in unsere Hände und vor allem in unsere Herzen legt. In ihr schenkt Christus uns seine Gegenwart, in der er sich aber zugleich in den unscheinbaren Zeichen von Brot und Wein verbirgt, so dass die Augen des Glaubens ihn immer wieder neu entdecken müssen.
Die Anbetung ist in der Tat der Ernstfall des Glaubens. Wie die Sterndeuter aus dem Osten nach der Anbetung des Kindes in der Krippe nicht mehr zu Herodes zurückgekehrt, sondern auf einem anderen Weg nach Hause gegangen sind, so lassen wir uns heute in der eucharistischen Anbetung unser Herz verwandeln, um selbst neue Wege geführt zu werden und die Gegenwart Gottes zu den Menschen zu tragen. Der anbetende Mensch, der dem Heiligen begegnet, bringt das Heilige in die Welt zurück, um eine der schmerzenden Wunden unserer Zeit – den Verlust oder gar die Zerstörung des Heiligen - zu heilen. Dann ist Epiphanie nicht nur und nicht einfach ein Hochfest an einem Tag im Kirchenjahr, sondern dann kann sich Epiphanie an jedem Tag im begonnenen Jahr ereignen. Amen.