Der Kampf um das Menschenbild bewegt, allerdings mehr im Verborgenen, die Gesellschaften. Mehr und mehr wird in der Diskussion vom christlichen Menschenbild Abstand genommen – von der Vorstellung, dass alle Menschen, unabhängig ob sie geboren sind oder nicht, als Ebenbilder Gottes anzusehen sind, so dass ihnen ein Menschenrecht auf Leben zusteht. Immer mehr wird das evolutionistische Weltbild vertreten, wonach die Einheit von Geist und Körper aufgehoben wird, so dass der Körper lediglich als eine Sache angesehen wird und damit als Rechtsobjekt, während nur der Geist die Zuordnung von Menschenrechten rechtfertigen soll und damit zum Rechtssubjekt wird. Da nur das Vorhandensein von Selbstbewusstsein das Personsein begründen soll und gerade ungeborene Menschen hierüber nicht verfügen könnten, werden diese als „Zellhaufen“ betrachtet – als Sache. Nach unserer Rechtsordnung können wir über Sachen frei verfügen und deshalb sei die schwangere Mutter auch frei, über diese menschliche Sache zu verfügen und diese zu eliminieren. 

Das Europäische Parlament hat im Sommer 2021 den Matic-Bericht mehrheitlich beschlossen, wonach die Abtreibung als ein Menschenrecht der Mutter angesehen werden müsse. Zwar fand Matic nur eine Mehrheit für die vollständige Entkriminalisierung der Abtreibung in den ersten drei Monaten nach der Empfängnis, doch war die Stärke der Minderheit beachtlich, die die Abtreibungsregelung insgesamt aus dem Katalog der Strafvorschriften streichen wollte. Mit der Verabschiedung des Matic-Berichtes wurde dokumentiert, was wir unter den neuen europäischen Werten zu verstehen haben.

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Diese Diskussion kannte der 1994 verstorbene französische Mediziner und Eugeniker Jérôme Lejeune zwar noch nicht, doch schon kurz nach dem letzten Weltkrieg wurde begonnen, das christliche Weltbild für obsolet zu erklären, um in legitimer Weise die Verfügungsberechtigung über – zunächst – ungeborene Menschen zu erlangen. Hiergegen wandte sich Lejeune, der nicht nur als Kinderarzt arbeitete, sondern auch als Forscher. Ihm gelang es, die Verursachung der Trisomie 21, früher Mongolismus genannt, als einen Gendefekt zu entdecken – als eine genetische Anomalie. Da Lejeune sich gegen die Abtreibung auch dieser kranken Kinder ausgesprochen hatte und immer wieder den Menschen vor Augen führte, dass Embryonen keine Sache seien, sondern Menschen, geriet er immer mehr in Gegnerschaft zum libertären und atheistischen mainstream.

Durch die Entdeckung der Verursachung der Trisomie 21 erlangte Lejeune Weltruhm und wurde weltweit zu Vorträgen eingeladen. Als er sich in einem Vortrag in den USA gegen die Abtreibung insgesamt ausgesprochen hatte, wurde das Missfallen im Auditorium deutlich hörbar. Abends schrieb er seiner Frau, dass er mit diesem Vortrag den Nobel-Preis verspielt habe. Auch wurde die Kritik an seinen im Christentum wurzelnden ethischen Vorstellungen in Frankreich immer lauter, so dass ihm die staatlichen Fördermittel gestrichen wurden. Doch konnte er ein privates Forschungsinstitut gründen, um weiter zu forschen, auch behandelte er weiterhin französische Kinder, obwohl er lediglich von ausländischen Förderern finanziell unterstützt wurde.

Lejeunes Tochter, Clara Gaymard-Lejeune, zeichnet ungemein einfühlsam die Lebensstationen ihres Vaters nach und lässt uns Blicke auf die Psyche ihres Vaters werfen – auf die innere Welt dieses Menschenfreundes –, um die Sendung aufscheinen zu lassen, der er sich verpflichtet empfand. Die Autorin breitet vor den Lesern die Beweggründe aus, die Lejeune all die Anfeindungen ertragen ließ. In diesen Motiven legt sie auch den Glauben offen, der ihrem Vater die Kraft gab, für die Kranken und Behinderten einfach da zu sein. Seine Patienten waren Teil seiner Familie, und diese dankten es ihm. Ihm hatten sie ihr Leben zu verdanken, schließlich sollten viele schon im Mutterleib getötet werden.

Das schon vor über zwanzig Jahren in Frankreich herausgekommene Buch, liegt jetzt auch in deutscher Sprache vor. Die Autorin, die in Frankreich hohe Ämter bekleiden konnte, hat ein überaus liebevolles Porträt ihres Vaters der Öffentlichkeit vorgelegt und sich dabei eines Schreibstiles bedient, der selbst in der deutschen Übersetzung nur als elegant bezeichnet werden kann. Da sie auch immer wieder den Vorhang lüftet, mit dem das Private jedes öffentlichen Lebens allzu neugierigen Blicken entzogen sein soll, lernen wir auch den liebenden Vater in dem weltbekannten Forscher kennen. Das Beispiel Lejeunes kann dem Leser Kraft geben, auch für das christliche Moment in unserer Gesellschaft zu kämpfen – für diese Vorstellung, die zwar nicht dem liberalistischen mainstream entspricht, doch der christlichen Auffassung, die von der Gleichheit aller Menschen ausgeht, unabhängig davon, ob sie geboren sind oder nicht, ob krank, behindert oder ohne Selbstbewusstsein. Es ist ein lesenswerter Lebensbericht, der uns darüber hinaus Einblicke in das Leben ungeborener Menschen gewährt und uns vor Augen führt, dass selbst Embryonen Empfindungen haben und sich äußern können. Da gerade diese Gefühlswelt der ungeborenen Menschen der Öffentlichkeit vorbehalten wird, um die Abtreibung nicht als brutale Tötung von Menschen erscheinen zu lassen, ist diesem Buch eine große Verbreitung zu wünschen.

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