Der heilige Augustinus ist schon zu Lebzeiten oft falsch verstanden worden. Falsch verstanden zu werden, ist immer bedauerlich. Der Gültigkeit der gewonnenen Einsichten tut das indessen keinen Abbruch. Der Name des Kirchenvaters fällt auch heute in den Diskursen über den "Geltungsverlust der kirchlichen Sexuallehre". Auf der Frühjahrstagung der Deutschen Bischofskonferenz sprach der Freiburger Moraltheologe Eberhard Schockenhoff davon. Er stellte dort Thesen für eine vieldiskutierte Erneuerung und Revision der katholischen Moraltheologie vor, und diese Thesen ernteten auch begründeten theologischen Widerspruch, so etwa von Pater Engelbert Recktenwald. Dem heiligen Augustinus wurde von ihm ein folgenreiches "vergiftetes Bild der Sexualität" unterstellt. Schockenhoff warb für die Würdigung der "ekstatischen Struktur des sexuellen Begehrens" und für Aufgeschlossenheit gegenüber einer Pluralität von respekt- wie liebevollen Lebensformen. Schon der Münchner Moraltheologe Johannes Gründel hat 1971 die Disqualifizierung der Lust durch den heiligen Augustinus empört beklagt. Warum aber, so könnte man sich fragen werden, hat der römische Philosoph Seneca in seinen ethischen Briefen immer wieder die römische Dekadenz, ausschweifende Lustbarkeiten, bacchantische Weinseligkeit und dionysischen Daseinsgenuss kritisiert? Der Stoiker Seneca war kein Christ. Man musste aber auch kein Christ sein, um die Sittenlosigkeit im alten Rom zu erkennen. Seneca verstand seine Philosophie als Korrektiv, nutzbringend für die Gesellschaft und den Einzelnen, der aufgrund seiner Okkupationen, also durch sein triebbestimmtes Dasein, existenziell gefährdet war. Das heißt doch, damals wie heute: Eine glaubwürdige Morallehre wird dringend gebraucht, oder nicht?

Der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer sprach im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" am 12. Juni in positiver Absicht und dankenswerterweise davon, dass über den Glauben in der Welt von heute gesprochen werden müsse und dass die katholische Kirche zu einer "Moralinstitution" verkommen sei. Richtig: Moral ist wichtig, reicht aber nicht aus. So hat auch Bischof Dr. Wilmer völlig zu Recht von der Priorität des Glaubens gesprochen: "Wir haben die Kirche zu einer Moralinstitution verkommen lassen; im Fokus ist, was unter der Bettdecke passieren darf und was nicht. Die Botschaft Jesu ist aber in erster Linie keine Moral." Die Wahrheit des Glaubens und die Verkündigung an die erste Stelle zu setzen, bedeutet freilich im Gegenzug nicht, ein Schweigegelübde in Fragen der Moral abzulegen. Die Botschaft des Herrn lautet nämlich weder: "Seid bigotte Moralapostel – und glaubt ansonsten, an wen und was immer ihr wollt!" noch: "Glaubt an mich, und glaubt mir, das reicht schon – lebt einfach so, wie es euch gefällt. Passt schon!" Glaube und Moral gehören zusammen. Der Begriff Sünde, verstanden als Abwendung von Gott und vom Nächsten, mag theologisch zuweilen aussortiert sein – als ob sich einige moderne Religionsdenker nicht der Sünde, sondern des Begriffs schämen würden. Man kann auch das Böse oder den Teufel aus der Sprache der Theologie entfernen. Aber nur das Sakrament der Buße führt zur Reinigung von der Sünde. Die modernistische Säuberung der theologischen Begriffe rettet niemanden vor der Wirklichkeit des Bösen. Leugnen kann man alles Mögliche, sich ausdenken ebenso – etwa, dass der Mensch, das denkende, sich aufgeklärt und kritisch dünkende Ich der Maßstab aller Dinge ist. Dieser alte philosophische Gedanke kann selbstbewusst vorgebracht und offensiv vertreten werden. Modern gesprochen: Eine konstruktivistische Betrachtung der Welt ist jederzeit möglich und ändert trotzdem nicht das Geringste an der anstößigen Wahrheit des Evangeliums. Neue Sichtweisen lassen sich immer einnehmen. Neue Morallehren können wir uns jederzeit ausdenken. Die Moraltheologie könnte geschmeidig in eine Beschreibung oder Fortschreibung säkular bestehender Formen fluider Lustbarkeiten und Lebensgewohnheiten transformiert werden. Aber das wäre weder konzilsgerecht noch konzilsgemäß. Die Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils kann missverstanden werden, ist aber unmissverständlich formuliert. Beispielhaft genannt sei etwa der Abschnitt 48 der so oft auch von liberalen Theologen gelobten Pastoralkonstitution "Gaudium et spes": "Die innige Gemeinschaft des Lebens und der Liebe in der Ehe, vom Schöpfer begründet und mit eigenen Gesetzen geschützt, wird durch den Ehebund, d. h. durch ein unwiderrufliches personales Einverständnis, gestiftet. So entsteht durch den personal freien Akt, in dem sich die Eheleute gegenseitig schenken und annehmen, eine nach göttlicher Ordnung feste Institution, und zwar auch gegenüber der Gesellschaft. Dieses heilige Band unterliegt im Hinblick auf das Wohl der Gatten und der Nachkommenschaft sowie auf das Wohl der Gesellschaft nicht mehr menschlicher Willkür. Gott selbst ist Urheber der Ehe ... Durch ihre natürliche Eigenart sind die Institution der Ehe und die eheliche Liebe auf die Zeugung und Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet und finden darin gleichsam ihre Krönung. Darum gewähren sich Mann und Frau, die im Ehebund nicht mehr zwei sind, sondern ein Fleisch (Mt 19,6), in inniger Verbundenheit der Personen und ihres Tuns gegenseitige Hilfe und gegenseitigen Dienst und erfahren und vollziehen dadurch immer mehr und voller das eigentliche Wesen ihrer Einheit. Diese innige Vereinigung als gegenseitiges Sichschenken zweier Personen wie auch das Wohl der Kinder verlangen die unbedingte Treue der Gatten und fordern ihre unauflösliche Einheit." Die gegengeschlechtliche Ehe als Lebens- und Liebesgemeinschaft gilt es also moraltheologisch zu stärken und zu bekräftigen. Die Ehe ist das einzig richtige und einzig zukunftsträchtige Modell der Liebe und Zweisamkeit. Im Übrigen hat nicht nur Benedikt XVI. die Folgen der sogenannten sexuellen Befreiung im Zuge der 1968er-Bewegung scharfsichtig benannt, sondern auch Gretchen Dutschke-Klotz. Die Ehefrau Rudi Dutschkes schreibt über die vielfach glorifizierte "freie Sexualität" und berichtet über die damaligen Machtverhältnisse: "Letztendlich sollte freie Sexualität bedeuten, dass die Frauen den Männern immer zur Verfügung standen." Im Vorfeld von 1968 war Gretchen Dutschke schwanger geworden. Für den Sozialistischen Deutschen Studentenbund war das einfach nur skandalös. Etliche Aktivisten "fanden es unmöglich, dass wir ein Kind bekamen": "Überhaupt jemanden zu lieben war irgendwie falsch. Solche Dinge begriff ich einfach nicht. Das ist doch nicht unbedingt patriarchalisch oder bürgerlich, dass man lieben kann." (Gretchen Dutschke-Klotz: »Jemanden zu lieben war irgendwie falsch«, der lesenswerte autobiografische Bericht findet sich in: Ute Kätzel (Hg.): Die 68erinnen. Porträts einer rebellischen Frauengeneration, Ulrike Helmer Verlag 2008, S. 277-296)

Daraus können wir – gerade heute – lernen. Es ist wichtig, dass römisch-katholische Christen, Kleriker wie Weltchristen, an die unauflösliche Verbindung von Glauben und Moral erinnern und die gültige Lehre der Kirche positiv leben sowie weltoffen bezeugen sollen. Der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer sagte am 14. Juni, zugleich adressiert an die Teilnehmer des Kongresses "Freude am Glauben" und nicht weniger an alle gläubigen Katholiken in Deutschland: "Mit Ihrem Motto »Ohne Gott – keine Zukunft« stellen Sie die Gottesfrage ins Zentrum und machen zu Recht deutlich, dass die immer notwendige Erneuerung der Kirche nicht von einer Änderung von Strukturen zu erwarten ist, sondern von Bekehrung, von Hinkehr zu Gott, vom Hören auf sein Wort und von der Bemühung um Heiligkeit. Lassen Sie sich nicht einreden, die Liebe zum überlieferten Glauben in seiner ganzen Fülle und Schönheit sei un-mutig oder un-visionär. Wer mit wachen Sinnen die Zeitläufte beobachtet, sieht doch sofort, wozu es heute wirklich Mut braucht."

Das hohe Lied der sogenannten "freien Liebe" taugt aber gewiss nicht als Begleitmusik für die synodalen Wege der Kirche heute, im Gegenteil. Freut euch des Lebens! Das heißt: Freut euch am Glauben, nämlich: Bekennt euch zu Christus und zur Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte. Wir können gegen Gott und gegen Seine Kirche rebellieren und uns vom Herrn, von der Kirche und von den Sakramenten abwenden. Oder wir können an Gott glauben und uns zu Seiner Kirche bekennen? Ganz sicher, denn so ist es würdig und recht. Könnte doch sein? Darum sage ich weiterhin dankbar und froh: "Credo in unum Deum …" Und Sie vielleicht auch?

Das könnte Sie auch interessieren:

Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der jeweiligen Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.

 

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.