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Phantom Hauskirchen

Das ehemalige Stadttor von Dur - oder Dura - Europos im heutigen Syrien.
Die "Hauskirche" in Dur Europos: Ein bischöflicher Kirchenkomplex mit Eucharistie- und Taufraum, in dem niemand mehr wohnte.
Rekonstruktion des christlichen Taufbeckens der Kirche in Dura Europos
Professor Dr. Stefan Heid ist Kirchenhistoriker. Der Priester der Erzdiözese Köln ist unter anderem Direktor des Römischen Institutes der Görres-Gesellschaft.

Schon lange spricht man davon, das früheste Christentum habe sich auf seinem missionarischen Weg in Hauskirchen ausgebreitet. Davon habe es viele in jeder Stadt gegeben, je größer die Stadt, desto mehr. Damit verbunden ist die Idee, am Anfang habe es kein einheitliches Christentum gegeben, sondern ein polyzentrisches, liberales, tolerantes Christentum: Christentümer im Plural. Diese tolerante, freie Welt sei erst durch das Aufkommen des Monepiskopats unter Kontrolle gebracht und in die Einheit gezwungen worden. Bischöfe hätten den Hausvätern und -müttern ihre Autonomie entwunden und die Hauskirchenkultur zerstört. 

Ein solches Narrativ passt ausgezeichnet in die heutige Tendenz, Gesellschaft und Kirche zu denken. Aber im Grunde genommen bewegt man sich damit im Bereich der Legende, und zwar wortwörtlich. Denn das romantische Bild der Hauskirchen wurde von den römischen Märtyrerlegenden des fünften und sechsten Jahrhunderts erfunden, und zwar so erfolgreich, dass es bis heute nachwirkt. Da nehmen etwa die Aristokratinnen Pudentiana und Praxedis die verfolgten Christen heimlich in ihrer Stadtvilla auf und feiern mit ihnen zusammen heimlich Gebetsgottesdienste. Es sind dieselben Legenden, die auch die "Kirche der Katakomben" erfunden haben, so als ob sich während der Verfolgungen die Christen in Katakomben versteckt hätten. 

Ist der Mythos der "Kirche der Katakomben" längst wissenschaftlich entlarvt worden, so kann man das von den Hauskirchen noch nicht behaupten. Sie ins Reich der Legenden zu schicken, wo sie hingehören, stößt auf breiten Widerstand. Manche christlichen Richtungen halten nämlich die hierarchische Bischofskirche für unbiblisch, sehen hingegen in den Hauskirchen das biblisch verbürgte Gegenmodell. Sie verweisen auf die angebliche "Hauskirchenformel", die Paulus zwei Jahrzehnte nach Ostern in seinen Briefen gleich viermal verwende (Röm 16,5; 1 Kor 16,19; Kol 4,15; Phlm 2). Aber hier ist Vorsicht geboten. In Wirklichkeit gibt es weder bei Paulus noch sonst wo eine "Hauskirchenformel". 

Dafür mag Kol 4,15 als Beispiel dienen. Paulus schreibt an die Christen in Kolossä: "Grüßt […] auch Nympha und die Gemeinde in ihrem Haus". Irreführend ist hier schon die ökumenische Einheitsübersetzung, wenn sie das griechische Wort ekklesíamit "Gemeinde" überträgt. Da denkt man an Pfarrgemeinde. Aber Pfarrgemeinden gab es im ganzen ersten Jahrtausend nicht, schon gar nicht bei Paulus. Die richtige Übersetzung muss lauten: "Grüßt […] auch Nympha und ihre Hausgemeinschaft". Paulus spricht das ganz gewöhnliche Umgangsgriechisch seiner Zeit, und da bedeutet das Wort ekklesía einfach die Gemeinschaft von Menschen. In diesem Sinne grüßt er höflicherweise am Ende seines Briefes die Gemeinschaft (ekklesía) des Hauses der reichen Nympha, zu der gewiss auch Nichtchristen gehörten. Eine Hausgemeinschaft umfasste nämlich die Familie, Sklaven und Klienten. Wieso sollte Paulus diese eine Hausgemeinschaft der Nympha als "Kirche" bezeichnen? Dafür gibt es gar keinen Grund. 

Es gibt auch keinen einzigen archäologischen Hinweis auf Hauskirchen, weder in Rom noch sonstwo. Gern wird an dieser Stelle auf Dura Europos verwiesen, jene vollständig ausgegrabene Stadt am Euphrat, die in der Mitte des dritten Jahrhunderts aufgegeben wurde. Dort hat man ein ehemaliges Wohnhaus ausgegraben, das christlich genutzt wurde, was aber exakt gegen die Hauskirchen-Theorie spricht. Denn in der gesamten Stadt gab es nur diesen einen Gottesdienstort (wie auch nur eine einzige Synagoge). Das betreffende Haus wurde auch nicht mehr bewohnt, sondern diente ausschließlich als bischöflicher Kirchenkomplex mit einem Eucharistie- und Taufraum. Alle Christen der Stadt kamen dort zur Eucharistiefeier zusammen.

Damit ist ein wichtiger Hinweis gewonnen, wie man sich die Anfänge des Christentums ohne legendäre Hauskirchen vorstellen muss. Geht man sämtliche Textquellen durch, so stellt man fest, dass sich bis ins vierte Jahrhundert in keiner einzigen Stadt des christlichen Erdkreises mehr als ein Eucharistieort nachweisen lässt. In allen Texten ist immer nur von einer Kirche bzw. einer Eucharistieversammlung in einer Stadt die Rede. Justin der Märtyrer (um 160) sagt ausdrücklich, dass sich alle Christen der Städte und der Vorstädte an ein und demselben Ort zur Sonntagseucharistie treffen; dort kommen alle zusammen. Es gibt keine geheimen, dezentralen Gottesdienste, sondern alles spielt sich in der städtischen Öffentlichkeit ab. Selbst Rom bildet hier keine Ausnahme. 

Ebenso wichtig wie Justin ist Ignatius von Antiochia (Anfang 2. Jh.), der in seinen Briefen an die Christen in mehreren kleinasiatischen Städten betont, dass sich dort jeweils alle Christen mit dem Bischof und dem Presbyterium um den einenAltar versammeln. Ignatius spricht das aus, was faktisch überall die Regel war: Es gibt in jeder Stadt nur eine einzige Eucharistiefeier, welcher das Presbyterium bzw. der Bischof vorsteht. 

Ist einmal der Mythos der Hauskirchen gefallen, hat das Konsequenzen für die Kirchengeschichte. Ein Christentum, das sich über private Stadtresidenzen ausgebreitet hätte, hätte sich vorrangig auf reiche Bürger gestützt, die sich solche Häuser leisten konnten. Ein solches Christentum wäre als Eliten- und Reichenreligion wohl bald verschwunden. Eine Hauskirchenkirche wäre exklusiv gewesen. Am Anfang stand aber gerade umgekehrt die Gottesdiensteinheit: Reiche und Arme, Weiße und Schwarze, Frauen und Männer, Griechen und Lateiner, Hellenisten und Judaisten: alle bildeten die eine Gemeinschaft, und gerade deshalb kam es auch zu Spannungen, die man aushalten musste. Schon die Eucharistiegemeinschaft in Korinth, der Paulus seinen Brief schreibt, umfasste alle Christen der Stadt (1 Kor 11,18; 14,23). 

Die christliche Liturgie in ihrer Hochform der Tauf- und Eucharistiefeier steht in der Tradition des öffentlichen Kults, nicht der Mysterienfeiern. Sie hat sich nicht aus privaten Hausgemeinschaften heraus entwickelt, sondern besitzt von Anfang an ein starkes Einheitselement, insofern es in einer Stadt immer nur einen Kult und damit auch eine einzige Art der Liturgie gibt. 

Der vorliegende Text ist ein Auszug eines Aufsatzes aus der Herder-Korrespondenz; veröffentlicht bei CNA Deutsch mit freundlicher Genehmigung.

Erstveröffentlichung 19.6.2019. Von Prof. Dr. Stefan Heid ist 2019 das bahnbrechende Buch "Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie" erschienen.

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