Zur Eucharistiefeier in der Heiligen Nacht in der Kirche des Campo Santo Teutonico am 24. Dezember 2018 hat Kardinal Kurt Koch diese Predigt gehalten, die CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung publiziert.

Es ist ein alter und schöner Brauch, dass wir uns zum Weihnachtsgottesdienst in der Nacht oder an ihrem Beginn einfinden. An diesem Brauch lässt sich ablesen, dass wir Christen offensichtlich die Nacht gern haben. Die Nacht ist uns sogar heilig und geweiht. Sie ist Weih-Nacht. Mit diesem Ehrentitel bezeichnen wir jene Nacht, in der Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, auf unserer Erde erschienen, Mensch geworden und geboren ist. In dieser Nacht feiern wir den Eintritt Gottes in die Weltnacht von uns Menschen.

Gottes Licht in der Nacht der Menschen

Heilige Nacht – Weihnacht! Die Feier der Weih-Nacht mutet uns nichts weniger zu als dies, dass wir uns der Nacht stellen: der Nacht in unserem eigenen Leben, der Nacht in der gegenwärtigen Welt und der Nacht auch in der Kirche heute. Wir Christen sind zwar nicht – und hoffentlich – Menschen, die die Nacht herbeireden. Wir sind aber auch nicht – und hoffentlich – Menschen, die der Nacht ausweichen und sie verdrängen. Wir stellen uns vielmehr der Nacht und setzen uns ihr aus. Denn wir wissen genau, dass, wenn wir die Nacht aus unserem Leben verdrängen, die Weih-Nacht bloss noch eine Worthülse wäre. Die Nacht steckt nun einmal im Wort Weih-Nacht; und wie die Nacht im Wort steckt, so steckt sie auch in den Herzen von uns Menschen und nagt in ihrer ganzen Abgründigkeit und Gefährlichkeit  an unserem Leben. Die Nacht ist ein urmenschliches Zeichen für die Dunkelheit im menschlichen Leben und für die Finsternis in der Geschichte der Welt. Nacht heisst Angst und Not; Nacht heisst Armut und Sinnlosigkeit; und Nacht heisst schliesslich Leiden und Sterben.

Als Zeichen für die Nacht im Leben von uns Menschen und in den Geschicken der Welt treffen wir uns zur Feier der Heiligen Weihnacht am Beginn der Nacht. Weihnachten feiern braucht Mut, sich der Nacht zu stellen. Weihnachten ruft Erinnerungen an die Nachtseiten des menschlichen Lebens wach. Weihnachten erinnert an schlaflose Nächte, die vor lauter Sorge, Kummer oder Trauer nicht enden wollten. Und Weihnachten macht uns bewusst, dass auch unser Glaube manchmal Nachtwanderungen kennt.

Sich in dieser Weise der Nacht zu stellen, dies wäre freilich ein furchtbar trostloses und letztlich tristes Unterfangen, wenn mit der Nacht nicht auch eine frohe Verheissung verbunden wäre. Die Verheissung, die uns in der Weih-Nacht zuteil wird, besagt, dass in den Nächten unseres Lebens ein Licht aufgegangen ist, das die Finsternis erhellt. Dieses Licht ist bereits aufgeleuchtet im Volk Israel, wie es uns der alttestamentliche Prophet Jesaja verkündet: "Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht" (9, 1), und zwar vor allem deshalb, weil ihm ein Kind geboren und ein Sohn geschenkt ist. Dieses Licht ist deshalb vollends aufgestrahlt in der Krippe in Bethlehem in jenem Kind, in dem Gott selbst Mensch geworden ist. In diesem Kind in der Krippe ist uns mitten in der Nacht unseres Lebens ein Licht, das Licht schlechthin aufgeleuchtet.

Erst diese Verheissung macht Weihnachten wirklich zur Weih-Nacht. Erst hier leuchtet auch der tiefste Grund auf, dass wir Christen die Nacht gern haben und geradezu in die Nacht verliebt sind. Denn uns ist der Glaube geschenkt, dass der Gottessohn in der Lebensnacht von uns Menschen zur Welt gekommen ist und sich uns als unser Lebenslicht schenkt. Der Sohn Gottes hat bei uns Menschen nicht bei Tageslicht bloss hinein geschaut, um sich alsbald von uns wieder zu verabschieden. Nein, er hat uns in der dunklen Nacht aufgesucht und heimgesucht, um die Nacht mit uns zu teilen und um in unsere Nacht hinein sein Licht zu bringen. Das ist das schöne Geheimnis der Heiligen Weih-Nacht: "Weil Gott in tiefster Nacht erschienen", kann unsere menschliche Lebensnacht nicht traurig und nicht endlos sein. Mit seinem Licht hat Gott vielmehr der Nacht im Leben von uns Menschen und in der Welt ein heilsames Ende bereitet.

Licht, das den menschlichen Lebensraum erfüllt

Um uns in das Geheimnis der Heiligen Weih-Nacht zu vertiefen und in diesem Geheimnis heimisch werden zu können, eignet sich eine Geschichte, die die Menschen auf den Philippinen zu erzählen pflegen[1]: Ein König, der zwei Söhne hatte, beschloss im Laufe der Zeit, einen der beiden Söhne zu seinem Nachfolger zu bestellen. Um besser entscheiden zu können, welchen von beiden er mit der Nachfolge betrauen kann, gab er jedem fünf Silberstücke in die Hand und erteilte ihnen den Auftrag, sie sollten bis zum Abend mit diesem Geld die leere Schlosshalle füllen. Dabei vermerkte er eigens, dass es in ihrer Entscheidung liege, wie sie den Auftrag erfüllen wollen.

Der ältere Sohn machte sich sofort auf den Weg. Er kam an einem Feld vorbei, auf dem gerade Zuckerrohr geerntet und ausgepresst wurde. Als er das leere Zuckerrohr zuhauf am Feldrand liegen sah, dachte er sich, damit könne er die Schlosshalle leicht auffüllen. Schnell wurde er mit den Arbeitern handelseinig; und diese schafften für die fünf Silberstücke das ausgepresste Zuckerrohr in die Schlosshalle. Als sie voll war, ging der ältere Sohn in zuversichtlicher Freude zu seinem Vater und berichtete ihm, er habe die ihm gestellte Aufgabe erfüllt und der Vater solle ihn jetzt zu seinem Nachfolger ernennen. Der Vater jedoch antwortete: "Noch ist nicht Abend. Ich werde warten."

Als die Dämmerung über das Land hereingebrochen war, kam auch der jüngere Sohn zurück. Er sah, dass die Schlosshalle mit Zuckerrohr aufgefüllt war, und gab die Anweisung, man solle das leere Stroh wegschaffen. Nachdem dies geschehen war, stellte er mitten in die Schlosshalle eine Kerze und zündete sie an. Das Licht der Kerze erfüllte den ganzen Raum und drang bis in den letzten Winkel vor. Als der Vater sah, dass das Licht der Kerze die ganze Schlosshalle erfüllt hatte, sagte er zu seinem jüngeren Sohn: "Du sollst mein Nachfolger sein. Dein Bruder hat alle fünf Silberstücke ausgegeben, um die Halle mit nutzlosem Zeug zu füllen. Du aber hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht  und dabei die Halle mit Licht gefüllt. Du hast sie mit dem erfüllt, was die Menschen wirklich brauchen."

Der Unterschied zwischen den beiden Söhnen könnte gar nicht grösser sein. Der Unterschied ist sogar so gross, dass er uns an den Unterschied zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln von uns Menschen erinnert. Handeln wir Menschen nicht oft genau so wie der ältere Sohn und geben uns alle erdenkliche Mühe, auch und gerade an Weihnachten, die Schlosshalle unseres Lebens mit allem Möglichen aufzufüllen? Ist unsere eigene Schlosshalle oft nicht voll von Terminen und Agenden, von Plänen und Programmen? Ist unser Herz nicht mit allen möglichen Dingen besetzt, und haben wir nicht oft genug auch unseren Kopf voll? Kommen wir uns nicht manchmal selbst gleichsam wie "besetztes Gebiet" vor? Und wenn wir die besetzte Dunkelkammer unseres Herzens ans Tageslicht bringen, müssen wir dann ehrlicherweise nicht entdecken, dass darin auch viel Stroh ist, das uns zwar ausfüllt, aber gerade deshalb noch lange nicht erfüllt? Gleichen wir Menschen nicht oft dem älteren Sohn, der die Schlosshalle  mit ausgepresstem Zuckerrohr auffüllt? Auch unser Leben ist dann zwar aufgefüllt, aber nicht erfüllt.

Die Heilige Weihnacht lädt uns ein, auf Christus, den Sohn des himmlischen Vaters, zu schauen. In ihm dürfen wir den jüngeren Sohn in der philippinischen Geschichte wiedererkennen. Denn er füllt unser Herz mit nichts anderem als mit seinem Licht, das die Schlosshalle unseres Lebens bis in den letzten Winkel zu erfüllen vermag. Er erfüllt sie mit dem, was wir Menschen wirklich brauchen. Denn er ist gekommen, um uns zu besuchen als das "aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes" (Lk 1, 78-79).

Jesus Christus als Gnaden-Licht in Person

Unser menschliches Leben gleicht oft einer leeren und dunklen Schlosshalle, die darauf wartet, gefüllt zu werden. Die Heilige Weihnacht erfüllt sie mit jenem Licht, das im Kind in der Krippe von Gott her in unsere Welt gekommen ist. Von diesem Licht gilt erst recht, was in der philippinischen Geschichte der Vater zu seinem jüngeren Sohn sagt: "Du hast nicht einmal ein Silberstück gebraucht und die Schlosshalle dabei mit Licht erfüllt. Du hast sie mit dem erfüllt, was die Menschen brauchen." In der Tat brauchen wir Menschen dringend das Licht, das von Gott kommt. Und das Licht, das Christus selbst ist, können wir nicht kaufen, und es kostet nichts; es ist vielmehr gratis, reine Gnade.

Die Heilige Weihnacht verkündet uns, dass in Jesus Christus die Gnade Gottes erschienen ist, "um alle Menschen zu retten" (Titus 2, 11). Denn Jesus Christus ist in Person die gnädige Zuwendung Gottes zu uns Menschen, er selbst ist die Gnade Gottes. Wer an Weihnachten dem Kind in der Krippe in Bethlehem begegnet, begegnet Gott selbst. In diesem Kind ist Gott selbst gegenwärtig, und in ihm ist erfahrbar, dass letztlich alles Gnade ist.

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An Weihnachten wird uns die Gegenwart Gottes als sein Licht geschenkt. Die Feier der Weihnacht setzt deshalb unsere Bereitschaft voraus, dass wir Menschen, die wir wie der ältere Sohn in der philippinischen Geschichte die Schlosshalle unseres Lebens immer wieder mit allem Möglichen aufzufüllen versuchen, es dem jüngeren Sohn, dem Sohn Gottes, erlauben, dieses alles Mögliche auch als "leeres Stroh" auszuräumen und stattdessen seine Kerze in die Schlosshalle zu stellen. Christus will in dieser Heiligen Nacht auch unseren Lebensraum mit seinem Licht der Gnade erfüllen. Er kommt vom Licht der Gnade Gottes her und ist selbst das Licht der Welt. Er ist "Licht vom Licht" und deshalb "wahrer Gott vom wahren Gott", wie wir es im Grossen Glaubensbekenntnis ausdrücken. Dieses Licht dürfen wir empfangen vom Glanz des Herrn, der den Engel, der in der Weihnachtsgeschichte des Lukas die frohe Botschaft verkündet, umstrahlt (Lk 2, 9).

Öffnen wir in dieser Nacht die dunkle Schlosshalle unseres Lebens für Christus, damit er sie mit seinem Licht bis in die letzten Winkel hinein erfüllen kann. Dann geht uns vollends auf, dass wir Christen mit bestem Recht die Nacht gern haben dürfen. Sie ist uns Heilige Nacht, Geweihte Nacht, Weih-Nacht. Denn sie ist jene Nacht, in die hinein uns Jesus Christus geboren ist als das Licht, das in der Finsternis der Nacht leuchtet. Mitten in der Nacht der Menschen  - das ewige Licht Gottes: Dies ist die wahrhaft Frohe Botschaft von Weihnachten, deren Freude und Trost ich Ihnen von Herzen wünsche: Gesegnete und lichtvolle Weih-Nacht!

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[1]  Vgl. F. Kamphaus, Zwischen Nacht und Tag. Österliche Inspirationen (Freiburg i. Br. 1998) 50.

Der Schweizer Kardinal Kurt Koch ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Der ehemalige Bischof von Basel hat über 60 Bücher und Schriften verfasst, darunter Mut des Glaubens (1979) und Eucharistie (2005). (Foto: Paul Badde / EWTN).