Assisi - Samstag, 25. Mai 2024, 9:30 Uhr.
Wie wird man heilig? Wie ist es möglich, ein heiligmäßiges Leben zu führen – vor allem als junger Mensch? 80 Jahre reichen oft kaum dazu aus, Gott zu finden oder „zum Glauben“ zu kommen, wie sollen da 20 Jahre ausreichen? Als Kind ist es noch leicht an Gott zu glauben, so wie man an das Christkind glaubt. Das ändert sich in der Pubertät, mit all‘ ihren Krisen, Angriffen und Entdeckungen, in der vielleicht gefährdetsten Zeit des Lebens
Trotzdem kennt die katholische Kirche Heilige, die an der Schwelle zum Erwachsenwerden standen. Don Boscos junger Helfer Domenico Savio war kaum 15 Jahre alt; Maria Goretti wurde mit nur 12 Jahren Opfer eines Sexualverbrechens. Aber das ist lange her, im Zeitalter katholischer Milieus, als Kinder noch in Welten großwerden konnten, die christlich grundiert waren. Jetzt ist die Katechese eingebrochen, Eltern lassen ihre Kinder nicht mehr taufen und sind nur noch auf dem Papier Katholiken. Wir fragen also noch einmal: Wie soll heute ein 15-Jähriger heiligmäßig leben in einer Welt, wo nicht nur durch den Alltag, sondern durch die Medien, durch das „Online sein“ im Internet, permanente Ablenkung und alle möglichen Abwege drohen.
Mit Carlo Acutis wird nun ein Teenager seliggesprochen, der in diesem Spannungsfeld gestanden hat. Und wenn wir näher hins
chauen, um in Carlos Leben eine Antwort auf unsere Frage zu finden, entdecken wir gleich, dass der Himmel sich wenig um die neuen Medien schert. Was die können, konnte er schon immer, über weite Strecken hinweg, immateriell und geistig. So ist es keine Überraschung, dass der Mutter des todkranken Jungen eine wichtige Botschaft im Traum überbracht wurde: „Als er schon im Sterben lag, in der letzten Woche seines Lebens, träumte ich vom Heiligen Franz von Assisi, dem Schutzpatron unserer Familie, der sagte: 'Dein Sohn Carlo wird sehr bald sterben, aber er wird in der Kirche sehr angesehen sein.' Dann habe ich Carlo in einer sehr großen Kirche, hoch oben in der Nähe der Decke gesehen, und ich habe das damals nicht verstanden. Jetzt verstehe ich es natürlich. Sein Tod, seine Krankheit, sein kurzes Leben – das war alles Gottes Plan. Gott hatte Carlo als Beispiel für die Jugendlichen in diesem Abschnitt der Geschichte erwählt“, fügte sie hinzu.
Ist das die Antwort? Kann man nur dann heiligmäßig leben, wenn man dazu auserwählt ist? Fast könnte man das glauben, wenn man der Mutter von Carlo Acutis zuhört. Doch ein Heiligwerden ohne Zutun wäre protestantisch, wo man durch Gnade erwählt ist und deswegen nach Luther auch kräftig sündigen kann. Aber das ist hier nicht gemeint. Die Erwählung betrifft vielmehr die Vorbildfunktion, die Carlo für alle Jugendlichen einnehmen sollte, die mit dem Erwachsenwerden in unserer postmodernen Welt ihre Probleme haben. Dazu musste er aber selbst erst auf jene Erwählung antworten, die der Mutter im Traum hernach mitgeteilt wurde.
Am 3. Mai 1991 wird Carlo Acutis in London geboren, wo die Eltern zu dieser Zeit arbeiten. Bald zieht die Familie nach Mailand, wo der Junge wohlbehütet in besten Verhältnissen aufwächst. Eine privilegierte Familie, aber nicht überdurchschnittlich katholisch: Wie CNA Deutsch berichtete, war seine Mutter alles andere als praktizierend, kannte auch den Katechismus nicht gut.
Das war aber kein Hindernis für den Jungen, der von klein auf regelmäßig den Rosenkranz betete, jeden Tag die Heilige Messe
besuchte und schon mit sieben Jahren auf eigenen Wunsch die Erstkommunion empfing. Die Eucharistie wird für ihn „die Autobahn in den Himmel“, wie er selbst sagte. Es war somit keine elterliche, sondern eine himmlische Katechese, die den Jungen auf seine Berufung vorbereitete und die wir getrost als übernatürlichen Ausdruck seiner Erwählung bezeichnen dürfen.
Der kleine Carlo entwickelte noch eine andere Leidenschaft: die zum Computer, zum Internet. Schon als Kind besaß er darin außergewöhnliche Fähigkeiten, gestaltete Webseiten und programmierte mit dem Können eines Informatikers, ohne es jemals studiert zu haben. Computer, Spielekonsole und Internet waren aber auch seine Grenzerfahrungen. Als andere Jugendliche erste Erfahrungen mit Drogen oder Pornographie machten, merkte er, dass er auch süchtig zu werden drohte. Als Carlo das verstand, beschränkte er sich selbst und beschloss, mit der geliebten PlayStation höchstens eine Stunde pro Woche zu spielen. Und er verstand auch, dass die große Gefahr des Internets darin besteht, überall und nirgends zu sein, und sich im unendlichen Darkroom des World Wide Web, mit seinen Möglichkeiten und Verführungen, zu verlieren.
Wohl deswegen verband er sein eucharistisches Herz mit dem Internet und eröffnete mit elf Jahren ein Web-Portal über eucharistische Wunder, als eine Art Tatsachenbericht. Seinen Eltern hatte er das Versprechen abgerungen, alle Stätten, die er in seinem Portal präsentierte, auch zu besuchen. Als er die Seite im Jahr 2005 abschließt, hat er 146 Wunder dokumentiert. Sie ist heute noch im Internet zu erreichen. Später wird daraus sogar eine Wanderausstellung über eucharistische Wunder und ein Buch entstehen. Auch einige Wunder aus Deutschland sind darunter, etwa diejenigen von Walldürn und Wilsnack. Sie alle zu besuchen, war ihm nicht mehr vergönnt, denn 2006 erkrankte der Fünfzehnjährige an einer besonders aggressiven und schmerzhaften Form der Leukämie. Doch auch diese Prüfung meisterte er. Er opferte sein Leiden für Papst Benedikt XVI. und die Kirche auf. Am 12. Oktober 2006 starb er in einem Krankenhaus im norditalienischen Monza. Zu Grabe trug man ihn auf eigenem Wunsch auf dem Friedhof von Assisi, wo die Familie ein Haus besaß und Carlo oft gewesen ist. Dort hatte er eine große Liebe zum „Poverello“ entwickelt – Franz von Assisi, dem Patron der Familie Acutis. Wie dieser wollte er zu den Menschen gehen und sie evangelisieren, wenn nötig auch virtuell und mit Hilfe des Internets.
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Schon bei der Beerdigung wunderten sich die Angehörigen über Hunderte von Trauergästen, die sie gar nicht kannten. War es das eucharistische Webportal, waren es seine Kontakte, die er über das Internet gepflegt hatte oder sein soziales Engagement in der Armenfürsorge und als Hilfskatechet? Fest steht: Am Grab begann die Verehrung des neuen Seligen und hat seitdem nicht mehr nachgelassen, sondern immer mehr Menschen, vor allem Jugendliche, in ihren Bann gezogen. Beim Weltjugendtag 2013 in Brasilien wurde Carlo Acutis schon wie ein Heiliger verehrt. Im selben Jahr eröffnete der Vatikan den Seligsprechungsprozess. Nach Anerkennung eines Wunders schließlich, das in Brasilien geschah, soll Carlo nun seliggesprochen werden – wohl nur eine Etappe auf dem Weg zu Heiligsprechung. Schon vor einem
Jahr hatte man seine sterblichen Überreste in das Heiligtum Santa Maria Maggiore in Assisi überführt, wo der Selige verehrt werden kann.
Soviel vom Erden- und Nachleben des Carlo Acutis! Aber was ist das Besondere an diesem neuen Seligen? Worin besteht seine Vorbildfunktion?
Ich würde sagen, in der originellen Antwort, die er auf die am Anfang formulierte Frage gab: Wie können Jugendliche in einer vernetzten und durchdigitalisierten Welt ihren Glauben finden und leben? In all dem, was Carlo zu Lebzeiten tat, können wir eines nicht entdecken – die Standardantwort der Kircheningenieure unserer Tage: Mach alles neu, ändere Kirche und den Glauben! Carlos „Ja“ bestand vielmehr in dem erfolgreichen Versuch, die modernen Technologien, die das Leben der jungen Menschen so sehr beeinflussen, mit zweitausend Jahren katholischer Lehre zu verbinden, als Sauerteig für die Evangelisation der Jugend.
Er nutzte die modernen Medien, um das Altmodischste bekannt zu machen, was sich ein Theologe aus Bologna oder Tübingen vorstellen überhaupt kann: Eucharistische Wunder. Eine Zweckentfremdung? Wohl kaum, aber ein Stachel im Fleisch der Fortschrittsgläubigen in Kirche und Welt. Gegen die extremste Ideologie manch Computergläubiger, den Transhumanismus, der das menschliche Bewusstsein zu digitalisieren hofft, damit diese digitale Kopie ewiges Leben erlangt, setzte Carlo sein Apostolat: als wahrhaft heiligmäßiger Computer-Nerd. Wohl am treffendsten fasst ein von ihm überlieferter Ausspruch sein Anliegen zusammen: „Wir kommen alle als Originale auf die Welt, aber viele von uns sterben als Fotokopien.“ Indem wir Jesus Christus folgen, bleiben wir das Original, dass ER von Anfang an gewollt und geliebt hat, und das nicht vom Computer verformt oder kopiert werden darf.
Carlos Mutter berichtet noch von einer anderen Leidenschaft ihres Sohnes. Er hatte nämlich von seinem Großvater geträumt, der ihn bat, für ihn zu beten, weil er im Fegefeuer sei: „Von da an begann Carlo für alle armen Seelen im Fegefeuer zu beten. Immer, immer, immer betete er für diese Seelen und versuchte, Ablässe für sie zu gewinnen. Er sagte immer, dass wir für die armen Seelen im Fegefeuer beten müssen, dass wir sie nicht vergessen dürfen und dass sie uns sehr helfen werden.“ Das Fegefeuer – noch so ein altmodisches Wort, das der Computer-Nerd Carlo Acutis propagierte.
Bei alledem ist es kein Wunder, dass Carlo Acutis als Patron des Internets im Gespräch ist, womit Assisi noch mehr zum Segensort der Medien wird, nachdem Pius XII. 1958 die Heilige Klara von Assisi zur Patronin des Fernsehens erhoben hatte. Aber noch ein anderes, ganz feinfühliges Patronat könnte und sollte mit dem neuen Seligen verbunden werden: dasjenige des Fürsprechers, der um ihre verstorbenen Kinder trauenden Mütter. Denn auf Fürsprache Carlos bekam seine Mutter 2009 Zwillinge – mit 44 Jahren – als überirdischer Trost ihres nun seligen Sohnes.
Dabei dürfen wir uns sicher sein, dass die Zwillingsschwestern nicht als Ersatz für oder Kopien von Carlo auf die Welt gekommen sind. Das hat der neue Selige in seinem schon zitierten Ausspruch selbst angedeutet. Und kaum besser hätte er seine Botschaft an alle Menschen zusammenfassen können: Bleibt Originale! Kopiert nicht die anderen, kopiert nicht Euer Bewusstsein, hütet Eure Talente und vermehrt sie. Das sollten sich alle Kopierfanatiker hinter die Ohren schreiben.
Und auch alle jungen Menschen, die im Internet unterwegs sind, das doch vom Prinzip her nichts ist, als ein ständiger Kopiervorgang aus Einsen und Nullen: Eine kopierte Null bleibt eine Null und eine kopierte Eins bleibt eindimensional. Der gottgewollte Mensch jedoch ist mehr! Gerade deswegen ist das Leben und Sterben des Carlo Acutis eine originelle und zu Herzen gehende Antwort auf die Frage am Anfang: Wie wird man heilig? Indem man das Original bleibt, als das man aus geboren wurde – vor Gott und vor den Menschen!
Erstveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des VATICAN Magazins am 10. Oktober 2020.