Melbourne - Samstag, 15. Juni 2019, 6:55 Uhr.
Es war der Schlüsselmoment in diesen vor Spannung knisternden Stunden im Gerichtssaal: Vor laufenden Kameras, die das Drama per Livestream im Internet ausstrahlten und weltweit verfolgen ließen, fragte Gerichtspräsident Chris Maxwell vom Obersten Gerichtshof von Victoria einen stammelnden Staatsanwalt, er möge doch bitte erklären, wie Kardinal George Pell unter "höchst unwahrscheinlichen" Umständen überhaupt die Verbrechen habe begehen können, für die ihn ein Geschworenengericht im vergangenen Dezember schuldig befunden hat.
"Das haben wir ja schon ad nauseam gesagt: Wenn man das erfinden würde… warum würde man das einfach erfinden?", so die stotternde Antwort von Staatsanwalt Christopher Boyce. Er brachte damit ungewollt auf den Punkt, was alle Seiten im Fall Pell diskutieren: Was wird hier eigentlich verhandelt? Geht es um Gerechtigkeit, Wahrheit, oder etwas anderes?
Zum Abschluss der mehrtägigen Anhörung im Berufungsverfahren vor dem Victorian Appeals Court am vergangenen Donnerstag, dem 6. Juni 2019, standen die Worte von Boyce erst einmal jedoch symptomatisch für die ganze Schwäche des Schuldspruchs gegen den australischen Kardinal.
Der ehemalige Finanzchef des Vatikans soll im Jahr 1996 – als er noch Erzbischof von Melbourne war – zwei Chorknaben unmittelbar nach der Feier eines Hochamts in der St.-Patricks-Kathedrale in der Sakristei sexuell missbraucht haben. Bei geöffneter Tür, in vollem liturgischem Gewand, während im Gotteshaus um sie herum Hochbetrieb herrschte.
Es ist diese Schilderung, die alleinige Aussage eines der beiden mutmaßlichen Opfer, die zur Verurteilung Pells führte – eine Aussage mit zum Teil "widersprüchlichen Angaben", wie Staatsanwalt Boyce nun einräumte, der vor lauter Nervosität sogar den Fehler beging, den Namen des ehemaligen Chorknaben zu nennen – was in dem um mehrere Sekunden versetzten Livestream ausgeblendet wurde.
Das andere mutmaßliche Opfer, inzwischen verstorben, hat die Vorwürfe gegen Pell verneint und bestritten. Forensische Beweise oder andere Indizien gibt es keine. Und der damalige Zeremonienmeister der Kathedrale, Monsignore Charles Portelli, hat der Schilderung vor Gericht widersprochen: Pell sei, wie immer nach der Messe, zur Kirchentür gegangen, um noch mit Gläubigen zu plaudern. Zudem sei er dem Erzbischof nicht von der Seite gewichen, solange dieser noch in Kasel und Albe gekleidet war, so Portelli.
Der Journalist David Marr brachte es in der australischen Ausgabe des "Guardian" – alles andere als eine Pell-freundliche Publikation – wie folgt auf den Punkt: Nach einem "Zugunglück von einem Tag" für die Staatsanwaltschaft hänge das Schicksal Pells nun am Faden eines Alibis.
"Letzten Endes scheinen sich alle Seiten einig zu sein, dass die Angaben Portellis der Schlüssel zu einem möglichen Freispruch des Kardinals sind". Marr weiter: "Hier sind Beweise, die begründete Zweifel an Pells Schuld aufkommen lassen."
Deutlicher wurde im Berufungsverfahren Pells souverän auftretender Anwalt Bret Walker. Das Ganze sei impossible – unmöglich – so der erfahrene Jurist immer wieder gegenüber der Vorsitzenden Richterin Anne Ferguson, die mit Richter Mark Weinberg und Gerichtspräsident Chris Maxwell das Verfahren leitet. Das umstrittene erste Urteil müsse aus mehreren Gründen aufgehoben werden. Erstens hätten die Geschworenen ein Fehlurteil aufgrund einer einzelnen, fragwürdigen und unbewiesenen Aussage gefällt. Sollten die Richter diesem Argument zustimmen, könnte das Urteil im Berufungsverfahren aufgehoben werden und damit der Kardinal freigesprochen werden. Zudem erheben Walker und sein Team den Vorwurf mehrerer Verfahrensfehler. So hatte es der Richter vor dem Schuldspruch abgelehnt, ein Video der Verteidigung zuzulassen, dass die Lage der Räumlichkeiten der Kathedrale und Aufenthaltsorte der Beteiligten zeigte. Stimmen die Richter diesen Vorwürfen zu, würde es zu einer Neuauflage des Verfahrens kommen. Damit rechnen derzeit wenige Beobachter.
Noch ist also völlig unklar, ob Pell freigesprochen wird oder nicht. Fest steht nur: In den kommenden Tagen oder Wochen – der genaue Termin ist nicht bekannt – fällen die Richter ihre Entscheidung. Unterdessen sitzt der Kardinal weiter in Einzelhaft im Melbourne Assessment Prison. Am vergangenen Samstag feierte er dort seinen 78. Geburtstag. Von den sechs Jahren, zu denen er verurteilt wurde, hat er bereits drei Monate verbüßt. Eine vorzeitige Entlassung käme frühestens nach dreieinhalb Jahren in Frage.
Für die meisten Beobachter ist klar: Sollte der Kardinal freikommen, würde er in Australien keine Ruhe haben. Am vergangenen Freitag hat ein ehemaliges Missbrauchsopfer Pell wegen der Vertuschung von Missbrauch angezeigt. Er beschuldigt den Kardinal und weitere Bischöfe, einen notorischen pädophilen Priester gedeckt zu haben, der in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche Jungen sexuell missbraucht hat. Zu dieser Zeit war Pell im Schulamt der Diözese Ballarat tätig.
Opferverbände und säkulare Stimmen sehen in dem seit Jahrzehnten ohnehin als "zu konservativ" bezeichneten Kirchenmann den Vertreter einer Kirche, die Minderjährige über Jahrzehnte sexuell missbrauchte und dabei mit "atemberaubender Arroganz" vorging, wie es Richter Peter Kidd bei Bekanntgabe des Strafmaßes gegen Pell im März formulierte.
Seine Unterstützer wiederum sehen in der Person des Kardinals einen Sündenbock für Vergehen, die er selbst nicht begangen hat. Manche sind sogar so von seiner Unschuld überzeugt, dass sie abenteuerliche Verschwörungstheorien auftischen. So schreibt der US-amerikanische Autor Rod Dreher ("The Benedict Option"), hinter der Anklage stecke womöglich die Tatsache, dass sich Pell als Finanzchef des Vatikans den Unmut der Mafia zugezogen habe. Die ist seit über 100 Jahren auch in Australien aktiv.
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Unterdessen bemüht sich die Kirche down under, in die Zukunft zu blicken: Die Australische Bischofskonferenz und Australiens Orden haben am 30. Mai neue Regeln zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern und gefährdeten Erwachsenen verabschiedet. Die National Catholic Safeguarding Standards setzen neue Maßstäbe darüber, wie Jugendliche – und andere Schutzbedürftige – informiert werden, Partnerschaft mit Familien gepflegt wird, Beschwerdemanagement funktionieren muss und eine kontinuierliche Weiterbildung aller Verantwortlichen aussieht.
Zuerst veröffentlicht in der katholischen Zeitung "Die Tagepost".
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