16. Juni 2024
Die gegenwärtige Bundesregierung weicht – historisch einmalig – von gesellschaftlicher Übereinstimmung ab, führt hohe Bußgelder ein und will in die Religions- und Meinungsfreiheit eingreifen.
Selbstbestimmungsgesetz
Künftig ist jedem Bürger gestattet, sein Geschlecht – angeblich ein gesellschaftliches Konstrukt –, selbst festzulegen. Dazu muss er lediglich zum Standesamt gehen und den dortigen Eintrag ändern lassen. Wer künftig eine sogenannte Trans-Person beim ursprünglichen Vornamen nennt und sie dadurch „absichtlich schädigt“, kann sich eine empfindliche Geldbuße einhandeln. Es ist völlig neu und verfassungsrechtlich umstritten, dass die Nennung biologischer Tatsachen mit einem hohen Bußgeld von bis zu 10.000 Euro belegt wird. Denn mit der Namensänderung müssen keine medizinisch wirksamen Änderungen verbunden sein. Bisher ist unklar, was mit der „Schädigung“ gemeint ist – möglicherweise ist nämlich kein materieller Schaden gemeint.
Eltern haben künftig die Möglichkeit, das Geschlecht ihres Kindes zu bestimmen. Für das Kind ist dies das Gegenteil von Selbstbestimmung. Eltern können also frei entscheiden, welches Geschlecht sie ihrem Kind auf dem Papier geben wollen. Das Kind erhält dann die Dokumente entsprechend der Festlegung der Eltern, nicht entsprechend seines von Medizinern festgestellten Geschlechts. Eine Prüfung, zum Beispiel durch Standesbeamte, ist nicht vorgesehen.
Wer seinen Geschlechtseintrag und Vornamen ändern möchte, kann dann eine entsprechende Erklärung vor dem Standesamt abgeben. Bislang setzt die Änderung eine langwierige und teure psychiatrische Überprüfung voraus; diese Voraussetzung entfällt künftig. Unerheblich ist, worauf die Entscheidung beruht – auf einer empfundenen Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht, auf biologisch uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen oder auf einem fehlenden Zugehörigkeitsgefühl zu beiden Geschlechtern. Die Änderung muss drei Monate vorher beim Standesamt angemeldet werden. Nach einem Jahr kann eine neue Erklärung abgegeben werden. Für Kinder unter 14 Jahren darf die Erklärung zu Geschlecht und Namen nur der gesetzliche Vertreter abgeben. Jugendliche ab 14 Jahren geben sie selbst ab, brauchen aber die Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters. Weigert der sich, wird das Familiengericht zuständig. Es erteilt die Zustimmung, sofern die Änderung des Geschlechtseintrags und der Vorname dem Kindeswohl nicht widersprechen.
Psychotherapeuten und andere Wissenschaftler haben in großer Zahl vor den Auswirkungen gewarnt. Obwohl viele von ihnen aus dem rot-grünen Politikspektrum stammen, fanden sie kein Gehör. Ingeborg Kraus, eine erfahrene Psychotherapeutin, die bereits 900 Patientinnen begleitete, hat massiv vor dem Selbstbestimmungsgesetz gewarnt. Sie, nach eigener Aussage eine linke, weltoffene Feministin, hält das Gesetz überhaupt nicht für fortschrittlich, emanzipatorisch oder gar wissenschaftlich begründet. Sie schildert tragische Fälle von Transsexuellen, denen zu schnell vorgegaukelt werde, dass sich ihre Probleme mit einer Operation lösen ließen. Das bestreitet sie vehement. Vielmehr sagt sie: „Wir müssen uns ernsthaft fragen, ob das Gefühl, dem anderen Geschlecht zugehörig zu sein, die Verstümmelung von gesunden Organen und die damit oft verbundenen körperlichen Schäden (Schmerzen, Inkontinenz, Sterilität, Leistungseinbruch, …), rechtfertigt.“ Mit dem Resultat der Operationen seien die meisten nicht zufrieden. Eine völlig unkritische Haltung Transitions-Wünschen gegenüber, so wie es das Selbstbestimmungsgesetz nun fordere, sei völlig fahrlässig.
Das neue Gesetz gerät auch in Konflikt mit der christlichen Anthropologie. Juden und Christen glauben, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen hat. Dies hat der Vatikan am 8. April mit der Erklärung Dignitas infinita bekräftigt. Die katholische Kirche lehrt: „Ein Punkt der Gender-Theorie […] versucht, den größtmöglichen Unterschied zwischen Lebewesen zu leugnen: den der Geschlechter. Dieser fundamentale Unterschied ist nicht nur der größtmöglich vorstellbare, sondern auch der schönste und mächtigste: Er bewirkt im Paar von Mann und Frau die bewundernswerteste Gegenseitigkeit und ist somit die Quelle jenes Wunders, das uns immer wieder in Erstaunen versetzt, nämlich die Ankunft neuer menschlicher Wesen in der Welt“ (Dignitas infinita 58). „Der Mensch besteht untrennbar aus Leib und Seele, und der Leib ist der lebendige Ort, an dem sich das Innere der Seele entfaltet und manifestiert … Daraus folgt, dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen“ (Dignitas infinita 60).
Bei einem Wechsel der Mehrheiten im Bundestag dürfte das Selbstbestimmungsgesetz auf dem Prüfstand stehen. Es wird wohl auch bei einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht keinen Bestand haben.
„Gehsteigbelästigung“
Eine Gebetsgruppe von „40 Tage für das Leben“ hat sich im Jahr 2020 rechtmäßig vor der Frankfurter Filiale der Abtreibungsorganisation „Pro Familia“ versammelt – so entschied das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main in einem am 16. Dezember 2023 veröffentlichten Urteil. Die von der Stadt Frankfurt angeordneten räumlichen und zeitlichen Beschränkungen der pro-life-Versammlungen in der Nähe der Abtreibungsorganisation wurden dagegen für rechtswidrig befunden. Das Bundesverwaltungsgericht meint in diesem Kontext, es gebe keinen „Schutz vor Konfrontation mit anderen Meinungen“. Erst recht ausgeschlossen sind Verbote zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen ihres Inhalts wegen zu unterbinden“ (vgl.: BVerwG, Beschluss vom 23.05.2023 – 6 B 33.22).
Am 24. Januar 2024 hat das Bundeskabinett beschlossen, die sogenannte „Gehsteigberatung“ zu verbieten. Bei Abtreibungsbefürwortern ist es verhasst, dass im Umfeld von Abtreibungskliniken beraten, gebetet oder demonstriert wird. Der angenommene Gesetzentwurf von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) sieht vor, in einem Umkreis von hundert Metern rund um Beratungsstellen, die den für eine straffreie Abtreibung erforderlichen Schein ausstellen, sowie um Abtreibungseinrichtungen Bannmeilen zu errichten. Der Entwurf sieht vor, die Bundesländer zu verpflichten, „den ungehinderten Zugang zu den Beratungsstellen und zu den Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen“. Verstöße können dann als Ordnungswidrigkeit mit bis zu 5.000 Euro Bußgeld geahndet werden.
Greift eine Bundesregierung zum Instrument des Gesetzes, muss ein dringender Regelungsbedarf bestehen; es sollte ein Missstand vorliegen, der nicht durch Appell und gute Worte abgestellt werden kann. Aber das, was die Grünen-Ministerin abschätzig „Gehsteigbelästigung“ nennt, ist ein sehr seltenes Phänomen.
Eine Recherche im Netz ergibt, dass sich – in ganz Deutschland – Lebensschützer an drei Orten etwa zweimal jährlich für Gebetswachen versammeln. Bei 103.927 Schwangerschaftsabbrüchen, die 2022 in Deutschland gemeldet wurden. Die Bundesregierung qualifiziert selbst einen solchen stillen, religiös geprägten Aktivismus als „nicht hinnehmbar“ ab. Wohin die Fahrt offenbar geht, zeigt Großbritannien: Dort ist selbst ein stummes Stehen mit einem Bibelvers in der Nähe einer Einrichtung verboten worden.
Bisher ist ein solches Verbot zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen wegen ihres Inhalts zu unterbinden, rechtswidrig. Kollisionen mit dem Recht der freien Meinungsäußerung oder mit der freien Religionsausübung sind unvermeidlich. Welche den Grundrechtseingriff rechtfertigende Grundrechtskollision ist nun vorstellbar? Die Befürworter des Verbots werden sich eine überzeugende Antwort suchen müssen. Vor allem wird zu begründen sein, warum ein stilles oder leises Gebet bzw. eine schriftliche Meinungsäußerung auf einem Plakat einen „ungehinderten Zugang“ zu einer Einrichtung unmöglich machen. Bei Sitzblockaden oder anderen Formen der Nötigung könnte dies angenommen werden; aber darum geht es ausdrücklich nicht.
Damit beenden wir die siebenteilige Serie über Kirche und Staat aus Anlass des 75-jährigen Bestehens des Grundgesetzes. Alle Folgen dieser Reihe über Kirche und Staat finden Sie HIER.
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