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Nigeria: Die Gefahr einer Stigmatisierung der Fulani

Pfarrer Blaise Agwon

Das Hilfswerk Aid to the Church in Need (ACN) interviewt Friedensforscher und Pfarrer Blaise Agwon, Direktor des Zentrums für Dialog, Versöhnung und Frieden in Jos, der Hauptstadt des Bundesstaates "Plateau" in der Middle-Belt-Region Zentralnigerias.

Der nigerianische Priester forscht derzeit an der Universität von Jos über Konflikt- und Friedensmanagement. Im Fokus der Untersuchung steht "der Konflikt zwischen Bauern und Viehhirten in der Middle-Belt-Region und die Vermittlung Dritter". Maria Lozano, Pressereferentin von ACN International, spricht mit ihm über den Konflikt, der über tausend Menschen das Leben gekostet hat. 

 

Vor einigen Wochen sandten die Bischöfe der Region Kaduna eine in scharfen Worten verfasste Erklärung über das furchtbare und enorme Ausmaß, das die Tragödie in "den letzten drei Jahren" angenommen hat. Ist etwas geschehen, das diese Welle der Gewalt und des Tötens ausgelöst hat?

Ich denke, die Eskalation des Konflikts in den letzten Jahren ist auf die Aktivitäten terroristischer Organisationen wie Boko Haram und ISWAP zurückzuführen, auf die Verbreitung von Waffen infolge der Auseinandersetzungen in einigen afrikanischen Ländern wie Libyen, Mali, der Zentralafrikanischen Republik usw. Solche Konflikte sind nicht spezifisch für Nigeria, sondern finden sich in den meisten afrikanischen Ländern. Insbesondere die Länder der westlichen Regionen haben mit derselben Situation zu kämpfen. 

 

Die westliche Welt weiß zwar von den Bedrohungen durch Boko Haram und ISWAP, aber die Situation, zu der die Bischöfe im Zusammenhang mit den Gräueltaten im Norden des Middle Belt Stellung nehmen, hängt nicht mit diesen Gruppen zusammen.  Worum geht es in dem Konflikt?

Für den Konflikt im Middle Belt sind viele Faktoren verantwortlich. Da sind zum Beispiel die Auswirkungen des Klimawandels, Erosion, das Konkurrieren von Bauern und Viehhirten um Land und Wasser, Viehdiebstahl, Entführungen, Banditentum und Raubüberfälle.  Durch den Boko Haram- und ISWAP-Konflikt im Nordosten und das Schrumpfen des Tschadseebeckens – bisher die Lebensgrundlage für über 40 Millionen Menschen – und durch die damit einhergehenden Auswirkungen der Wüstenbildung kommt es zu Massenwanderungen von Menschen, Tieren und sogar Vögeln und Reptilien in Richtung Middle Belt. Dies hat zu einer gravierenden Konkurrenz um Ressourcen wie Wasser und Land, um Ackerbau und Beweidung, um Bauen und wirtschaftliche Aktivitäten geführt. Dadurch wiederum ist es zu Spannungen zwischen den Menschen gekommen. Boko Haram und ISWAP sind zudem jedoch nach wie vor ein wichtiger Faktor im Konflikt im Middle Belt, da sie immer noch in diesem Gebiet aktiv sind. Sie sind an Entführungen, räuberischen Aktionen und sogar an Viehdiebstahl beteiligt.

 

Der antagonistische Kampf zwischen Bauern und Viehhirten ist in Afrika seit jeher tief verwurzelt. Deswegen sprechen manche von einem Stammeskrieg. Stimmt es, dass die meisten Verbrechen von Viehhirten der ethnischen Gruppe der Fulani verübt werden?

Es stimmt zwar, dass Fulani-Viehhirten tief in die Verbrechen im Norden und insbesondere in der Region des Middle Belt verwickelt sind, aber nicht alle Fulani. Außerdem sind nicht nur Fulani verantwortlich. Es gibt sehr viele Gruppen aus anderen lokalen ethnischen Stämmen, die ebenfalls in Kriminalität, Banditentum, Entführungen und Viehdiebstahl verwickelt sind, manche von ihnen haben sogar Milizen gebildet. Einige Fulani haben mit lokalen christlichen Gruppen kriminelle Banden gebildet und terrorisieren sowohl die Fulani als auch die lokalen ethnischen Gruppen. Dementsprechend handelt es sich bei den meisten Geschehnissen eher um Kriminalität und auch um einen Konflikt um Ressourcen.

 

Es gibt etwa 20 bis 25 Millionen Fulani, die weit verstreut in der Sahelzone und in Westafrika leben. Einige Quellen sprechen sogar von 40 Millionen. Ist es nicht gefährlich, ein ganzes Volk, eine ganze Gemeinschaft zu stigmatisieren?

Wir haben tatsächlich über 40 Millionen Fulani, die über die Sahelzone verteilt sind, und im Lauf der Geschichte gab es schon immer Missverständnisse zwischen ihnen und ihren Nachbarn, den Ackerbauern. Solche Streitigkeiten wurden stets mithilfe lokaler Konfliktlösungsverfahren beigelegt. Doch sowohl die Zahl als auch der Schweregrad dieser Konflikte haben in den letzten Jahren nicht nur in Nigeria, sondern auch in anderen Ländern zugenommen, so zum Beispiel in Mali, Niger, Burkina Faso, Ghana, Kamerun, im Tschad usw. Einige dieser Länder sind überwiegend muslimisch, zum Beispiel Niger und Mali, und auch sie haben in ihren Gemeinschaften eine starke Steigerung des Konflikts zwischen Viehhirten und lokalen Gruppen zu verzeichnen. 

 

Manche glauben, dass der Konflikt zu einem Völkermord seitens von außen finanzierter Dschihadisten an den Christen im Norden, wo sie eine Minderheit sind, geworden sei. Was halten Sie von dieser Hypothese? Sind die Fulani-Gruppen von islamischen Dschihadisten infiltriert und radikalisiert worden? 

(Die Geschichte geht unten weiter)

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Der Konflikt im Middle Belt mag wie ein religiöser Konflikt wirken, weil er zwischen den überwiegend muslimischen Viehhirten und den mehrheitlich christlichen Bauern ausgetragen wird. Es handelt sich jedoch eher um einen Ressourcen- als um einen religiösen Konflikt. Nur die religiöse Trennlinie lässt ihn als religiösen Konflikt erscheinen. Es ist ein Ressourcenkonflikt um Land und Wasser, um Acker- und Weideland usw. Es besteht die Gefahr einer Stigmatisierung der Fulani solcherart, dass alle Fulani wegen der üblen Taten einiger weniger als Dschihadisten bezeichnet werden, selbst wenn die meisten von ihnen sehr gute, friedliche und fleißige Menschen sind.

 

Tatsächlich sind viele Menschen infolge dieser Gräueltaten gestorben.  Es wird vermutet, dass auch Dschihadisten oder Söldner aus anderen Ländern, insbesondere aus Mali, für einige der Gräuel im Norden verantwortlich sind. Es wäre jedoch falsch zu sagen, dass die Gewalttaten sich nur gegen Christen richten. Eine solche Behauptung ist nicht nur falsch, sondern auch herzlos. Muslime haben unter diesen Angriffen ebenso gelitten wie Christen. Bundesstaaten wie Zamfara, Yobe und Katsina sind zu über 90 Prozent muslimisch, und dennoch haben sehr viele Menschen dort durch die Hände dieser Banditen gelitten. Selbst Katsina, der Heimatstaat unseres Präsidenten und ebenfalls zu über 95 Prozent muslimisch, wurde nicht verschont. Das Dorf des Präsidenten wurde sogar angegriffen, etliche Dörfer wurden völlig niedergebrannt. Und auch in Kaduna haben Christen und Muslime gleichermaßen gelitten. Mir wurde gesagt, dass die Menschen in Zaria, Kaduna, wegen der Aktivitäten der Banditen kaum ihre Felder bestellen können, und in Zaria sind die meisten Menschen Muslime.

 

Wie sieht es mit den Zahlen aus? Einige Quellen sprechen von tausend Toten. Haben Sie Zahlen zu den Opfern?

Hier haben wir es mit Vermutungen zu tun. Verschiedene Gruppen und NGOs, sowohl einheimische als auch ausländische, präsentieren unterschiedliche Zahlen. vIn der nördlichen Zentralregion wurden in den letzten fünf Jahren mehr als tausend Menschen getötet. Mit den Berichten wird jedoch auch massiv Politik betrieben, da verschiedene Gruppen ihre Zahlen immer wieder aufblähen, um lokale wie auch internationale Sympathien zu gewinnen. Manchmal kleiden sich die Banditen bei ihren Angriffen auch wie Soldaten. Aufgrund all dieser Faktoren gibt es immer wieder Beschuldigungen und Gegenbeschuldigungen, entweder zwischen Fulani und den lokalen Gruppen, zwischen Christen und Muslimen oder zwischen Bauern und Viehhirten, in einem solchen Ausmaß, dass die Fakten unklar bleiben. 

 

Und was ist mit den Flüchtlingen? Die Bischöfe schreiben: "Die Opfer dieser Kriminellen bleiben als Flüchtlinge in Lagern gefangen, leben und sterben in Armut und Krankheit." Haben Sie Zahlen über das tatsächliche Ausmaß der Tragödie?

Bislang gibt es etwa 2,5 Millionen Binnenvertriebene im Nordosten Nigerias, 680 000 Flüchtlinge in Kamerun und über 294 000 im Tschad und in Niger. Die Zahlen sind also hoch und beschränken sich nicht nur auf Nigeria, denn der Boko-Haram-Konflikt hat auch andere Länder wie den Tschad, Mali, Niger und Kamerun in Mitleidenschaft gezogen. Das Leben in diesen Lagern ist sehr hart, den Flüchtlinge droht unter anderem Hunger und Missbrauch. Einige von ihnen, vor allem aus der nördlichen Zentralregion, sind jedoch zu ihren Gemeinschaften zurückgekehrt, da der Konflikt dort, abgesehen von Räubereien und Entführungen, wirklich nachgelassen hat.

 

Was kann und sollte der Rest der Welt tun, um Nigeria in dieser verzweifelten Lage zu helfen?

Meines Erachtens kann die internationale Gemeinschaft Nigeria am besten im Bereich der Sicherheit helfen. Das liegt daran, dass die zuständigen Stellen angesichts der Sicherheitsprobleme Nigerias überfordert sind. Die Sicherheitskräfte brauchen mehr und bessere Ausrüstung, Kommunikationstechnik, Transportmittel usw. Die Regierung muss auch das Budget für diese Sicherheitsorgane aufstocken, mehr Personal rekrutieren und besser für dessen Wohlergehen sorgen, um den Arbeits- und Kampfgeist zu stärken.

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