6. August 2020
Heute, am Tag der Verklärung Christi, wird in Manoppello das älteste Fest des Schweißtuchs Christi in den Abruzzen gefeiert. Dies nehmen wir zum Anlass, aus dem "VATICAN-Magazin" einen bemerkenswerten Aufsatz Klaus Bergers zu veröffentlichen, in dem er die überragende Rolle untersuchte, die kostbare Stoffe und Gewebe von Anfang an in der Liturgie des eucharistischen Messopfers in allen Kirchen von Ost und West gespielt haben und spielen.
Im apokryphen Hebräer-Evangelium – das im zweiten Jahrhundert entstand – erscheint der auferstandene Jesus einem Sklaven des Hohenpriesters, um ihm ein Stück Grableinwand zu übergeben. Ganz offensichtlich sollte das, was auf diesem Stück Stoff zu sehen war, die Auferstehung beweisen, ja den Hohepriester und den Sanhedrin die Gottheit Jesu Christi vor Augen führen. Von diesem Evangelium kennen wir nur jene Textfragmente, die der heilige Bibelübersetzer Hieronymus zitiert hat (Hieron, vir. ill.2). Gerade deswegen gelten die überlieferten Passagen als vertrauenswürdig. Zudem ist der Text in hohem Maße jüdisch geprägt und spiegelt somit das Wissen der judenchristlichen geprägten Gemeinden rund hundert Jahre nach Passion, Kreuzigung und Auferstehung Jesu wieder. Da die Grableinwand hier ganz offenbar als Beweisstück verwendet wird, könnte man sogar fragen, ob die Tücher aus dem Herrengrab in Leben und Gottesdienst der Christen nicht schon immer eine besondere Bedeutung hatten.
Ich meine ja, wenn man neben schriftlichen Quellen die Liturgie befragt. Werfen wir hierzu einen Blick auf die Evangelien, die mehrfach von den Tüchern berichten. Johannes unterscheidet in seinem Kapitel 20 von der Entdeckung des leeren Grabes sogar zwei verschiedene: das Schweißtuch, das dort lag, wo Jesu Haupt gelegen hatte, und das Leichentuch, das den Rest des Körpers Jesu bedeckte und umwickelte. Vom Schweißtuch wird sorgfältig und eigens berichtet, dass es innerhalb der Grabkammer "zusammengefaltet an einer besonderen Stelle" lag.
Weil nun aber die heilige Messe das Gedächtnis von Jesu Tod und Auferstehung ist, deutet man die Altartücher als eben diese Grabtücher. Denn sie zeigen Jesu Tod an, weil Tote so eingewickelt werden (im Orient werden übrigens noch heute Tote in Tücher gewickelt, wo man kein Holz für Särge hat). Und weil die Grabtücher Jesu bei seiner Auferweckung überflüssig wurden, sind sie Beweisstücke für die Auferstehung. Die Tücher verbinden daher beide Ereignisse.
Viele alte Liturgien kennen diese Verbindung. So enthält die äthiopische Liturgie bis heute ein "Gebet über den Grabtüchern". Und auch die für äthiopische Segenskreuze typische Gewebestruktur deutet genau auf diesen Verhüllungsaspekt hin. Sehr oft fehlt hier sogar der Korpus oder er wird durch kleine Metalltürchen verdeckt. Ganz offensichtlich soll damit das eigentliche obszöne Kreuzigungsgeschehen dem höhnischen Blick der Menschen entzogen werden. Es ist aber auch gut möglich, dass hier schon die Grabtücher das Kreuz einhüllen, um Grablegung und Auferstehung vorwegzunehmen.
Die Verhüllung der eucharistischen Gaben durch Leinentücher war auch in der altgeorgischen Liturgie üblich. Es gab eine Verhüllung der Gaben, dann die Wandlung, dann die Enthüllung. Für den Osten war VerhüllungEnthüllung überaus wichtig. Daher die Definition: "Eucharistie ist Enthüllen der verhüllten Symbole, Offenlegen der Rätsel, Entkleidung der Bildstatuen".
Und auch in der römischen Kirche verwendete man schon bald im ersten christlichen Jahrtausend weiße Leinentücher, um die Patene und den Kelch einzuwickeln. Denn Christus wird in der heiligen Messe leibhaftig gegenwärtig. Eingewickelt wurden Patene und Kelch auf den Altar getragen. Und nach der Wandlung vor der Kommunion wurden sie enthüllt. Daher heißt es noch heute: "Seht, das Lamm Gottes…": Ähnlich wie in der Passionszeit die Kreuze verhüllt und am Karfreitag enthüllt werden, war es in jeder Messe. Brot und Wein beziehungsweise ihre Gefäße wurden verhüllt und, konsekriert, neu enthüllt. Denn man konnte sie nun mit anderen Augen und "ganz neu" sehen.
Einige identifizierten das große weiße Altartuch mit dem Grabtuch Jesu, das heute in Turin aufbewahrt wird. Die Altäre nahmen daher schon bald die Form des Grabes an, und zwar in Form der Grabbank, wie wir sie in den so genannten "Troggräbern" aus dem antiken Jerusalem kennen und wie wir uns auch das Heilige Grab Christi in seinem Ursprung vorstellen müssen oder das Grab Mariens am Fuß des Ölbergs. Das geschah in Deutschland noch um das Jahr 900. Die Patene hingegen wurde durch jenes Gewebe umhüllt, das bei Johannes 20 "Schweißtuch" heißt und das heute als Tuch von Manoppello verehrt wird.
Die meisten Nachrichten zu dieser Sache verdanken wir dem karolingischen ChefLiturgiker Amalar von Metz (um 775 – um 850) und seinen LiturgieKommentaren. Noch bei Amalar soll das Schweißtuch (in Entsprechung zu Joh 20,6), "an ei ner gesonderten Stelle" in der oberen Ecke des Altares liegen.
Als das Leichentuch (Sindon) sah man dann später nicht das ganze Altartuch an, sondern nur noch das so genannte Corporale, auf dem der Priester die Opfergaben abstellt. Zudem entwickelte sich aus einer Spitze dieses Paraments, mit dem der Kelch abgedeckt wurde, ein zweites Corporale, die so genannte Palla oder Kelchtuch. Es wird erstmals Mitte des elften Jahrhunderts erwähnt. Das Kelchtuch deutete man nun als Schweißtuch Christi, das im Grab dessen Haupt verhüllt hatte. Im römischen Messritus werden übrigens Kelch und Patene bis zur Opferung vom Subdiakon mit Sindon (unten) beziehungsweise Palla (oben) bedeckt. Auch hier findet ein Drama der Verhüllung und Enthüllung statt. Es hatte also mit der Zeit eine Verschiebung der Symbolik von großem Altartuch, Corporale und Palla stattgefunden. Nur noch bei den Kartäusern wird bis heute die Einwickelung Jesu mit nur einem Tuch angenommen: Einen Zipfel des unteren Leichentuches (Corporale) tauchen sie in den Wein im Kelch. Die übrigen alten Liturgien schließen sich dem an, was bei Johannes 20 steht.
Es gibt mindestens ein Zeugnis dafür, dass sich auf einem solchen Tuch während der Messe wundersam das Antlitz Christi abbildete. Gemeint ist das Blutwunder von Walldürn, wo um 1330 ein unachtsamer Priester den Kelch mit dem konsekrierten Wein umstieß, worauf sich auf dem Corporale das Bild des Gekreuzigten und elf einzelne Häupter Christi mit Dornenkronen zeigten. Wenn man dieses Tuch gegen das Licht hielt, war der Abdruck deutlich zu sehen. Noch heute zeigt er sich unter technischer Beleuchtung.
Und genau dieses ist der Rahmen, innerhalb dessen auch die liturgische Funktion des Tuches von Manoppello verstehbar wird. Denn weil Jesus real gegenwärtig ist, prägt sich sein Antlitz in das Tuch ein, das sein Gesicht bedeckt. Auf der Innenseite eines Corporale–Kästchens aus dem Bayrischen Nationalmuseum in München ist genau das Antlitz Jesu aus den Schweißtüchern abgebildet. Das heißt: Auch hier denkt man an eine enge Verbindung zwischen den Altartüchern der Messfeier und dem Schweißtuch Jesu. Dass sich Jesu Antlitz auf dem Tuch abbildet, ist wie bei der so genannten Gregorsmesse zu verstehen: Bei der Wandlung erscheint Papst Gregor der blutende Christus. Zu der Ikonographie dieses Wunders gehört bis heute ein transparentes Schweißtuch mit dem Antlitz Christi auf dem Altar vor dem zelebrierenden Papst Gregor, so wie es etwa Maler wie Michael Wolgemut abbildeten.
In Johannes 11,4 wird gesagt, dass auch das Antlitz des toten Lazarus mit seinem Schweißtuch bedeckt war. Das war demnach allgemeinere Sitte. Warum? Das Schweißtuch bedeckt Mund und Nase des Toten, durch die seine Seele (in einem längeren Vorgang) seinen Leib verließ. Die Seele eines Menschen aber ist vor bösen Geistern zu schützen, die sie rauben wollen (wie wir auch im Judasbrief 8 lesen). Nebenbei: Auch der Schleier einer Braut soll die bösen Geister, die die Fruchtbarkeit schädigen, von ihr fernhalten. Der Schleier hat also Abwehrfunktion gegen das Böse. Das Sudarium Christi wäre dann so etwas wie der "Schleier des Bräutigams".
Und noch ein Gedanke, denn das in jeder Messe sich ereignende Wunder der Transsubstantiation hat seine Entsprechung in den Leichentüchern: Was am Freitag ins Grab gelegt wurde, ist am Ostermorgen nicht mehr dasselbe, sondern zum Bild hin verwandelt – ebenso wie Brot und Wein nach den Wandlungsworten zum Leib und Blut Christi. Wir können somit auch von einer Wandlung der Tücher im Grab Christi sprechen.
Es gibt somit gute Gründe dafür, anzunehmen, dass schon seit frühester Zeit die im Grab verbliebenen Leichentücher Christi eine liturgische Funktion einnahmen. Wie weit man dabei aufgrund des Bilderverbots und der Reinheitsgesetze gehen konnte, bleibt offen. Jedenfalls hielten sie – unter einigen Bedeutungsverschiebungen – Einzug in die Liturgie der katholischen Kirche und vor allem auch der Ostkirchen. Unabhängig von der Rekonstruktion ihres geschichtlichen Weges haben wir hier real greifbare Indizien für ihre physische Existenz und ihre spirituelle und liturgische Wirkmacht durch zwei Jahrtausende. Die Bedeutung der Grabtücher für die überlieferte Liturgie kann man jedenfalls nicht wegdiskutieren.
Erschienen im Vatican-Magazin 8/2019. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.
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