Istanbul - Dienstag, 5. Mai 2020, 10:55 Uhr.
Die Hagia Sophia war einst das Zentrum der Orthodoxie, bevor sie in eine Moschee und dann in ein Museum umgewandelt wurde. In dieser ehemaligen byzantinischen Kathedrale, die seit 1934 offiziell religiös neutral ist, erklang am 23. März erneut der Ruf des Muezzins zum muslimischen Gebet. Nach 85 Jahren war dies das erste Mal am 3. Juli 2016 wieder geschehen.
Um die Beweggründe für dieses Ereignis herauszufinden, hat die internationale Päpstliche Stiftung Aid to the Church in Need (ACN) Etienne Copeaux, einen Historiker, der sich mit der zeitgenössischen Türkei befasst, interviewt. Er war ehemals Mitarbeiter des Französischen Instituts für anatolische Studien in Istanbul und Forscher am CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung). Er betreibt den Blog Susam-Sosak, der ganz der Türkei gewidmet ist. Das Interview führte Christophe Lafontaine.
Wie ist die Forderung der Muslime zu erklären, in der Hagia Sophia zu beten?
Die Forderung, dass die Basilika aus dem 6. Jahrhundert wieder für die muslimische Religionsausübung zurückgegeben werden soll, ist seit den Feierlichkeiten zur 500. Jahrestag der Einnahme von Konstantinopel im Jahr 1953 stark gegenwärtig. Anlässlich der Einnahme der Stadt (der "Fetih“) feierte der Sultan den Sieg in der Hagia Sophia und wandelte diese ipso facto in eine Moschee um. Diese Geste verlieh der Basilika einen sakralen und islamischen Charakter und machte sie zu einem Symbol des Islam, obgleich paradoxerweise ihr griechischer, christlicher Name beibehalten wurde: "Aya Sofia“. Atatürk, der Gründer und von 1923 bis 1938 erste Präsident der türkischen Republik, hat 1934 zum großen Ärger der Gläubigen entschieden, die Hagia Sophia zu säkularisieren und sie in ein Museum zu verwandeln, das sie bis heute geblieben ist.
Stellt die Frage des muslimischen Gebetes in der Hagia Sophia eine Zurückweisung der von Atatürk gewollten Laizität dar?
Das Gedenken im Jahr 1953, das alles in allem eine ziemlich einfache Zeremonie war, fand in einer anti-laizistischen Periode statt, einer Zeit der Rückkehr des Religiösen unter der Regierung der Demokratischen Partei von Adnan Menderes (1950-1960), der 1956 in Konya erklärte: "Die türkische Nation ist muslimisch.“ Diese Aussage, die den Charakter der Türkei, die nach dem Völkermord an den Armeniern, der Ausweisung der orthodoxen Griechen und den Pogromen an den Juden de facto zu 99 Prozent muslimisch geworden war, widerspiegelt, wurde zum Lieblingsslogan der extremen Rechten in der Türkei.
Als der politische Islam von Juni 1996 bis Juni 1997 wieder an die Macht kam, versprach Premierminister Necmettin Erbakan seinen Wählern, die Basilika dem Islam zurückzugeben. Er blieb nicht lange genug an der Macht, um diesen Plan zu verwirklichen.
Zur selben Zeit, nämlich von 1994 bis 1998, war Recep Tayyip Erdogan Bürgermeister von Istanbul und formulierte dieselben Absichten. Doch er wurde 1998 durch die Armee abgesetzt und sogar für die "Verletzung der Laizität“ inhaftiert.
2018 rezitierte Erdogan als türkischer Präsident den ersten Koranvers in der Hagia Sophia und erklärte im März 2019, er wolle den Status eines Museums in den einer Moschee umwandeln. Steht der Gebetsruf vom 23. März damit im Zusammenhang?
Ich meine, dass viele Maßnahmen, die Erdogan seit 2002 und insbesondere im Jahr 2012 getroffen hat, zum einen ein politisches Ziel haben, das 50 Jahre zurückgeht, und zum anderen als eine Rache für die Verletzung gesehen werden können, die ihm seine Absetzung 1998 zugefügt hat. So ist auch das Gebet von vergangenem März in meinen Augen nichts anderes als ein (für den Augenblick) bescheidenes Ergebnis eines langen Prozesses. Vor allem darf man das Regime von Erdogan nicht als einen Bruch betrachten, sondern es ist Teil einer langen national-islamischen Geschichte, die sich nicht immer unterirdisch vollzogen hat.
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Wie können die Christen in der Türkei reagieren?
Die Christen in der Türkei, und vor allem der Überrest der orthodoxen Bevölkerung, deren größter Teil 1914, 1955 und 1964 in Wellen ausgewiesen wurde – um nicht von der Vertreibung der Orthodoxen aus Nordzypern im Jahr 1974 zu sprechen – ist angesichts des von ihnen Erlebten extrem zurückhaltend. Die Anweisung, sich zurückzuhalten, wird sogar von den religiösen Führern beharrlich wiederholt: keine hohen Wellen zu schlagen, sich nie zu beklagen. Die Reaktionen der Orthodoxie können in der Türkei nur über den offiziellen Weg des Ökumenischen Patriarchates von Konstantinopel laufen. Aber der Erfahrung nach sind die Treffen zwischen dem Patriarchen und den türkischen Behörden oft sehr konventionell, sehr diplomatisch. Wird die griechische und russische Orthodoxie passiv bleiben, wenn die Basilika wie im Jahr 1453 der muslimischen Religionsausübung überlassen werden sollte? Angesichts des komplizierten Kontextes der Beziehungen mit Russland aufgrund des Syrienkonflikts ist es ziemlich unwahrscheinlich.
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