Jerusalem - Donnerstag, 13. April 2017, 16:55 Uhr.
Bei den Restaurierungen des heiligen Grabes Christi im Herzen der Altstadt Jerusalems wurde im letzten Oktober erstmals seit Jahrhunderten die Marmorplatte entfernt, und darunter eine zweite, die dort das eigentliche Grab bedecken. Es war eine Sensation, die es in alle Nachrichtensendungen der Erde schaffte.
Doch die Sensation bestand vor allem darin, dass dieser spektakuläre Eingriff nur bestätigte, was in Jerusalem schon seit 1.700 Jahren geglaubt und für gewiss erachtet wurde: dass sich nämlich hier, einen Steinwurf vom Golgathafelsen entfernt, in einem alten Gartengelände unter diesen Steinplatten immer noch die Bank jenes neuen Troggrabes befand, das Joseph von Arimathäa für sich aus dem Felsen hatte heraus hauen lassen und das er dann für den Leichnam Jesu von Nazareth am ersten Karfreitag der Geschichte zur Verfügung stellte.
Der konkrete Ort der Kreuzigung
"Als wir den Gipfel des Golgatha freilegten", sagt Theo Mitropoulos, "hatte den Ort schon seit 800 Jahren kein Auge mehr gesehen, er war ganz mit Schutt bedeckt und darüber mit Marmor. Diese Stelle da vorne aber war unter einer Kalkschicht noch einmal extra mit einer Marmorplatte versiegelt." Er schiebt eine Vase zur Seite, knipst hinter dem Altar eine kleine Lampe an und zeigt auf einen zerbrochenen steinernen Ring in einer Mulde des Felsblocks aus aschgrauem Kalkstein unter der Glasplatte. "Das ist die Stelle, wo der Herr gekreuzigt wurde. Wir hatten sie nicht gesucht. Wir hatten keine Vorstellung, hier irgendetwas außer dem nackten Felsen zu finden und waren unglaublich berührt, als wir plötzlich diesen Ring entdeckten. Denn mir war gleich klar, dass dies die Stelle war, die seit frühester Zeit als der konkrete Ort der Kreuzigung verehrt wurde."
Das ist nun schon rund zehn Jahre her und vielleicht dennoch erst heute zu begreifen, jetzt in der neuen Einsamkeit der Grabes- und Auferstehungskirche von Jerusalem, in der früher das Scharren der Füße der stillen Pilger und lärmenden Touristengruppen von morgens bis abends kein Ende nahm. Rund 6.000 Besucher stiegen vor zwei Jahren noch täglich über die Treppe rechts hinter dem Eingangstor in die Golgathakapelle hoch, wo jetzt fast nur noch einige Griechen, Franziskaner und armenische, koptische und äthiopische Nonnen und Mönche den einsam gewordenen Ort bewachen – und einige heilige Narren, die seit jeher wohl immer der sicherste Ausweis für die Authentizität heiliger Orte gewesen sind.
Freilich gerade der anwachsenden Pilgermassen wegen hatte das griechische Patriarchat von Jerusalem den Architekten Mitropoulos aus Thessaloniki 1986 zusammen mit George Lavas den Auftrag erteilt, die Kapelle gründlich zu restaurieren und dabei um den Altarbereich auch den darunter liegenden Felsen freizulegen. Die Marmorplatten, die den Bereich verhüllten, sollten sie durch dicke Glasplatten ersetzen. Davor konnten die Pilger nur unter dem Altar durch ein eingefasstes Loch durch die Verkleidung greifen in dem frommen Glauben, auf dem Grund den Golgathafelsen zu berühren, auf dem Jesus von Nazareth hingerichtet wurde. Was sie glaubten, können wir heute mit eigenen Augen sehen. Es ist eine Sensation.
Schicht um Schicht zum Schädelberg
"Nach vielen Voruntersuchungen haben wir sehr langsam und vorsichtig zu arbeiten begonnen", sagt Mitropoulos. "Wie haben die Verkleidungen des 19. Jahrhunderts entfernt und sorgfältig den Erdbebenriss untersucht, der den Felsen von oben bis unten geteilt hat, 16 Meter tief. Dann haben wir Schicht für Schicht des Füllmaterials und des Kalkverputzes abgetragen, bis zur Zeit des Modestos, der im 6. Jahrhundert als erster mit Konstruktionsarbeiten einer Kapelle auf dem Hügel begonnen hat. Modestos hat den Felsen wohl auch mit dem ersten felsfarbenen Kalkverputz versiegelt, um ihn vor dem Regen und den Pilgern zu schützen."
Davor war man weniger zimperlich mit dem Felsen umgegangen. Zur Zeit Jesu war der Golgatha der letzte stehen gelassene Felsklotz eines Steinbruchs, dessen Qualität für den Hausbau nicht mehr taugte, als ihn die Römer für ihre Hinrichtungen zu nutzen begannen. Die Architekten Kaiser Konstantins hatten ihn später an drei Seiten kurzerhand noch einmal soweit abgetragen, dass er in die neue Basilika hineinpasste, die der Imperator 325 zu Ehren der Passion und Auferstehung Christi hier zu bauen befohlen hatte. Nur einen hochaufragenden Kern aus dem Mittelstück des felsigen Hügels hatten sie unangetastet gelassen.
"Touristen-Grafitto" aus dem 4. Jahrhundert
Ein paar Handbreit vor der verborgenen Mulde auf dem Gipfel hatte Mitropoulos auch das "Grafitto" einer kreuzförmigen Windrose in einem Quadrat aus dem 4. Jahrhundert gefunden, exakt wie ein Kompass, und quasi als Signatur des Ortes, die nicht nur eine erste Kreuzdarstellung enthält, sondern in der Form des griechischen Chi ("X") auch ein Christusmonogramm in der Figur des "mundus quadratus". Das ist ein Abbild der ganzen Welt. "Danach war völlig klar, dass es sich bei dem Steinring in der Mulde um jene Verankerung handeln musste, von der die Pilgerin Aetheria im 4. Jahrhundert berichtet, dass in ihm in der Karwoche das originale Kreuz zur liturgischen Verehrung wieder auf dem Golgatha eingepflockt und aufgerichtet wurde, das die Kaiserinmutter Helena aufgefunden hatte."
Der Steinring selbst hingegen gab noch andere Informationen preis. "Sein Durchmesser beträgt elf Zentimeter. Das heißt, das Kreuz kann nur 2,20 Meter hoch gewesen sein, maximal 2,50. Wie der Querbalken oben mit dem Stamm verbunden war, ob mit Stricken oder einer eisernen Klammer, wissen wir nicht." Danach müssen wir uns dennoch eine viel nähere Vorstellung von der Kreuzigung machen. Denn anders als auf den meisten Darstellungen der Kreuzigung stand in diesem Ring ein roher runder Stamm, kein schön gehobelter Balken. Jesus hing nicht in erhabener Höhe. Die sich bei seinem Sterben um ihn scharten, hatten auf dem engen Gipfel kaum Platz. Der hier zu Tode gemartert wurde, muss in Greifweite vor den Augen seiner Mutter erstickt sein.
Am letzten Karfreitag senkte sich plötzlich dichter Nebel am Nachmittag über die Stadt Jerusalem, deren Licht so oft heller glänzt als an irgendeinem anderen Ort der Erde. Vor sechs Jahren wurde es hier sogar am helllichten Tag so dunkel, dass man kaum noch das nächste Haus erkannte. Es war zum Fürchten: die Sonne ein blasser Fleck in der Dunkelheit, weinende Kinder in den Nachbarhäusern, bedrückendes Atemanhalten der Schöpfung, Weltuntergangsstimmung. Seit alters her holt der "Chamsin" die Stadt im Frühling mit solchen Naturerscheinungen heim, in denen der Wüstenwind den Blick der Jerusalemiter mit puderfeinem Staub trübt und verstellt, den Verstand narrt und ihre Seelen ängstigt.
"Es war etwa um die sechste Stunde", schreibt der Evangelist Lukas über den ersten Karfreitag, "als eine Finsternis über das ganze Land hereinbrach. Sie dauerte bis zur neunten Stunde. Die Sonne verdunkelte sich", als Jesus mit einem lauten Schrei den Geist aushauchte.
Eine Insel mit eigener Zeit
Wer den Ort dieser Hinrichtung heute aufsucht, überschreitet mit dem Schritt durch die Pforte der Grabeskirche auch gleichzeitig eine Schwelle der Zeit um eine Stunde nach rückwärts. Denn innerhalb dieses Hauses gibt es keine Sommerzeit, wo sich der Status quo nicht nur auf die einzelnen Säulen, Kacheln und Fliesen erstreckt, sondern auch auf alle Stunden und Minuten: Da darf und wird nichts geändert oder verändert werden. Mitten in der Altstadt ist dieser Ort eine Insel mit eigener Zeit. Im 4. Jahrhundert haben Einheimische die Mutter Kaiser Konstantins hier erstmals an das Versteck geführt, wo sie seit 300 Jahren das Kreuz Christi verborgen gehalten hatten.
Doch erst im Jahr 1987 erteilte der griechische Patriarch den Archäologen Lavas und Mitropoulos den Auftrag, die Golgatha-Kapelle noch einmal gründlich zu untersuchen, die sich gleich rechts hinter dem Portal über einer steilen Treppe im ersten Stock befindet. Als die Wissenschaftler dort die Bodenabdeckung um den Altar entfernten, legten sie den Gipfel eines zehn Meter hohen Felsens in der Form eines Schädels in einem alten Steinbruch frei, der hier seit der Zeit der Kreuzfahrer unter Verputz und Marmorplatten abgedeckt geblieben war. Von einer starken Glasplatte geschützt, sind die Ausgrabungen heute von jedem Besucher selbst in Augenschein zu nehmen, leider besonders gut in diesen kriegerischen Tagen, wo Besucher oft ganz allein vor dem Gipfel stehen, den im Frieden etwa 6.000 Pilger pro Tag besucht haben.
Neben dem leeren Grab Christi ist es der heiligste Ort der Christenheit: ein großer grober Klotz aus grauem Kalkstein. Darin auf dem Gipfel eine künstliche Vertiefung, darin die Reste eines grob behauenen steinernen Rings.
Diente er wohl einmal zur Verankerung eines senkrechten Pfahls? Das wird keiner behaupten dürfen. War es aber so, dann muss man sich diesen Balken als rohes ungeschältes Rundholz vorstellen, keineswegs länger als drei Meter. Wer an ihm gehangen hat, muss unmittelbar vor den Augen der nächsten Zuschauer zu Tode gekommen sein, nicht in großer und vornehmer Höhe. Ein Meter weiter rechts durchzieht ein tiefer Riss den Gipfel von Ost nach West bis hinunter in den Fuß des Gesteins. "Die Erde bebte und die Felsen spalteten sich", schreibt Matthäus in seinem Passionsbericht. "Als der Hauptmann und die Männer, die mit ihm zusammen Jesus bewachten, das Erdbeben bemerkten und sahen, was geschah, erschraken sie sehr und sagten: Wahrhaftig, das war Gottes Sohn."
Wahrhaftig war er aber auch der Sohn seiner Mutter, die auf diesem Gipfel nur ganz nah dabei gestanden haben konnte, als er an Kopf und allen Gliedern blutend vor ihren Augen erstickte. Das enge Plateau ließ ja kaum Platz für Zuschauer, wo jetzt eine portugiesische Rokoko-Madonna in tränenlosem Entsetzen an sie erinnert, ihr Herz von einem Schwert durchbohrt: "Stabat mater." – "Am frühen Nachmittag begann im Tempel die feierliche Liturgie zur Vorbereitung des Pessachfestes", schrieb Gerhard Kroll 1964 in Leipzig in der DDR über diese Stunde.
"Vor den Augen des Hohen Priesters wurde ein makelloses Opferlamm geschlachtet. Dann versammelten sich die Ältesten der 24 Priesterordnungen, und es begann das hochheilige Sühneritual des Pascharüsttages. Der jüdische Historiker Josephus schätzt die Zahl der Lämmer, die dabei geschlachtet wurden, auf 18.000. Posaunen und Hornsignale verkündeten weithin hörbar das große Ereignis, dass Gott an seinem blutbesprengten Opferaltar mit seinem Volk Frieden und Versöhnung schloss – während draußen vor dem Tor der Stadt das wahre Lamm Gottes verblutete, von seinem Volk nicht erkannt, von seinen Jüngern verlassen, nur von einigen Frauen und einem Apostel beweint."
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