München - Mittwoch, 11. Oktober 2023, 6:30 Uhr.
Nachdem das muslimische Land Aserbaidschan monatelang das armenisch-christliche Bergkarabach durch eine Belagerung, die einer vollständigen Blockade gleichkam, ausgehungert hatte, haben die aserbaidschanischen Streitkräfte Bergkarabach durch einen militärischen Überfall vollständig erobert. Fast die gesamte Bevölkerung ist vor den Okkupationstruppen nach Armenien geflohen. Durch diese gewaltsame Vertreibung wurde Bergkarabach tatsächlich besiegt, sodass sich die rechtmäßige Regierung gezwungen sah, den Staat zum 1. Januar 2024 auch rechtlich aufzulösen. Damit verschwindet nicht nur der Staat Bergkarabach von der Landkarte, sondern auch eine uralte christliche Kulturlandschaft.
Der völkerrechtswidrige Angriff Aserbaidschans entpuppt sich aber auch als eine Christenverfolgung, da die Staatsbürger von Bergkarabach in einem islamische Staat Aserbaidschan keine Möglichkeiten haben, ihrer christliche Kultur entsprechend zu leben. Sie mussten deshalb vor den tödlichen Angriffen fliehen, um ihr Leben zu retten, wobei sie ihr Hab und Gut zurückließen. Die Vertreibung und die Eroberung Bergkarabachs wirft also nicht nur völkerrechtliche Fragen auf, sondern auch religiös-kulturelle.
Lothar C. Rilinger sprach deshalb für CNA Deutsch mit dem Projektleiter der Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International (CSI), Joel Veldkamp, über die sehr prekäre politische und religiöse Lage der christlichen Armenier aus Bergkarabach.
Herr Veldkamp, nach einer neunmonatigen Blockade hat Aserbaidschan die demokratische Republik Bergkarabach erneut militärisch angegriffen. Wie ist die aktuelle Situation?
Praktisch die gesamte armenische Bevölkerung wurde in die Republik Armenien evakuiert. Wir sind Zeugen einer der schnellsten und umfassendsten ethnischen Säuberungsaktionen der jüngeren Geschichte geworden – in nur sieben Tagen, zwischen dem 24. September und dem 1. Oktober 2023, wurden über 100.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Tausende von Menschen werden noch immer vermisst, und Aserbaidschan hat damit begonnen, hochrangige Mitglieder der gewählten Regierung von Bergkarabach zu entführen und als Geiseln zu nehmen.
Wie sehr leidet die Bevölkerung unter dem Angriff?
Die Bevölkerung litt enorm unter dem Angriff, nachdem eine neunmonatige Belagerung zu einer rekordverdächtigen Unterernährung und einem Mangel an Medikamenten und Treibstoff geführt hatte. Eine bislang unbekannte Zahl von Menschen wurde bei dem Angriff getötet oder verwundet. Da Aserbaidschan bei seinem Angriff die Kommunikationsverbindungen in der Region lahmgelegt hat, wissen wir in vielen Dörfern nicht, was während des Angriffs geschah – und werden es vielleicht nie erfahren. 50.000 Menschen flohen aus ihren Häusern, um dem Bombardement zu entgehen, und begaben sich in die Hauptstadt Stepanakert, wo sie in Kellern, Kirchen und unter freiem Himmel schliefen. Das Krankenhaus von Stepanakert war überschwemmt mit Verwundeten, für die es keine Medikamente gab. Nach dem „Waffenstillstand“ blockierten aserbaidschanische Truppen die Straßen und hinderten die Menschen daran, zwischen den Städten zu reisen oder die Verwundeten zu evakuieren. Am 24. September 2023 gaben die russischen Friedenstruppen schließlich bekannt, dass die Straße für die Menschen, die das Gebiet verlassen wollten, wieder frei sei. Eine 100 km lange Schlange von Autos verließ Stepanakert. Da die Straße so überfüllt war, brauchten die meisten Menschen zwischen 20 und 35 Stunden für diese Fahrt, die normalerweise 2,5 Stunden dauert. Die Menschen hatten kaum Habseligkeiten dabei und oft passten 10 Personen in ein Auto. Mehrere Menschen starben auf der langen Fahrt an Durst und Stress.
Die USA, die UNO und andere Akteure verurteilen zwar den Angriff, ziehen aber keine stärkeren Konsequenzen. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Die USA, das Vereinigte Königreich, die EU und Russland streben alle eine Partnerschaft mit Aserbaidschan an, das mit seiner mächtigen Armee, seinen riesigen Energiereserven und seiner strategischen Lage für beide Seiten des derzeitigen westlich-russischen Konflikts von großem Nutzen wäre.
Es geht nicht zu weit, zu sagen, dass die USA, das Vereinigte Königreich, die EU und Russland Aserbaidschan für die ethnische Säuberung von Bergkarabach keine Konsequenzen auferlegen wollten, sondern dies als Lösung ihrer Probleme ansahen. Die russischen Friedenstruppen in Bergkarabach hielten sich zurück und ließen den aserbaidschanischen Angriff zu. Die USA warteten acht Stunden, um den Angriff zu verurteilen, und verurteilten ihn dann nur sehr milde, während Präsident Biden den aserbaidschanischen Außenminister am zweiten Tag des Angriffs zu einem privaten Empfang mit Fototermin einlud.
Russland hofft sicherlich, dass Aserbaidschan nun, da es Aserbaidschan gegeben hat, was es wollte, ihm helfen wird, die Sanktionen zu umgehen und sich aus dem westlichen Lager herauszuhalten. Ohne die Armenier von Bergkarabach kann der Westen nun versuchen, sowohl Armenien als auch Aserbaidschan in sein Lager zu holen, ohne dass territoriale Streitigkeiten oder unangenehme moralische oder humanitäre Krisen im Wege stehen.
Am 5. Oktober 2023 hätte es unter Leitung von Kanzler Scholz zu Friedensgesprächen kommen sollen. Was wurde daraus?
Aserbaidschan weigerte sich, an diesen Friedensgesprächen teilzunehmen. Offenbar aus Protest gegen die Entscheidung Frankreichs aus dieser Woche, Waffen an Armenien zu verkaufen. Seit 2020 gehen die von den USA und der EU geführten Friedensgespräche zwischen Armenien und Aserbaidschan von der Zugehörigkeit Bergkarabachs zu Aserbaidschan aus. Kein von diesen Parteien vermitteltes Friedensabkommen wird zu einer Rückgabe Bergkarabachs an seine armenische Bevölkerung führen. Das Einzige, worauf wir hoffen können, ist, dass Aserbaidschan davon abgehalten wird, die Republik Armenien anzugreifen und noch mehr armenisches Land zu erobern – und selbst dieser magere Nutzen erscheint im Moment sehr zweifelhaft. Aserbaidschan beansprucht die gesamte Republik Armenien als „unser historisches Land“, in das „wir zurückkehren müssen“. Bislang hat Aserbaidschan keinerlei Konsequenzen für die gewaltsame Aneignung seines Besitzes hinnehmen müssen. Warum sollte es jetzt damit aufören?
Wird es zu einer vollständigen Vertreibung der Karabach-Armenier kommen?
Das ist bereits geschehen. Nach Angaben einer UN-Beobachtungsmission, die letzte Woche Karabach besuchte, leben dort noch zwischen 50 und 1.000 Armenier, vor dem Angriff waren es rund 120.000.
Was sind die Konsequenzen für die Jahrtausende alte christliche Kultur dort?
Die jahrtausendealte christliche Kultur in Bergkarabach wurde durch die vollständige Abwanderung der christlichen Bevölkerung zerstört. Das materielle Erbe, das diese Kultur hinterlassen hat, ist in großer Gefahr. Unabhängige Beobachter haben bereits Videoaufnahmen bestätigt, auf denen aserbaidschanische Soldaten ein Kloster aus dem 13. Jahrhundert im Dorf Charektar beschießen. Aserbaidschanische Behörden haben bestritten, dass das prächtige Gandzasar-Kloster aus dem 13. Jahrhundert armenischen Ursprungs sei. In der Vergangenheit hat Aserbaidschan behauptet, dass armenische Inschriften auf alten armenischen Kirchen Fälschungen seien, und sie unter dem Deckmantel von Restaurierungsarbeiten zerstört.
Aserbaidschan hat zwischen 1997 und 2005 in seiner Region Nachitschewan jede Spur des armenischen Erbes – Dutzende von Kirchen und Tausende von Denkmälern – zerstört. Seit 2020 hat Aserbaidschan mehrere Kirchen in dem von ihm besetzten Gebiet Karabachs entweiht oder zerstört. Wir können mehr davon erwarten.
Aserbaidschan argumentiert, dass es nur sein eigenes Territorium wieder unter Kontrolle bringen will und vergleicht die Situation mit der Ukraine. Wie bewerten Sie diese Sichtweise?
Diese Sichtweise ist unsinnig. Sowohl die Ukraine als auch Bergkarabach haben sich gegen unprovozierte Invasionen autoritärer Staaten verteidigt, die ihre Zivilbevölkerung angreifen und ihr die nationale Identität und das Recht auf Existenz absprechen. Dies ist sicherlich der treffendere Vergleich.
Anders als Donezk oder die Krim in der Ukraine war Bergkarabach nie Teil eines unabhängigen aserbaidschanischen Staates. Bergkarabach wurde nicht 2023 unter aserbaidschanische Kontrolle „zurückgebracht“, sondern Aserbaidschan hat Bergkarabach 2023 erstmals erobert.
Infolge willkürlicher Entscheidungen der Führung der Sowjetunion im Jahr 1921 war Bergkarabach eine autonome Oblast innerhalb der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Führung von Bergkarabach erklärte 1991 auf der Grundlage des sowjetischen Sezessionsgesetzes rechtmäßig die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, eine Erklärung, die in einem Referendum bestätigt wurde. Die Weigerung der Sowjetunion, Aserbaidschans und anderer Staaten, diese Unabhängigkeitserklärung anzuerkennen, hatte politische, nicht rechtliche Gründe.
Selbst wenn man den Standpunkt Aserbaidschans akzeptiert, dass die aus der Sowjetzeit stammenden Grenzen seiner Teilrepubliken für alle Zeiten zu den unanfechtbaren Grenzen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion werden sollten, berechtigt dies Aserbaidschan nicht dazu, dies mit kriegerischen Mitteln durchzusetzen. In der Schlussakte von Helsinki von 1975 geht der Grundsatz der territorialen Integrität Hand in Hand mit zwei anderen völkerrechtlichen Grundsätzen: dem Recht der Völker auf Selbstbestimmung und dem Verbot der Gewaltanwendung. Die OSZE hatte einen auf diesen drei Prinzipien basierenden Friedensprozess für Karabach geleitet, zu dem sich Aserbaidschan öffentlich bekannt hatte. Stattdessen warf Aserbaidschan im Jahr 2020 zwei dieser Grundsätze in den Papierkorb und beschloss, sich mit Gewalt zu nehmen, was es wollte, ohne Rücksicht auf die Menschen, die dort lebten, und ohne Rücksicht darauf, wie viele Menschen dabei getötet oder vertrieben wurden. Ganz anders als die Ukraine!
Wir danken für diese Einschätzung.