Historiker Wolf fordert „Paradigmenwechsel“ bei Rolle von Pius XII. während Holocaust

Hubert Wolf
screenshot / YouTube / Studium generale Mainz

Einen „Paradigmenwechsel“ in der Erforschung der Rolle von Papst Pius XII. während des Holocaust forderte der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Mit seinem Team untersucht er seit 2020 in den vatikanischen Archiven rund 10.000 Bittbriefe von Juden an den damaligen Papst.

„Was wir auch festgestellt haben: Der Papst allein macht gar nichts. Er ist total abhängig von seinen Mitarbeitern. Das heißt, er kann bei 80 Nuntiaturen und Tausenden von Bittschriften – die jüdischen Bittschriften machen ein Prozent der Briefe aus – gar nicht alle lesen“, erklärte der Historiker.

Somit sei Pius XII. „abhängig“ gewesen von dem, was seine Mitarbeiter auf den unteren Ebenen ihm vorlegten. Wolf wörtlich: „Wir können ganz genau sehen, dass eine Reihe von Sachen dem Papst einfach vorenthalten werden.“ Er habe zu bestimmten Dingen „gar nicht Stellung nehmen können“. Man müsse deswegen einen „Paradigmenwechsel vollziehen“.

Bislang wurde dem damaligen Papst in Forschung und Medienberichterstattung vorgeworfen, er habe seine Stimme nicht laut und deutlich gegen den millionenfachen Mord an den europäischen Juden erhoben.

Aufgrund dieser Erkenntnisse müsse man weg von der Frage „Pius XII. und der Holocaust“ und hin zu der Frage „die römische Kurie und der Holocaust“. Es habe in der Kurie „Antisemiten und Philosemiten, Judenhasser und Judenfreunde“ gegeben, die miteinander „ringen“, so Wolf.

Durch die Erschließung der neuen Akten könnte man nachvollziehen, dass sich der Papst als Vater aller Gläubigen verstanden habe, der überparteilich handeln sollte. „Er sagt, das oberste Gebot muss sein, der Papst darf im Krieg nicht Partei werden“, berichtete Wolf.

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Das Neutralitätsgebot habe ihn gezwungen, „1940 zur Ermordung von einer Million katholischer Polen nichts zu sagen“. Deshalb könne Pius XII. auch „1942 zur Ermordung von sechs Millionen Juden nichts mehr sagen“, so Wolf.

Pius XII. lasse allerdings manchmal reinblicken, dass ihn „diese Selbstfesselung fast zerreißt“. Wolf erklärte: „Der Diplomat Eugenio Pacelli in Pius XII. siegt da über den Mann, der gern was sagen wollte.“

Mehr in Vatikan

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Asking the Pope for Help“ hat das Team um Wolf bislang etwa 800 bis 900 der insgesamt rund 10.000 Hilfegesuche jüdischer Menschen an den Vatikan während des Pontifikats von Pius XII. transkribiert. Aufgrund dieser Briefe konnten bisher rund 80 bis 90 Fälle detailliert rekonstruiert werden.

„Wir haben Fälle, wo der Heilige Stuhl direkt hilft, indem es zum Beispiel darum geht: Ich brauche eine Wohnung in Rom, ich brauche Geld zum Überleben, ihr müsst mich verstecken“, so der Historiker. Im Moment deute sich an, dass „in mehr Fällen versucht wurde zu helfen“.

Man sehe auch in den Quellen, dass „sich offenkundig in der jüdischen Community herumgesprochen hat, wenn dir jetzt gar nichts mehr hilft, dann schreib dem Papst“. Dort bestehe noch „eine gewisse Aussicht auf Hilfe“.