29. September 2018
Es ist ein Bildwunder! "Notgottes / Vera Icon, um 1415 -Fragment eines Diptychons" heißt es lapidar neben der kleinen Bildtafel, die im Original gerade einmal 15 x 23 cm misst. Das ist kleiner als die Heftseite vor Ihren Augen (mit 21 x 27 cm). Hier sehen Sie also eine Vergrößerung der Eichenholztafel, die ein anonymer "Meister von Sankt Laurenz" um 1415 in Köln gemalt hat. Doch dieser kleinen Darstellung in einer Glasvitrine aus dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum verdankt unser Heft diesmal seinen großen Titel.
Es war der entscheidende Perspektivwechsel in einem Moment, als wir nicht mehr weiterwussten im Strudel der sich täglich überschlagenden Horrormeldungen aus dem Innern und der Tiefe unserer geliebten Mutter Kirche! Was zahllosen Opfern von Schweinepriestern (und Kardinälen, wie wir nun auch noch wissen) in unsäglichen Verbrechen und Schweinereien und Greueln in Sakristeien, Beichtstühlen und an anderen heiligen Stätten angetan wurde, können wir täglich neu nachlesen. Was die Kirche Christi hingegen Gott selbst antut, fasst dieses zum Heulen schöne Tableau - und dieses eine Wort! - wie in einem Bernstein zusammen, sprechender als jeder Missbrauchsbericht: Not Gottes! "Meine Not hört niemals auf", hat der Herr am 7. April 1913 Pater Pio in einer Vision einmal anvertraut. Wann wäre uns das je bewusster geworden als in diesem Sommer?
Ulrich Moskopp hat die Tafel entdeckt, der Maler aus Köln, der uns am 22. August in einer e-mail schrieb: "Gottvaters erbarmungswürdiges Mitgefühl. Hat mich heute umgehauen. Das kleine Bild, an dem ich seit bald 50 Jahren vorübergehe. So fein und dienend dargestellt. Diese beginnende Bitterkeit des Mundes, die durch den sanften Geist der Augen umgewandelt wird, in die wahre Milde der Bewältigung Gottes, die Not in unendlichen Reichtum auferstehen zu lassen."
Die Tafel findet sich im Kölner Wallraf-Richartz-Museum rechts neben einem Saaldurchgang, nur wenige Schritte von der "kölschen Mona Lisa" entfernt, das heißt, von der "Madonna im Rosenhag" Stefan Lochners, die in Wirklichkeit so viel köstlicher ist als alle Frauenbilder Leonardo da Vincis zusammen, und der Navid Kermani in seinem "Ungläubigen Staunen" seinen wohl schönsten Essay gewidmet hat
Wir hingegen sind keine Dichter, Maler oder Kunsthistoriker. Wir staunen über die feine Punzierung des Goldhintergrunds, aber haben keine Ahnung, was der grüne Schal des Vaters bedeutet und der blaue Mantel, mit der er seinen toten Sohn umfängt. Dessen Dornenkrone ist grün, aus immer frischen Dornen, wie üblich, seit König Ludwig IX. im Jahr 1239 die Dornenkrone Christi in Konstantinopel von König Balduin II. für 135.000 Pfund Gold gekauft hatte, als neuen Kronschatz Frankreichs, für den er danach in Paris auf der Ile de la Cité in der Seine für weniger als ein Drittel der Summe das Weltwunder seiner Sainte-Chapelle errichten ließ. Wir wissen, dass die Szene in ähnlichen Darstellungen mal Gnadenstuhl genannt wird oder Dreifaltigkeit. Doch so innig ergreifend wie diese "Notgottes" haben wir Vater und Sohn noch nie zusammen gesehen, mit der göttlichen Geisttaube zwischen den beiden als leises Flattern, wie ein wiederbelebender Atemzug.
Das Lendentuch des Sohnes ist transparent. Das ist auffällig, doch nicht verwunderlich. Das leinene große Grabtuch Christi war in der westlichen Christenheit rund 60 Jahre zuvor erstmals in Lirey, einem kleinen Kaff in der Champagne, im Jahr 1353 aufgetaucht und die genaue Vorstellung davon hatte sich so rasch noch nicht bis Köln herumgesprochen. Der Ruhm des langen Leichentuchs verbreitete sich nur langsam. Denn die wesentliche Vorstellung eines Grabtuchs Christi lieferte damals den Malern, Pilgern und Gläubigen noch allgemein das heilige Schweißtuch Christi in Rom. Und das war durchscheinend - mit den Gesichtszügen des Menschensohns in der Vera Icon. Darum ist Gottvater hier noch kein Greis mit Rauschebart, sondern die beiden sind gleich alt, wie ewige Zwillinge. Die beiden sind eins, sie sind ein und derselbe: der Sohn tot in den Armen des Vaters, der Vater lebend und leidend, beide Gott. Mehr als jeder spätere Katechismus ist dieses Bild noch ganz und gar biblisch: "Wer mich sieht, sieht den Vater!"
"Nie ist es gelungen, den Vater auch nur halbwegs glaubhaft zu malen" schreibt Navid Kermani in dem oben erwähnten Essay über Lochners Gottesmutter. Da müssen wir ihm widersprechen. Das "glaubhafte Bild des Vaters" findet er nur wenige Schritte entfernt von "dem herrlichsten Bild, das je in Köln gemalt worden ist" in der "Notgottes" des unbekannten Meisters von Sankt Laurenz. Wir sind dafür extra von Rom nach Köln gekommen.
Und jetzt kommt’s. "Vera Icon" steht ja auch noch neben dieser Ikone der "Notgottes". Aber wir finden diese Tafel nicht, wo derselbe Meister von Sankt Laurenz damals das römische Original des "allerheiligsten Schweißtuchs" aus Sankt Peter in Rom porträtiert haben muss, also jenen Bildschleier eines "nicht von Menschenhand geschaffenen" Urbilds Christi, das damals noch als kanonisch für alle Darstellungen des Gottessohnes galt. Wir wollen schon gehen, als unser Begleiter Dirk Weisbrod sagt: "Schaut mal auf die Rückseite. Da ist die Vera Icon!" Er hat Recht. Die Vera Icon befindet sich auf der Rückseite der Gottesnot. Die Museumsleitung hat die Vitrine mit dem Meisterstück nicht etwa in die Mitte eines Saales gestellt, sondern einfach mit dem Antlitz Christi gegen die Wand gerückt, wo der Abstand zur Wand so eng ist, dass ich meine schmale Kamera mit einer Hand gerade von links in den Spalt schieben kann, während meine Frau den Auslöser von der rechten Seite betätigen muss. Später finde ich folgenden Werkkommentar zu der Tafel im Netz: "Die Vera Icon entspricht dem franco-flämischen Typus, wie er in Köln mehrfach nachgewiesen ist und zwischen 1380 und 1430 wohl verbreitet war. Dieser 'zeitlose' Idealkopf Christi folgt der von der Legenda aurea beeinflussten Tradition eines Christushauptes ohne Dornenkrone und ist damit ohne direkten Bezug zur historischen Passionsschilderung." Die Vera Icon hat allerdings nie einen Bezug zur Passion, sondern immer nur zur Auferstehung. Das soll hier nicht weiter thematisiert werden. Dafür aber, dieses Meisterwerk in dem an Kunstschätzen zugegebenermaßen überreichen Museum einfach mit dem Gesicht Gottes zur Wand zu stellen, kann es nur einen einzigen Grund geben. Das ist eine allgemeine Gottvergessenheit, die in der Kirche ihren Ausgang nahm und längst die ganze Gesellschaft erfasst hat. Gott hat sein Gesicht verloren und das ist nicht symbolisch gemeint. Unsere Kinder kennen ihn nicht mehr.
Am dichtesten ist das heutige Drama der Kirche deshalb heute wohl in dem Begriff der "Gottesfinsternis" ausgedrückt, den Erzbischof Gänswein am 11. September im italienischen Parlament beschworen hat. Es ist die gleiche Not, die Papst Benedikt immer wieder beklagt hat. Und es sollte uns eigentlich wundern, dass dieser Begriff für unsere Zeit von dem jüdischen Philosophen Martin Buber und nicht von einem Christen erstmals geprägt wurde. Denn nur Christen glauben doch, dass Gott uns in Christus sein Gesicht offenbart hat. Dass deshalb nur wir Sein menschliches Antlitz kennen. Das hat und kennt keine andere Religion. Im byzantinischen Bilderstreit des ersten Jahrtausends wurden deshalb regelrechte Kriege mit zahllosen Opfern um die Frage geführt, dass Gott Mensch und damit auch Bild geworden war, den man deshalb auch abbilden dürfe, ja, müsse. All das wirkt heute, als sei es nie geschehen.
So wundert nicht, dass Zvi Kolitz, ein junger jüdischer Überlebender aus Litauen am 26. September 1946 in Buenos Aires nachts folgende Klage zu Papier brachte: "Etwas ganz Besonderes geht vor auf der Welt," schrieb er da in seinem großen Lamento, "und es hat einen Namen! Jetzt ist die Zeit, da Gott Sein Gesicht verbirgt. Nun sagst Du vielleicht, dass es eben so ist, wie es ist, wenn Du Dein Gesicht verhüllst und Du die Menschen ihren Trieben überlässt. Dann will ich Dich aber fragen, Herr, und diese Frage brennt in mir wie ein verzehrendes Feuer: Was noch, oh, sag es uns, was noch muss geschehen, damit Du Dein Gesicht vor der Welt wieder enthüllen wirst?"
Vielleicht erfährt die katholische Kirche die Antwort auf diese Frage ja gerade in unseren Tagen. Denn dem Wort der Gottesfinsternis wohnt ja auch ein großer Trost inne. Es meint nicht die Abwesenheit Gottes, sowenig wie die Sonnenfinsternis die Abwesenheit der Sonne meint. Gott lebt und er hat ein Gesicht, das die Heiligen immer gespiegelt haben. Die Schatten der Sünden der Kirche aber verdunkeln und verbergen sein Antlitz, nicht erst seit heute, seit langem schon. Mit der schonungslosen Aufklärung über unsere Sünden kann Gott deshalb an jedem Tag auch wieder wie die Sonne neu hinter allen Schatten hervortreten und mit seinem wahren Antlitz die ganze Welt erhellen.
Zuerst erschienen im VATICAN-Magazin, Ausgabe 10 / 2018. Veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.
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