3. Mai 2018
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet. – So lauten die beiden ersten Absätze des vierten Artikels des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Beschluss der bayerischen Staatsregierung soll eine Regelung in der allgemeinen Geschäftsordnung für die bayerischen Behörden künftig vorsehen, dass in den Amtsgebäuden jeder Behörde des Freistaates Bayern ein "Kreuz" aufgehängt wird. Nach den Presseverlautbarungen der Staatsregierung würden die Kreuze "nicht Zeichen einer Religion," sondern "das grundlegende Symbol der kulturellen Identität" Bayerns sein.
Das Kreuz im Unrecht?
Viele berufene und weniger berufene Kommentatoren sehen zwischen beiden Regelungen einen unüberwindbaren Konflikt und schwingen schon die Keule der Verfassungswidrigkeit gegen das Vorhaben der bayerischen Staatsregierung. Aus den beiden ersten Absätzen des Artikels 4 des Grundgesetzes folge eine strikte Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Fragen. Der Staat dürfe religiöse Bekenntnisse, Gott, Götter und Götzen, nicht einmal wahrnehmen, sie zum Gegenstand von Gesetzgebung, Rechtsprechung oder Verwaltungshandeln machen, er müsse über die Tatsache, dass Bürger sich zu einer Religion bekennen quasi hinwegsehen. Das Kreuz, das leicht als Symbol der katholischen Kirche und anderer christlicher Bekenntnisse zu erkennen ist, habe demnach im öffentlich Raum, im Bereich des Staates nichts verloren. Die bayerische Staatsregierung könne schlicht das Aufhängen von Kreuzen nicht anordnen.
Sicher ist, dass man nicht einfach bei dem Verständnis des Kreuzes als einem kulturellen Symbol Bayerns Halt machen kann. Das Kreuz darf und muss als Symbol des Christentums verstanden werden – das hat auch das Bundesverfassungsgericht im sogenannten Kruzifix-Urteil aus dem Jahr 1995 klargestellt. Alles andere wäre nicht auch nicht ehrlich. Bayern hat seine kulturelle Prägung nicht durch das bloße Vorhandensein von Wegkreuzen und Marterbildchen erhalten, sondern durch die Überzeugung und den Glauben, derer, die sie aufgestellt haben.
Darf ein christliches Symbol im öffentlichen Raum, in Gebäuden des Staates sichtbar sein?
Staat und Christentum
Wer einfach und (vor-)schnell nein ruft, kommt mit dem Verweis auf das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot in Glaubensfragen nicht weit. Wer so dem Laizismus eine Lanze brechen möchte, begeht einen Fehlschluss, der aus einer verengten Sicht auf das Grundgesetz und das Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland folgt. Sicher gewährleistet das Grundgesetz mit seinen Artikeln 4 und 33 die religiöse Freiheit des Einzelnen, sich zu einer Religion zu bekennen, sie in Gemeinschaft auszuüben oder auch keine Religion zu haben. Niemand darf deswegen Nachteile erleiden.
Die vielen Väter des Grundgesetzes und seine vier Mütter im parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz ausgearbeitet hat, wollten ganz sicher keine laizistische Verfassung beschließen. Sie verwarfen eine Anknüpfung an die gescheiterten Revolutions- und Aufklärungsverfassungen der deutschen Revolution von 1848 und der in Weimar beschlossenen Verfassung des Deutschen Staates aus dem Jahr 1919, die jeweils keinen Gottesbezug beinhalteten. Der parlamentarische Rat verabschiedete das Grundgesetz für das deutsche Volk 1949 jedoch "Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen." – So heißt in der Präambel zum Grundgesetz. Der parlamentarische Rat stellte damit für einen Staat, dessen Bürger sich weit überwiegend zur katholischen Kirche oder anderen christlichen Konfessionen bekennen, klar, dass dieser Staat nicht blind sein will für das religiöse Bekenntnis seiner Bürger.
Mit dieser Klarstellung ergänzen die Regelungen der gescheiterten Weimarer Verfassung (Artikel 136 bis 139 und Artikel 141) aus dem Jahr 1919 das Grundgesetz mit ganz konkreten Garantien und Bestimmungen zum Verhältnis des Staates einerseits zur Kirche, zu Bekenntnissen und Religionsgemeinschaften andererseits: Niemand ist gezwungen, einer bestimmten Religion anzugehören. Staatliche "Indoktrination" und Bekehrungsbemühung dürfen nicht stattfinden. Die Rechtsausübung des Einzelnen als Bürger und Staatsbürger wird nicht beschnitten, weil jemand einer bestimmten Religion angehört oder nicht angehört. Eine Staatskirche besteht nicht, die Bildung von Religionsgemeinschaften ist frei. Andererseits konnte auch die Weimarer Verfassung den Staat nicht gänzlich vom christlichen Bekenntnis seiner Bürger lösen. Denn die Weimarer Verfassung garantiert auch den Schutz des Sonntags als staatlichen Feiertag und Tag "der seelischen Erhebung" (Artikel 139) und sie gewährleistet die Seelsorge in staatlichen Einrichtungen und Anstalten wie Krankenhäuser, Gefängnissen und im Heer (Artikel 141).
Der Staat des Grundgesetzes will ein säkularer, aber vor allem ein freiheitlicher Staat sein. Er kann sich deshalb nicht vollständig vom Christentum lösen. Noch immer bekennen sich annähernd 60% der Bevölkerung zur Kirche oder zu einem christlichen Bekenntnis (ausweislich der Kirchenstatistik für das Jahr 2016). Diese Quote wird höher, wenn man den Anteil der Christen nur bezogen auf das deutsche Staatsvolk, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland rechnet. Vor allem die katholische Kirche und die protestantischen Glaubensgemeinschaften mögen über Glaubensschwund, rückläufige Teilnahme an der Liturgie und so weiter klagen. Viele Eltern begehren dennoch die Taufe für ihre Kinder, die Aufnahme an einer christlichen Schule und erwarten sich, selbst wenn sie selbst nicht Christen sind oder wesentliche Glaubensinhalte ablehnen, eine positive Charakterbildung durch eine christliche Erziehung. Der freiheitliche säkulare Staat würde aufhören, ein freiheitlicher Staat zu sein, wenn er seinen Bürger seine eigene Säkularität aufzwingen will. – So hat es der Rechtsphilosoph und Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde dem Grundgesetz ins Stammbuch geschrieben (Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist."")
Der Staat würde zur Diktatur, wollte er bestimmte eigene Vorstellungen gegen das religiöse Bekenntnis seiner Bürger durchsetzen. Der Staat des Grundgesetzes ist keine Diktatur. Er gewährleistet und verordnet staatliche Feiertage, von denen sich die Mehrzahl an christlichen Festen orientiert. Die Feiertagsgesetze bestimmen mit den "stillen Tagen" sogar Rücksichtnahme auf christliche Hochfeste und Gedenktage für Menschen, die nicht der Kirche oder einer anderen christlichen Religionsgemeinschaft angehören. Der Karfreitag kann als stiller Tag mit dem jüdischen Purim-Fest kollidieren und doch geht das "Tanzverbot" des "stillen Tages" vor. Sowohl Theorie und Praxis der Regelungen zum Verhältnis von Staat und Religion führen im Ergebnis also zu dem, was man eine "hinkende Trennung" bezeichnet. Der Bund und die Bundesländer schließen Konventionen ("Konkordate") mit dem Heiligen Stuhl.
Zeichen des Widerspruchs
Der Staat ist also nicht blind für das religiöse Bekenntnis seiner Bürger. Er ist auch nicht gegen das Kreuz. Das Bundesverfassungsgericht hat 1995 eine Regelung verworfen, nach der in bayerischen Schulen ein Kruzifix oder ein (lateinisches) Kreuz anzubringen ist ("Kruzifix-Urteil"). "In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen." Punkt. Eine Konfliktlösung für Schüler, Lehrer oder Bedienstete, die partout nicht den Anblick des Kreuzes ertragen wollen, sah die bayerische Volksschulordnung nicht vor. Diese Kreuz-Verordnung nahm den Gegnern des Kreuzes die Möglichkeit, ihre eigene Ansicht vorzutragen. Die Kreuze hängen vielerorts noch in den bayerischen Schulen, trotz des Kruzifix-Urteils: Sie hängen dort nun "Angesichts der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns," wie es im neuen Schul- und Unterrichtsgesetz heißt. Dem Einzelnen steht jedoch ein Widerspruchsrecht offen. In Einzelfällen sind Klagen gegen das Kreuz daher erfolgreich.
Die Regelung selbst ist jedoch von den Gerichten nicht beanstandet worden. Das Bundesverwaltungsgericht stellte 1999 fest, dass gerade wegen der Möglichkeit des Widerspruchs, die Verpflichtung zur Anbringung von Kreuzen nicht verfassungswidrig ist. Das Gesetz selbst schafft nämlich die Voraussetzungen dafür, die gegensätzliche grundrechtlich geschützte Positionen angemessen in Ausgleich zu bringen. Als Zeichen des Widerspruchs (Lk 2,34) fügt sich das Kreuz in die Verfassungsordnung eines mehrheitlich christlichen Staates.
Noch entspannter urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte im Jahr 2011 zu Kruzifixen in Italiens Klassenzimmern. Deren bloße Existenz als Referenz an das Bekenntnis der Mehrheit der Schüler sei keine Indoktrinierung und verstoße nicht gegen die Menschenrechte der nicht christlichen Schüler.
Das Kreuz im Recht
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Kreuze in bayerischen Behörden werden wohl niemanden zum Christentum bekehren. Sie werden niemanden Indoktrinieren. Sie werden aber jeden, der es weiß oder wissen will, an die Fundamente des Staates erinnern, zu dem er sich begibt, um Recht zu erhalten, Recht durchzusetzen oder Unrecht abzuwehren. Diese Fundamente sind die Freiheit des Einzelnen, der Glaube an die Wahrheit, die keinen Zwang benötigt, und die Nächstenliebe. Auf diesen Fundamenten ruht auch das friedliche Miteinander der verschiedenen religiösen Bekenntnisse in Deutschland. Auf diesen Fundamenten ruht die Tatsache, dass hier ein jeder seine Religion frei ausüben kann oder Religion als solche ablehnen kann. Auf diese Fundamente können alle Deutschen und ihre Gäste, die bei ihnen leben stolz sein, gleich ob Sie Christen sind oder nicht.
Dass der Laizismus der französischen Revolution, der Kommunisten und Faschisten und des Nationalsozialismus die religiöse Freiheit befördert habe, kann hingegen niemand ernsthaft behaupten. Dass er stattdessen nur Mittel zum Zweck war, eine andere, nicht religiös begründete Weltanschauung durchzusetzen, ist so offensichtlich wie die Menge der seit 1789 zur Durchsetzung des Laizismus ermordeten Katholiken, Protestanten, Juden und Muslime unzählbar ist. Der Staat garantiert die Freiheit von religiösem Zwang, er garantiert aber auch die Freiheit von säkularem Zwang.
Die Regelungen im Detail zum Kreuzerlass bleiben abzuwarten. Eine politische Entscheidung, die Fundamente des Staates deutlicher herauszustellen und dem Kreuz Raum in der Öffentlichkeit zu geben kann per se nicht zu beanstanden sein – nicht, wenn es um Symbole einer kulturellen Prägung geht, aber erst recht auch nicht, wenn es das Kreuz als Symbol des Christentums betrifft.
René Udwari ist Rechtsanwalt. Er ist in Frankfurt am Main und Köln tätig.
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Die Aufregung um das Aufhängen des Kreuzes im Eingangsbereich von Dienstgebäuden erscheint übertrieben. In diesem Zusammenhang von Häresie und Blasphemie zu sprechen ist völlig abwegig, schreibt Ludger Schwienhorst-Schönberger https://t.co/jiJvhrX30g #Kreuzdebatte
— CNA Deutsch (@CNAdeutsch) May 1, 2018
Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten des Autors wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.