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Edith Stein. Ein Essay.

Das feuchte Grab der Asche der Heiligen vor den Birken von Birkenau.

Am 9. August gedenkt die Kirche der heiligen Teresia Benedicta vom Kreuz. CNA Deutsch veröffentlicht dazu den Essay "Edith" von Paul Badde (Speyer 1998 / Rom 2002) mit freundlicher Genehmigung.

"Wir werden eine Kirche werden!", hämmerte Adolf Hitler den neuen Reichsleitern und Gauleitern am 5. August 1933 in einer dreistündigen Rede auf dem Obersalzberg ein. Der Führer hatte seine engsten Vasallen auf den Berghof vorgeladen, um sie nach der gelungenen Machtergreifung nun mit dieser Geheimkonferenz über seine weitergehenden Absichten ins Bild zu setzen. Dr. Goebbels schrieb eifrig mit. Die Partei sollte zur neuen "Wesensmitte" der "Gottgläubigen" Deutschlands werden, um endlich ein neues und besseres, ja, ein "positives Christentum" hervorzubringen – im Gegensatz zu jenem kümmerlichen, siech und krank darnieder liegendem Kreuzeschristentum, dessen schwächliche Gebrechlichkeit und Verkommenheit doch jeder wache Volksgenosse mit eigenen Augen beobachten konnte.

Ja, vor allem "der Doktor" wusste nur zu gut, dass nach der Eroberung der politischen Macht jetzt als nächstes der Glaube der Deutschen zu besetzen war – zusammen mit jenem Vokabular der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte, das sich in gut tausend Jahren wie ein Mantel um die Entdeckung unserer Identität gelegt hatte. "Die Sprache ist das Haus des Seins", notierte Heidegger in jener Zeit. Dieses Haus galt es nun zu beschlagnahmen. Die Verdrehung der christlichen Muttersprache war danach die vielleicht perfideste Meisterleistung des Joseph Goebbels.

Die Stunde war nicht ungünstig. Auch das spürte fast untrüglich der geniale Exeget des Führerwillens. 1916 hatten sich in einem einzigen langen Herbst zwei Millionen junger Christen (und Juden) vor Verdun und an der Somme gegenseitig abgeschlachtet, im bis heute größten Gemetzel der Weltgeschichte. Der Abgrund, in den die Christenheit Deutschlands zusammen mit dem Abendland gestürzt war, war gewaltig, der Verlust der Unterscheidungskraft der Geister, den sich der ehemalige Stipendiat des Albertus-Magnus-Vereins zunutze machen konnte, riesengroß.

All dies hatte aber auch, genauso scharf, wenn nicht noch schärfer, ein gewisses "Fräulein Doktor" in Beuron erfasst, die in der gleichen Angelegenheit schon im April 1933 von Münster aus einen Brief nach Rom geschickt hatte, in dem sie Papst Pius XI. auf die tödliche Gefahr hinwies, die den Juden ebenso wie jener Kirche drohte, deren Priester, Nonnen und Ordensleute jeden Tag mit dem Ruf beginnen ließen: "Gepriesen sei der Herr, der Gott Israels!"

"Heiliger Vater!" schrieb sie flehend. "Als ein Kind des jüdischen Volkes, das durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist, wage ich es, vor dem Vater der Christenheit auszusprechen, was Millionen von Deutschen bedrückt. Seit Wochen sehen wir in Deutschland Taten geschehen, die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit – von Nächstenliebe gar nicht zu reden – Hohn sprechen. Jahre hindurch haben die nationalsozialistischen Führer den Judenhass gepredigt. Nachdem sie jetzt die Regierungsgewalt in ihre Hände gebracht und ihre Anhängerschaft – darunter nachweislich verbrecherische Elemente – bewaffnet hatten, ist diese Saat des Hasses aufgegangen. Dass Ausschreitungen vorgekommen sind, wurde noch vor kurzem von der Regierung zugegeben. In welchem Umfang, davon können wir uns kein Bild machen, weil die öffentliche Meinung geknebelt ist. Aber nach dem zu urteilen, was mir durch persönliche Beziehungen bekannt geworden ist, handelt es sich keineswegs um vereinzelte Ausnahmefälle. Unter dem Druck der Auslandsstimmen ist die Regierung zu "milderen" Methoden übergegangen. Sie hat die Parole ausgegeben, es solle "keinem Juden ein Haar gekrümmt werden". Aber sie treibt durch ihre Boykotterklärung – dadurch, dass sie den Menschen wirtschaftliche Existenz, bürgerliche Ehre und ihr Vaterland nimmt – viele zur Verzweiflung: es sind mir in der letzten Woche durch private Nachrichten 5 Fälle von Selbstmord infolge dieser Anfeindungen bekannt geworden. Ich bin überzeugt, dass es sich um eine allgemeine Erscheinung handelt, die noch viele Opfer fordern wird. Man mag bedauern, dass die Unglücklichen nicht mehr inneren Halt haben, um ihr Schicksal zu tragen. Aber die Verantwortung fällt doch zum großen Teil auf die, die sie so weit brachten. Und sie fällt auch auf die, die dazu schweigen.

Alles, was geschehen ist und noch täglich geschieht, geht von einer Regierung aus, die sich "christlich" nennt. Seit Wochen warten und hoffen nicht nur die Juden, sondern Tausende treuer Katholiken in Deutschland – und ich denke, in der ganzen Welt – darauf, dass die Kirche Christi ihre Stimme erhebe, um diesem Missbrauch des Namens Christi Einhalt zu tun. Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel? Steht nicht dies alles im äussersten Gegensatz zum Verhalten unseres Herrn und Heilands, der noch am Kreuz für seine Verfolger betete? Und ist es nicht ein schwarzer Flecken in der Chronik dieses Heiligen Jahres, das ein Jahr des Friedens und der Versöhnung werden sollte?

Wir alle, die wir treue Kinder der Kirche sind und die Verhältnisse in Deutschland mit offenen Augen betrachten, fürchten das Schlimmste für das Ansehen der Kirche, wenn das Schweigen noch länger anhält. Wir sind der Überzeugung, dass dieses Schweigen nicht imstande sein wird, auf die Dauer den Frieden mit der gegenwärtigen deutschen Regierung zu erkaufen. Der Kampf gegen den Katholizismus wird vorläufig noch in der Stille und in weniger brutalen Formen geführt wie gegen das Judentum, aber nicht weniger systematisch. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird in Deutschland kein Katholik mehr ein Amt haben, wenn er sich nicht dem neuen Kurs bedingungslos verschreibt. Zu Füssen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend", fügte sie dem nüchtern getippten Brief am Schluss per Hand nur noch ein "Dr. Editha Stein" hinzu: "Dozentin am Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik - Münster i.W. Collegium Marianum"

Dr. Stein war zu dieser Zeit keine Unbekannte mehr, erst recht nicht bei Eugenio Pacelli, dem engsten Mitarbeiter des Papstes, der Deutschland kannte (und liebte) wie kaum sonst ein Diplomat. Schon damals konnte man das Leben Dr. Steins als einen Kulturroman der ersten Jahrhunderthälfte schreiben, mit einer Landkarte des Geistes, die sie als Studentin, Lehrerin, Übersetzerin und Dozentin über Breslau, Göttingen, Freiburg, Speyer, Münster und Köln vermessen hatte.

Am jüdischen Versöhnungsfest des Jahres 1891 in Breslau von einer tiefgläubigen jüdischen Mutter geboren, wurde sie eine der ersten Doktorandinnen des Deutschen Reichs ("summa cum laude", während die Schlacht an der Somme tobte), wurde Musterschülerin Edmund Husserls, Max Schelers und Adolf Reinachs, bevor sie am 1. Januar 1922 – mit einunddreißig – zur katholischen Kirche konvertierte. Bis dahin hatte es keinen Lehrer gegeben, der nicht von der außerordentlichen Begabung Edith Steins fasziniert gewesen war. "Ihr nüchterner, klarer, objektiver Geist, ihr unverstellter Blick, ihre absolute Sachlichkeit prädestinierten sie" gleichsam für die Phänomenologie, urteilte später ihre Freundin Hedwig Conrad-Martius.

Das war die damals jüngste Schule der Philosophie, die durch alle Vorurteile, die unsere Wahrnehmung und unser Urteil normalerweise trüben, wieder den direkten Weg zu den Erscheinungen freizulegen suchte: danach, was sie selbst uns ohne jeden kulturellen Filter sagen, was die Welt – in der strengen Beobachtung der Wirklichkeit – über sich selbst erzählt, im Gegensatz zu dem, was uns darüber erzählt wird. Ihr selbst war jene neue phänomenologische Sicht auf die Welt "ein Empfangen, das von den Dingen sein Gesetz erhielt, nicht ein Bestimmen, das den Dingen sein Gesetz aufnötigte". Der Grund der Welt kann denkerisch erschlossen werden, war ihre Grundüberzeugung, und das blieb, Schritt für Schritt, ihr Bestreben bis zum Ende: die Erscheinungen von ihrem eigenen Schein her zu verstehen.

Es dauerte bis zum 17. Februar 2002, bis ich den Brief Edith Steins im Geheimarchiv des Vatikans erstmals lesen durfte, den sie gerade in jener Zeit nach Rom geschickt hatte, als der Vatikan jenes Reichs-Konkordat auszuhandeln versuchte, mit dem der Papst im "heiligen Jahr" 1933 die Kräfte der Unterwelt noch einmal zivilisatorisch bändigen wollte. Das Konkordat wurde am 20. Juli veröffentlicht.

Edith Stein hingegen antwortete der Pontifex mit einem förmlichen Segensgruß. Kurz nach ihrem folgenlosen Schreiben trat sie am 14. November 1933 in Köln in den Orden der unbeschuhten Karmelitinnen ein, wo sie den Namen Teresia Benedicta a Cruce wählte, nach Teresa von Avila, der kastilischen Heiligen des sechzehnten Jahrhunderts (aus hebräischem Geschlecht), deren Biographie sie zu ihrer Konversion bewegt hatte – und nach dem "Kreuz", unter dem sie das Schicksal des Volkes Israel verstand, dessen zionistischen Neuanfang in Palästina sie begeistert verfolgte.

Doch war der prophetische Brief Edith Steins an Pius XI. wirklich folgenlos? Vier Jahre später, am 14.  März 1937, veröffentlichte der Vatikan seine einzige deutschsprachige Enzyklika. Ursprünglich sollte sie "Mit großer Sorge" heißen. Doch bis jetzt ist auf dem Entwurf noch die kleine Handschrift Pacellis auszumachen, mit der er damals "großer" gestrichen hat und durch "brennender" ersetzte. Unter diesem Namen hat die Enzyklika danach Geschichte geschrieben: "Mit brennender Sorge" – zwei Jahre bevor in Deutschland die Synagogen brannten.

Wer "nicht Christ sein will", hieß es da nun, "sollte wenigstens darauf verzichten, den Wortschatz seines Unglaubens aus christlichem Begriffsgut zu bereichern." Und: "Wer die Rasse, oder das Volk ... oder andere Grundwerte menschlicher Gemeinschaftsgestaltung ... aus ... ihrer irdischen Wertskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.

Oder an anderer Stelle: "Nur oberflächliche Geister können ... den Wahnversuch unternehmen, Gott, den Schöpfer aller Welt, den König und Gesetzgeber aller Völker, vor dessen Größe die Nationen klein sind wie Tropfen am Wassereimer, in die Grenzen eines einzelnen Volkes, in die blutmäßige Enge einer einzigen Rasse einkerkern zu wollen." Und über den Begriff des Glaubens ließ Pius XI. Dr. Goebbels in Berlin mit dieser Enzyklika schließlich folgende Unterscheidung von Rom her zukommen: "Glaube ist das sichere Fürwahrhalten dessen, was Gott geoffenbart hat und durch die Kirche zu glauben vorstellt: 'Die feste Überzeugung vom Unsichtbaren' (Hebr. 11,1). Das freudige und stolze Vertrauen auf die Zukunft seines Volkes, das jedem teuer ist, bedeutet etwas ganz anderes, als der Glaube im religiösen Sinne. Das eine gegen das andere ausspielen zu wollen und daraufhin verlangen, von dem überzeugten Christen als 'gläubig' anerkannt zu werden, ist ein leeres Spiel mit Worten oder bewusste Grenzverwischung oder Schlimmeres."

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Präziser ließ es sich nicht sagen; das Wortspiel der Nazis war eine bewusste Grenzverwischung und Schlimmeres. Die Antwort des Propagandaministers, der sich in dem Rundschreiben als "Wahnprophet" demaskiert wiederfand, ließ deshalb auch nicht lange auf sich warten. "Den Sexualverbrechern die Maske herunter!" hieß es am 30. April im "Völkischen Beobachter" und weiter, in den Haupt- und Zwischenüberschriften: "Kirchen und Klöster zu Lasterstätten erniedrigt", "Ekelerregende Tatsachen beweiskräftiger als die Versuchsmanöver des politischen Katholizismus", "Sind das Märtyrer?", "Grauenhafte Einzelheiten", "Brutstätte der Homosexualität", "Sakristei zum Bordell verwandelt" und so weiter und so fort. Am 28. Mai hält er eine vom Rundfunk übertragene Rede gegen die "Sittlichkeitsverbrecher", deren Klöster "in ihrem Kern so verdorben" seien, dass "unter ihren Angehörigen die widernatürliche Unzucht gewissermaßen hordenweise betrieben werde."

In dieser Zeit lebte Edith Stein schon lange zurückgezogen hinter Klostermauern in Köln, im größten beschaulichen Orden der katholischen Kirche, als eine Philosophin von Rang, deren Werk immer noch nicht ausgeschöpft ist, als eine "Doctissima", als eine Zierde der Wissenschaft, nun aber in einer törichten Liebe, die sie erfüllt wie keine Wissenschaft zuvor. Gleichwohl gerät ihr Leben und Sterben danach zu einem ungeschriebenen Lehrstück über jenes System von Zwickmühlen, das totalitäre Systeme ihren Gegnern immer aufzwingen – heil kommt da keiner heraus. Sie war eine große Denkerin, eine große Beterin, doch getötet wurde sie als geborene Jüdin.

Nach dem 9. November 1938 wird sie zusammen mit ihrer Schwester Rosa von ihrem Orden nach Holland in den Carmel von Echt in Sicherheit gebracht. 1940 besetzen die Deutschen Holland. Als sich die Gerüchte über geplante Massendeportationen der Juden verdichten, protestieren am 11. Juli 1942 die Niederländischen Kirchen in einem Telegramm scharf gegen die geplanten Deportationen der Juden. Danach bietet Arthur Seyß-Inquart, der "Reichskommissar für die Niederlande", den Kirchen an, doch einfach nur stillzuhalten, dann werde zumindest ihren getauften Juden nichts passieren. Darauf mögen die katholischen Bischöfe nicht eingehen. Am 26. Juli protestieren sie in einem Hirtenbrief von allen Kanzeln noch einmal schärfer gegen das Unrecht "gegen das Volk Israel, das in diesen Tagen so bitter geprüft wird".

Die Antwort des Besatzungsregimes kam blitzschnell und als schiere Rache. Schon am nächsten Tag verfügten sie: "Da die katholischen Bischöfe sich – ohne beteiligt zu sein – in die Angelegenheit gemischt haben, werden nunmehr sämtliche katholischen Juden noch in dieser Woche abgeschoben. Interventionen sollen nicht berücksichtigt werden." Am 2. August werden 988 von ihnen deportiert.

Vergeblich hatte Edith Stein gehofft, über die Schweiz nach Palästina auswandern zu können, und hat dann doch keine Sekunde mehr gegen ihr Schicksal protestiert. "Komm, wir gehen für unser Volk!" sagte sie ihrer Schwester bei der Verhaftung. "Sie glauben nicht, was es für mich bedeutet, Tochter des auserwählten Volkes zu sein", hatte sie kurz vorher Pater Hirschmann SJ gesagt. Da ist sie einundfünfzig. Da hatte die geborene Phänomenologin, die so fasziniert davon war, die Dinge nach ihrer "heiligen Sachlichkeit" zu befragen, ihr eigenes Leben schon lange vor allem nur noch der Verehrung der Eucharistie gewidmet. Schon in den zwanziger Jahren in Speyer konnte sie Nächte hindurch vor dem Tabernakel verbringen, nur von dem winzigen Schein der blakenden Öllampe des "Ewigen Lichts" beleuchtet. Oder vor der geweihten Hostie in der Monstranz. Was hat ihr nun dieses "Ding", diese "Sache selbst", dieses zerbrechliche Stück Brot gesagt, von dem sie nicht zweifelte, dass Gott selbst darin zugegen war? Und dass es heilig war.

Doch was soll das heißen? Heilig, was ist das? Ist heilig Verhaftung, Beschlagnahmung, Aussonderung; die Herauslösung des Menschen, um ihn der Welt als lebendigen Widerspruch vor Augen zu führen? Bei Juan de la Cruz hat sie gelesen, dass Glaube immer nur jäh wie ein Blitz aufzuckt, "wie das Aufblitzen des Messers in der Hand Abrahams." Gewiss ist es ein Gott für Erwachsene, ein Gott der Moderne, dem sie ihr Leben widmet, ein Gott,  den die radikalen Spanier, denen sie hierhin gefolgt ist,  als einen verborgenen Unsichtbaren, der sein Gesicht verhüllt, als einen Gott der dunklen Nacht rühmen, der nur eins verlangt: Das unerschütterliche Verharren und Aushalten.

Der Nachlass ihrer wissenschaftlichen Werke und Schriften ist so groß, dass wir die – oft auch spröde und schwierige – Lektüre in Jahren nicht bewältigen könnten. So haben wir uns an einem der letzten Sommertage dieses Jahrhunderts aufgemacht, um im Gebiet der südlichen Pfalz an der Weinstraße, in der deutschen Toskana, wo sie acht Jahre gelebt hat, vielleicht noch ein paar Spuren von ihr zu finden.

Der rosafarbene Kaiserdom in Speyer war lange ihre Pfarrkirche. Sonntag für Sonntag hat sie damals die kleine Steinbrücke auf ihrem Weg vom Magdalenenkloster, wo sie Lehrerin war, zu der herrlichen Grablege der deutschen Könige und Kaiser überquert, deren Bögen wie die der Magdalenen-Basilika von Vézelay in Burgund an den Säulenwald der Moschee von Córdoba und das frühe Ringen Europas mit dem Islam erinnern. Hier hat Bernhard von Clairvaux elfhundertsechsundvierzig die Deutschen zum zweiten Kreuzzug aufgerufen, nachdem er am Osterfest davor die Franzosen in Vézelay zum Aufbruch nach Palästina gerufen hatte: "Was den Vögeln die Flügel sind, das ist den Christen das Kreuz!" Die größte romanische Kathedrale Europas über dem Labyrinth verschiedener Krypten ist immer noch ein einziges Juwel; bei ihrer Errichtung muss sie größer als die alte Peters-Basilika in Rom gewesen sein, ein neues Herz des Abendlands.

Keine fünf Minuten schlängelt sich der Fußweg von ihrem Hauptportal zu der ausgegrabenen Mikwe, dem alten und prächtigen jüdischen Tauchbad Speyers, das jetzt noch belegt, wie dicht sich damals in Europa die Synagogen jeweils an die Bischofskirchen schmiegten, von denen allein sie Schutz vor dem Mob erwarten durften – und in welch tödliche Gefahr sie mit jeder Krise der Kirche geraten mussten. Der gesprächige Herr Weber, der am Judenbad die Eintrittsbillets verkauft, kann sich noch gut erinnern, wie er Edith Stein mit seinen Freunden da oben im Dom beim Beten beobachtet hat. Die ernste "Jiddisin", die "a Nunn" geworden war, war selbst unter den Kindern stadtbekannt.

Ja, sie hat hier im Herzen des Abendlands gewohnt, wo Deutschland vielleicht am schönsten ist. Als sie einundfünfzig Jahre alt war, wurde sie dann in Holland wie flüchtendes Vieh eingefangen, um in der bizarren Logistik dieses Massenmordes mit der Eisenbahn quer durch das Reich in den Osten nach Birkenau in den Tod gezerrt zu werden. Auf dem Bahnhof von Schifferstadt, knapp zehn Kilometer nördlich von Speyer, hat sie am 7. August 1942 bei einem außerordentlichen Halt ihres Transports aus einem der Waggons ein letztes Lebenszeichen hinterlassen: einen zugerufenen Gruß an die Dominikanerinnen in Speyer, zusammen mit einem kleinen Zettel, den sie aus der Luke herauswarf: "Grüße von Schwester Teresia Benedicta a Cruce. Unterwegs ad orientem." Da vorne in dem rostroten Schotter muss der Zettel gelegen haben. Danach verliert sich ihre Spur in der Nacht, die über Europa hereingebrochen war

Auf dem Weg von Speyer nach Bad Bergzabern haben wir in Neustadt den Weg verfehlt. Zufällig sind wir darum auf unserer Suche nach der neuen Heiligen ohne Grab und ohne Überrest in Lambrecht plötzlich ungeplant auf die Edith Stein-Gedenkstätte des Karmelitenfraters Toni Braun gestoßen: ein anrührend schönes Museum, das der ehemalige Dekorateur hier im Einmannbetrieb an der Hauptstraße nach Kaiserslautern ganz allein errichtet hat und betreibt.

Bruder Toni hat mit Billigung seines Ordens alle noch lebenden Verwandten Edith Steins in den USA besucht, er hat die Wunder erforscht, die zu ihrer Heiligsprechung notwendig waren, hat in Breslau Türklinken aus ihrem Jugendhaus abgeschraubt, in Auschwitz und Birkenau verrostete Gabeln und Dreck aus dem Boden geklaubt und mit geschnitzten Birkenstämmen, Isolatoren und Stacheldraht zu einer bizarren Installation zusammengefügt – in seiner liebevollen Hilflosigkeit, noch irgendein materielles Andenken an die Heilige zu Tage zu fördern. Fotos, Skizzen und Postkarten auf jedem freien Flecken der Wand, und dazwischen –  als ein Bild, das einem entgegenkommt – ein seltenes Jugendfoto Edith Steins, auf dem sie wie durch einen Traum hindurch an ein ebenfalls frühes Foto der Ulrike Meinhoff erinnert – oder der Rosa Luxemburg? – jedenfalls voll sinnlicher Lebenserwartung und wohl auch hier schon als eine Extremistin des Denkens und Handelns.

Hier ist sie noch nicht das berühmte "Fräulein Doktor", noch nicht die hochbegabte Lehrerin, noch nicht die Dozentin in Münster, noch nicht die Braut in Weiß (ohne Bräutigam an ihrer Seite) bei ihrer Einkleidung im Orden, sondern nur Edith, ein junges jüdisches Mädchen in Breslau. Wann mag das Foto aufgenommen sein? 1910 vielleicht, oder 1911, als sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt war? Es wirkt noch so zivil. Rechts über ihr ist "Ihre Lieblingssschwester Erna" mit im Bild, sagt eine handgeschriebene Notiz auf der Rückseite. Hier muss sie auch noch die Atheistin sein, die sie 1907 aus ihrer in jeder Lebensphase radikalen Überzeugung geworden war, und die gefürchtete Spötterin, wie ihre prüfenden Augen in "heiliger Sachlichkeit" zu verraten scheinen.

Verblüffender ist aber, dass Edith Stein hier als ausgesprochene Schönheit auffällt – mit vollen Lippen, geschwungenen Brauen und offenem, gelocktem Haar, das sie später so streng nach hinten binden wird. Mit hellwachem Blick schaut sie den Betrachter an, lehnt sich leicht zurück, ein Bein über das andere geschlagen, den linken Unterarm entspannt auf ihrem Schoß, wie ruhend in jener seltenen Schönheit, wie sie nur der Jugend – für eine kurze Zeit – gegeben und eigen ist. Natürlich wird sie sich verlieben und verlieben wollen und kennt ihre Gaben und Talente gut genug, um von ihrem Leben sehr, sehr viel zu erwarten, in der "Hoffnung auf eine große Liebe und glückliche Ehe".

Das letzte Foto der Sammlung Frater Brauns zeigt das "weiße Haus" in Birkenau, wo damit experimentiert wurde, tödliches Gas aus den Exkrementen der Gefangenen herauszudestillieren. Die "modernen" Gaskammern kamen erst später, 1943, nach Auschwitz: "das Glück, mit Zyklon B und nicht mit der eigenen Scheiße vergast zu werden", wie Bruder Toni sagt. Dieses Haus war wohl die Endstation der seligen Schwester Teresia Benedicta a cruce mit dem Judenstern. Rasiert und völlig nackt wurde sie hier mit ihren Schicksalsgenossinnen zusammengepfercht, wie Ungeziefer vergast, unmittelbar danach verbrannt. "Kostbar ist in den Augen des Herrn / der Tod seiner Frommen."

Ein letztes Foto der einsamen Ausstellung zeigt den Frater mit Blick auf einen von Birken umstandenen, grauschlammigen, staubbedeckten Teich, in den die Henker den Kehrricht der Krematorien kippten. Die menschliche Asche ist so leicht, dass sie – bis heute – immer noch auf der Oberfläche schwimmt und hin und her getrieben wird. Asche, die nicht verwehen will. Allerletzte "Grüße von Schwester Teresia Benedicta a Cruce. Unterwegs ad orientem."

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