Die Stelle, die wir soeben gehört haben, ist der letzte Abschnitt des Matthäusevangeliums vor der Leidensgeschichte. Bevor Jesus uns am Kreuz seine Liebe schenkt, hinterlässt er uns seinen Letzten Willen. Er sagt uns, dass das Gute, das wir einem seiner geringsten Brüder – seien sie hungrig, durstig, fremd, bedürftig, krank oder gefangen – tun werden, auch ihm getan sein wird (vgl. Mt 25,37-40). So übergibt uns der Herr die Liste der Geschenke, die er sich zum ewigen Hochzeitsmahl mit uns im Himmel wünscht. Es sind die Werke der Barmherzigkeit, dank derer unser Leben ewig sein wird. Ein jeder von uns kann sich fragen: Setzte ich sie in die Tat um? Tue ich etwas für die Bedürftigen? Oder tue ich Gutes nur den Verwandten und Freunden? Helfe ich jemandem, der mir nichts zurückgeben kann? Bin ich ein Freund der Armen?  Und so weiter, viele Fragen, die wir uns stellen können. „Ich bin dort“, sagt Jesus zu dir, „ich warte dort auf dich, wo du dir es nicht vorstellst und wo du vielleicht nicht einmal hinsehen möchtest, dort bei den Armen.“ Ich bin dort, wo die vorherrschende Meinung, dass das Leben dann gut geht, wenn es mir gut geht, kein Interesse zeigt. Ich bin dort, sagt Jesus auch zu dir, junger Mensch, der du die Träume des Lebens verwirklichen willst.

Ich bin dort, sagte Jesus vor Jahrhunderten zu einem jungen Soldaten. Er war achtzehn Jahre alt, noch nicht getauft. Eines Tages sah er einen armen Mann, der die Menschen um Hilfe anflehte, aber keine erhielt, denn „alle gingen vorbei“. Und dieser junge Mann, „da er merkte, dass die anderen kein Mitleid zeigten, verstand, dass dieser Arme für ihn vorbehalten war“, für ihn. Aber er hatte nichts bei sich, nur seine Dienstkleidung. Also schnitt er seinen Mantel mitten durch und gab eine Hälfte dem Armen unter dem höhnischen Gelächter einiger Umstehender. In der darauffolgenden Nacht hatte er einen Traum: Er sah Jesus mit dem Mantelstück bekleidet, mit dem er den Armen umhüllt hatte. Und er hörte ihn sagen: „Martin hat mich mit diesem Gewand bekleidet“ (vgl. Sulpicius Severus, Vita Martini, III). Der heilige Martin war ein junger Mann, der diesen Traum hatte, weil er ihn gelebt hatte, ohne es zu wissen, wie die Gerechten im heutigen Evangelium.

Liebe junge Freunde, liebe Brüder und Schwestern, geben wir unsere großen Träume nicht auf. Geben wir uns nicht mit dem geschuldeten Minimum zufrieden. Der Herr will nicht, dass wir den Horizont verengen, er will nicht, dass wir am Rande des Lebens parken, sondern froh und kühn nach hohen Zielen streben. Wir sind nicht dazu geschaffen, um vom Urlaub oder vom Wochenende zu träumen, sondern um Gottes Träume in dieser Welt zu verwirklichen. Er hat uns die Fähigkeit zu träumen gegeben, damit wir uns für die Schönheit des Lebens entscheiden. Und die Werke der Barmherzigkeit sind die schönsten Werke des Lebens. Die Werke der Barhmherzigkeit treffen wirklich ins Zentrum unserer großen Träume. Wenn du von wahrer Ehre träumst, nicht von der Ehre der Welt, die kommt und geht, sondern von der Ehre Gottes, dann ist genau das der Weg. Lies das Evangelium von heute, denke darüber nach. Denn die Werke der Barmherzigkeit geben mehr als alles andere Gott die Ehre. Hört genau hin: Die Werke der Barmherzigkeit geben mehr als alles andere Gott die Ehre. Anhand der Werke der Barmherzigkeit werden wir am Ende gerichtet werden.

Aber wo fängt man an, um große Träume wahr werden zu lassen? Bei großen Entscheidungen. Auch darüber spricht das heutige Evangelium zu uns. Beim Weltgericht stützt sich der Herr in der Tat auf unsere Entscheidungen. Er scheint fast nicht zu urteilen: Er scheidet die Schafe von den Böcken, aber ob wir gut oder schlecht sind, hängt von uns ab. Er zieht nur die Konsequenzen aus unseren Entscheidungen, er bringt sie ans Licht und respektiert sie. Das Leben ist also die Zeit der wichtigen, maßgeblichen, ewigen Entscheidungen. Banale Entscheidungen führen zu einem banalen Leben, große Entscheidungen machen das Leben groß. Wir werden in der Tat zu dem, was wir wählen, im Guten wie im Schlechten. Wenn wir uns entscheiden zu stehlen, werden wir zu Dieben, wenn wir uns entscheiden, an uns selbst zu denken, werden wir egoistisch, wenn wir uns entscheiden zu hassen, werden wir aggressiv, wenn wir uns entscheiden, Stunden mit dem Handy zu verbringen, werden wir abhängig. Aber wenn wir uns für Gott entscheiden, werden wir jeden Tag mehr geliebt, und wenn wir uns für die Liebe entscheiden, werden wir glücklich. So ist es, denn die Schönheit der Entscheidungen hängt  von der Liebe ab, vergesst das nicht. Jesus weiß, dass wir gelähmt bleiben, wenn wir verschlossen und gleichgültig leben, wenn wir uns aber für andere aufopfern, werden wir frei. Der Herr des Lebens will uns voller Leben und verrät uns das Geheimnis des Lebens: Man besitzt es nur, wenn man es hingibt. Das ist eine Lebensregel: Das Leben besitzt man jetzt und in Ewigkeit nur, wenn man es hingibt.

Es stimmt, es gibt Hindernisse, welche die Entscheidungen erschweren – häufig Angst, Unsicherheit, Fragen nach dem Warum ohne eine Antwort, viel Warum. Die Liebe fordert uns jedoch auf, weiter zu gehen, sich nicht an den Fragen nach dem Warum im Leben aufzuhängen und darauf zu warten, dass eine Antwort vom Himmel kommt. Die Antwort ist gekommen: Sie ist der Blick des Vaters, der uns liebt und seinen Sohn geschickt hat. Nein, die Liebe drängt uns, vom Warum zum Für wen überzugehen, von der Frage „Warum lebe ich“ zu „Für wen lebe ich“, von „Warum passiert mir das“ zu „Für wen kann ich Gutes tun“. Für wen? Nicht nur für mich: Das Leben ist bereits voll von Entscheidungen, die wir für uns selbst treffen, um einen Schulabschluss, Freunde, ein Zuhause zu haben, um den eigenen Interessen, den eigenen Hobbys nachzugehen. Aber wir laufen Gefahr, jahrelang an uns selbst zu denken, ohne wirklich anzufangen zu lieben. Manzoni gab einen guten Rat: »Man sollte mehr darauf bedacht sein, gut zu handeln, als gut zu leben; und so wird man letztendlich zufriedener sein« (I Promessi Sposi, Kap. XXXVIII).

Aber nicht nur die Zweifel und Fragen nach dem Warum bedrohen die großen hochherzigen Entscheidungen, es gibt noch viele andere Hindernisse, jeden Tag. Da ist das Konsumfieber, das das Herz mit überflüssigen Dingen betäubt. Da ist die Vergnügungswut als scheinbarer einziger Weg, den Problemen zu entkommen, doch stattdessen ist es nur ein Hinausschieben des Problems. Es kommt auch vor, dass man sich darauf versteift, die eigenen Rechte einzufordern, und dabei die Pflicht zur Hilfeleistung vergisst. Und dann gibt es da noch die große Illusion über die Liebe, die man scheinbar als starke Emotionen erleben muss, während lieben vor allem Geschenk, Entscheidung und Opfer bedeutet. Sich entscheiden heißt – insbesondere heute –, sich nicht von der Vereinheitlichung manipulieren und von den Konsummechanismen, die jede Eigenständigkeit ausschalten, betäuben zu lassen sowie auf Äußerlichkeiten und den Schein verzichten zu können. Sich für das Leben zu entscheiden bedeutet, gegen die Mentalität des Einmalgebrauchs und des Alles-und-Sofort anzukämpfen, um das Dasein auf das Ziel des Himmels, auf die Träume Gottes hin zu lenken. (...)

Jeden Tag steht das Herz vor vielen Entscheidungen. Ich möchte euch einen letzten Ratschlag geben, wie ihr trainieren könnt, eine gute Entscheidung zu treffen. Wenn wir in uns hineinschauen, stellen wir fest, dass in uns oft zwei verschiedene Fragen auftauchen. Eine lautet: „Worauf habe ich Lust?“ Diese Frage ist oft trügerisch, denn sie unterstellt, dass es darauf ankommt, an sich selbst zu denken und all die auftretenden Wünsche und Triebe zu befriedigen. Aber die Frage, die der Heilige Geist dem Herzen vorlegt, ist eine andere: nicht „Worauf hast du Lust?“, sondern „Was ist gut für dich?“ Hier liegt die täglich zu treffende Entscheidung: Worauf habe ich Lust oder was ist gut für mich? Aus diesem inneren Suchen können banale Entscheidungen oder Lebensentscheidungen hervorgehen, es liegt an uns. Blicken wir auf Jesus, bitten wir ihn um den Mut, uns für das zu entscheiden, was gut für uns ist, um ihm auf dem Weg der Liebe nachzufolgen. Und um die Freude zu finden.