"Die Kirche in Deutschland weiß sich verpflichtet": Erzbischof Heße zum Kirchenasyl

Migration und Menschenrechte: Interview mit dem Hamburger Oberhirten und Flüchtlingsbeauftragten der deutschen Bischöfe

Erzbischof Stefan Heße (54) ist seit 2015 der Flüchtlingsbeauftragte der deutschen Bischofskonferenz.
Erzbistum Hamburg/Guiliani/von Giese co-o-peration

Herr Erzbischof, die Kirche gewährt seit Jahrhunderten über Kontinente hinweg Flüchtlingen und schutzbedürftigen Migranten Asyl. Wie unterscheidet sich dieser wichtige christliche Dienst in der gegenwärtigen globalen Migrations- und Flüchtlingskrise von der Situation in früheren Jahrhunderten? 

Erzbischof Stefan Heße: Die biblischen Texte zeichnen sich durch eine besondere Sensibilität für die Anliegen von Menschen auf der Flucht aus. Die Fürsorge für Schutzsuchende zieht sich deshalb auch wie ein roter Faden durch die Geschichte der Kirche. Was über die Jahrhunderte gleich geblieben ist, ist der theologisch-ethische Imperativ: Da es Christus selbst ist, der uns in Schutzsuchenden entgegentritt, dürfen Christinnen und Christen nicht einfach wegsehen.  Wir sind zu konkreter Nächstenliebe aufgerufen! Was sich über die Jahrhunderte immer wieder ändert, sind die Mittel und Wege, um Flüchtlingen und Migranten die notwendige Unterstützung zukommen zu lassen: sei es in der Seelsorge, im karitativen Dienst oder im politischen Einsatz für eine gerechte Ordnung. 

In Deutschland ist die Praxis des Kirchenasyls ein Teil dieser Tradition. Die mutige Haltung von Mutter Mechtild ist ja auch vom Vatikan anerkannt worden. Wie wichtig ist die Praxis des "Kirchenasyls", d.h. der Gewährung von Kirchenasyl für schutzbedürftige Migranten und Asylsuchende - gelegentlich im Widerspruch zu Landes- oder Bundesgesetzen -, um eine Abschiebung zu vermeiden?

Zunächst einmal darf gerade beim Thema "Kirchenasyl" der geschichtliche Kontext nicht außer Acht gelassen werden. In früheren Jahrhunderten waren Kirchen oft Orte mit eigener Gesetzlichkeit, an denen Menschen auf Schutz vor grausamer Bestrafung hoffen konnten. Heute findet das staatliche Recht selbstverständlich auch in Gebäuden und Räumen der Kirche Anwendung. Allerdings zeichnet sich der Rechtsstaat, in dem wir leben, gerade auch dadurch aus, dass eine behördliche und gerichtliche Entscheidung überprüft und gegebenenfalls revidiert werden kann. Es kann durchaus vorkommen, dass einem Schutzsuchenden im Falle einer Ausreise aus Deutschland unzumutbare Härten drohen. Kirchengemeinden und Ordensgemeinschaften, die in einem engen persönlichen Kontakt mit dem Betroffenen stehen, müssen dann schwierige Abwägungen treffen. Wenn sie sich entscheiden, Kirchenasyl zu gewähren, handelt es sich in der Regel um das letzte verfügbare Mittel, um Menschenrechtsverletzungen oder andere humanitäre Härten abzuwenden. Sie treten mit den staatlichen Stellen in einen Dialog ein, damit der jeweilige Einzelfall erneut überprüft werden kann. Dies alles dient dem obersten Ziel unserer Rechtsordnung, dem Schutz der Menschenwürde.

Die jüngsten Entwicklungen in Deutschland zeigen einen steilen Rückgang der Kirchenasyle sowie einen Rückgang der erfolgreichen Berufungen in bestimmten Fällen. Warum glauben Sie, dass dies geschieht?

Anfang 2015 haben sich die beiden großen Kirchen und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf eine Verfahrensabsprache bei Kirchenasylfällen verständigt. 2018 entschied man sich dann auf staatlicher Seite für eine neue administrative Praxis, durch die das Gewähren von Kirchenasyl faktisch erschwert wird. Weshalb die Zahl von Fällen gesunken ist, in denen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die von den kirchlichen Stellen geschilderten Härten anerkennt, kann ich nicht beurteilen. Unsere Erfahrungen zeigen jedenfalls: Auch formal und juristisch korrekte Entscheidungen können zu unzumutbaren Härten führen. Der Dialog mit den Behörden, den wir als Kirche auf unterschiedlichen Ebenen ständig führen, ist deshalb umso wichtiger.

Wie sollten Pfarrgemeinderäte oder Orden prüfen, ob sie im Jahr 2020 Kirchenasyl gewähren wollen? Welchen Rat würden Sie geben, auch im Hinblick auf die Sorge des Heiligen Vaters um dieses Thema?

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Die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz hat ihre "Handreichung zu aktuellen Fragen des Kirchenasyls" 2019 in einer zweiten, überarbeiteten Fassung veröffentlicht. Die darin enthaltenen Ratschläge gelten nach wie vor. Das heißt vor allem: Eine Entscheidung darüber, ob ein Kirchenasyl gewährt wird oder nicht, sollte nie übereilt getroffen werden. Es ist wichtig, dass die Verantwortlichen in den Gemeinden und Orden den Schutzsuchenden persönlich kennen, über die relevanten Fakten informiert sind, sich juristisch beraten lassen und den Kontakt zu den zuständigen Katholischen Länderbüros suchen. Ein Kirchenasyl muss zu rechtlich tragfähigen und humanitär verantwortbaren Lösungen führen können. Was – auch jenseits des Kirchenasyls – unseren heutigen Auftrag gegenüber Flüchtlingen und Migranten betrifft, weiß sich die Kirche in Deutschland den vier Verben des Heiligen Vaters verpflichtet: "aufnehmen, schützen, fördern, integrieren".

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