Welche Rolle hat Papst Pius XII. wirklich während des Zweiten Weltkriegs gespielt? Hat er wirklich geschwiegen, während die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler versuchten, die Juden Europas zu vernichten? Der Autor und Historiker Michael Hesemann analysiert in seinem neuen Buch "Der Papst und der Holocaust: Pius XII. und die geheimen Akten im Vatikan" dazu die Dokumente im Geheimarchiv des Vatikans, zu denen er als einer der ersten 2018 Zutritt erhalten hat. 

CNA Deutsch veröffentlicht eine leicht gekürzte Fassung des Vorworts zum jüngsten Buch Michael Hesemanns von Pater Professor Dr. Peter Gumpel S.J. 

Sehr gerne und dankbar habe ich die Einladung meines verehrten Freundes und Kollegen Dr. h. c. Michael Hesemann angenommen, das Vorwort zu seinem neuen Buch "Der Papst und der Holocaust" zu schreiben. Ich tue dies umso lieber, weil ich diesen Papst seit meiner frühen Jugend besonders geliebt und verehrt habe und auch mehrere, zum Teil längere Gespräche mit ihm führen durfte.

Zu meinem Amt als Professor der Geschichte des Dogmas und der Theologie an der päpstlichen Universität Gregoriana kam am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils der Auftrag von Paul VI., zusammen mit dem damaligen Generalpostulator der Gesellschaft Jesu, Prof. Dr. Paolo Molinari, SJ, das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. einzuleiten und nach bestem Vermögen durchzuführen.

Wir haben es uns dabei nicht leicht gemacht. Wir hatten alles zusammen 149 Verfahren zu begutachten, und später wurde mir zuerst als Konsultor, dann als Relator die Aufgabe zugeteilt, viele weitere Verfahren zu beurteilen.

Ob ein Papst selig- oder heiliggesprochen wird, bezieht sich auf sein persönliches Leben, sein Leben aus dem Glauben, sein Leben des Gebetes und das ehrliche Bemühen, sein Amt so gut wie möglich auszufüllen. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen, die bereits selig- oder heiliggesprochen sind, unter allen Umständen immer die beste Wahl getroffen haben und es verdienen, als besonders große Päpste in die Geschichte einzugehen.

Das gilt nicht nur für die Päpste der Neuzeit, die ich alle sehr verehrt habe, sondern für alle Päpste der Kirchengeschichte. In diesem Zusammenhang möchte ich hinweisen auf eine Bemerkung, die mein damaliger Lehrer im Bibelinstitut, Prof. Dr. Augustin Bea, SJ, später Kardinal, gemacht hat, als wir ihn einluden, für den Seligsprechungsprozess eine eidliche Aussage über Pius XII. zu machen, den er ja sehr gut gekannt hat, war er doch lange Jahre sein Mitarbeiter gewesen. Kardinal Bea jedenfalls hat damals gesagt – und er hat es später viele Male wiederholt:

"Pius XII. hat es nicht nötig, dass ich mein Urteil über ihn abgebe. Nach meiner festen Überzeugung ist er der größte Papst der Neuzeit gewesen." Und dann fügte er noch einen Satz hinzu, den ich nie vergessen habe: "Seien Sie versichert, dass erst nach 100 Jahren klar und deutlich sein wird, wie groß dieser Papst gewesen ist, welche Richtung er der Kirche gegeben hat und wie viel wir ihm verdanken."

Ich glaube, das Urteil eines solchen Mannes verdient es, hier zitiert zu werden.

Im Übrigen möchte ich auf eine Tatsache hinweisen, die mich immer wieder verwundert. Pius XII. hat unermüdlich gearbeitet und sehr viel für die Kirche getan. Von Anfang an hat er sich für den Frieden eingesetzt. Am 24. August 1939, nur wenige Tage vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, sagte er in einer für die Welt bestimmten Radiobotschaft: "Nichts ist verloren mit dem Frieden. Alles kann verloren sein durch den Krieg." Prophetische Worte, die sich dann auch bewahrheitet haben.

Deshalb wundert es mich, wie wenig heute von Pius XII. gesprochen wird, und wenn, dann nur unter dem einen Aspekt, um den es auch in dem vorliegenden Buch meines Freundes und Kollegen Dr. Michael Hesemann geht: die Frage nach seinem Verhalten im Holocaust. 

Alles, was er sonst geleistet hat, scheint in Vergessenheit geraten oder wird nicht genannt. Herrn Hesemann ist da kein Vorwurf zu machen, hat er doch schon vor zehn Jahren eine äußerst lesenswerte Gesamtbiografie Pius’ XII. verfasst unter dem Titel: Der Papst, der Hitler trotzte. Aber von vielen anderen wird das gerne unterschlagen.

Es steht außer Frage, dass Pius XII. sehr viel für die Juden getan hat, vielleicht mehr als jeder andere. Auch deshalb verdient er es, verehrt zu werden, doch es gibt noch viele andere Gründe. Da ist, ich erwähnte es bereits, sein unermüdlicher Einsatz für den Frieden. Pius XII. hat auch sehr viel dafür getan, Italien aus dem Krieg herauszuhalten, was ihm leider nicht gelungen ist. Als am 21. Dezember 1939 der italienische König und die Königin ihn im Vatikan besuchten, hat er ihnen ebenso ins Gewissen geredet wie sieben Tage später bei einem Gegenbesuch im Quirinal. Doch weder diese noch zahlreiche andere Versuche waren erfolgreich, wofür ihn natürlich keine Schuld trifft.

Aber ich möchte noch auf einige andere Aktivitäten Pius’ XII. hinweisen, die es verdienen, nicht vergessen und nicht weiter verschwiegen zu werden.

Zu den wichtigsten Aufgaben eines Papstes gehört es, dafür zu sorgen, dass, wenn er stirbt, das Kardinalskollegium voll besetzt ist, das seinen Nachfolger zu wählen hat.

Pius XII. konnte lange Zeit keine neuen Kardinäle ernennen  – während des Zweiten Weltkrieges war es völlig unmöglich, weil die Kardinäle gar nicht nach Rom kommen konnten.

Erst 1946 hat er dann 32 neue Kardinäle ernannt, darunter merkwürdigerweise nur vier Italiener. Ich betone das, weil in den letzten Jahrhunderten immer der größte Teil der Kardinäle aus Italien stammte und natürlich dann auch einen Italiener zum Papst wählte. Pius XII. wollte das nicht, und er hat es erreicht, dass der Weg frei wurde zu einem nichtitalienischen Papst. Er war natürlich nicht gegen Italien, im Gegenteil, er liebte sein Vaterland.

Doch aufgrund seiner großen internationalen Erfahrung war er wohl zu der Einsicht gelangt, dass auch andere Nationen Päpste stellen könnten und auch stellen sollen – und das hat er erreicht.

Weiter möchte ich auf die Lehraktivität Pius’ XII. hinweisen, die außerordentlich ist. Ihm verdanken wir 40 Enzykliken, die den gesamten Bereich des kirchlichen Lebens betreffen.

An erster Stelle ist natürlich Summi pontificatus zu nennen, die programmatische

erste Enzyklika seines Pontifikates vom 20. Oktober 1939, in der Pius XII. über den Frieden, das Zusammenleben der Nationen und die Neuordnung der Staaten sprach. 

Vom theologischen Standpunkt verweise ich auf Mystici corporis vom 29. Juni 1943, den ersten großen Versuch, theologisch zu erklären, was die Kirche eigentlich ist. Am 30. September 1943 folgte die berühmte Enzyklika Divino afflante Spirito, die uns erklärte, wie wir heute das Neue und das Alte Testament zu verstehen haben. 

Am 20. November 1947 stellte er mit Mediator Dei die Weichen in der Liturgie.

Schließlich warnte er in Humani generis am 12. August 1950 vor bestimmten Tendenzen, die sich in der Kirche unter der Oberfläche bemerkbar machten. Aus heutiger Sicht, im Rückblick auf das Zweite Vatikanische Konzil, erweist sich diese Enzyklika als geradezu prophetisch und kann jetzt erst in ihrer vollen Bedeutung erkannt werden.

Beachtlich war sein Einfluss auf das Zweite Vatikanische Konzil. Pius  XII. hatte ursprünglich selbst den Wunsch gehabt, ein Konzil einzuberufen, hat aber dann doch davon abgesehen und diese Aufgabe seinem Nachfolger überlassen, weil er erst noch mehr Ordnung in der Kirche schaffen wollte. Und das ist ein Verdienst, das ihm keiner absprechen kann: Bei ihm herrschte Ordnung, jeder in der Kirche wusste, wo er stand. 

Wir wussten schon als katholische Jungen, was er über den Nationalsozialismus dachte. Wir wussten als junge Priester, wie er über den Kommunismus dachte. Wir wussten auch, was er für die Juden getan hat.

Das alles darf heute nicht vergessen werden.

Ich habe anfangs gesagt, wie sehr mich verwundert, was alles über Pius XII. verschwiegen wird – auch vonseiten mancher kirchlichen Stellen –, während sich alles auf eine einzige Frage seines Pontifikates konzentriert, die Frage der Schoah, des Holocaust, um die es auch in der vorliegenden Studie meines verehrten Kollegen Dr. Hesemann geht.

Es ist völlig abwegig, zu behaupten, dassPius  XII. antijüdisch gewesen sei, war doch sein bester Freund schon in Schultagen ein Jude, Guido Mendes, dem er 1938 die Ausreise in die Schweiz ermöglichte, von wo aus er dann nach Palästina übersiedelte. Die beiden sind zeitlebens Freunde geblieben, und als Mendes bereits ein berühmter Arzt in Israel war, kam er zweimal nach Rom, um den Kontakt zu seinem Freund wieder zu erneuern. Als Pius XII. am 9. Oktober 1958 starb, war er es, der voll Lobes seines Freundes gedachte. Doch er war nicht allein; auch die damalige Außenministerin Israels, Golda Meir, der erste Ministerpräsident Mosche Scharett und so viele andere jüdische Instanzen haben Pius XII. gelobt und gepriesen für alles, was er von Anfang an für die Juden getan hatte, während so viele andere ihnen die Hilfe verweigert hatten. 

Pius XII. hat sich immer und immer wieder bemüht und auch hier in Rom dafür gesorgt, dass der Vatikan und über 200 kirchliche Institutionen ihre Tore für die Juden öffneten, als ihre Verfolgung die Ewige Stadt erreichte. Ich kann das bezeugen, denn als ich selbst 1947 als blutjunger Dozent der Philosophie im päpstlichen Kollegium Germanicum hier in Rom war, hatte ich die Gelegenheit, viele von ihnen zu sprechen.

Priester erzählten mir, wie sie vom Papst beauftragt worden waren, von einem Kloster zum anderen zu gehen und zu sagen: "Öffnet Eure Tore für die Juden." Selbst da, wo dies eigentlich verboten ist, etwa in Klausur- und Frauenklöstern, wurden Ausnahmen gemacht. 

Das hohe Ziel war, Menschenleben zu retten – nur darum ging es. Die beiden Nachfolger von Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI., haben beide später bestätigt, dass sie bei allen Bemühungen, Juden zu retten, immer nur das getan hatten, was der Papst von ihnen verlangt hatte. 

Es gibt heute, Gott sei Dank, viele Juden, die das anerkennen. Ich nenne da an erster Stelle die Pave the Way Foundation von Herrn Gary Krupp aus New York. Aber es gibt auch renommierte jüdische Wissenschaftler wie Sir Martin Gilbert, der von der Queen aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde und der Pius XII. immer wieder verteidigt hat, in seinen Büchern und in seinen Vorträgen, und der persönlich nach Yad Vashem ging, um dagegen zu protestieren, dass Pius XII. in der sogenannten Hall of Shame neben Hitler und Eichmann zu sehen war. Aber leider gibt es auch andere, deren Behauptungen das vorliegende Buch so eindrucksvoll widerlegt. 

Auch ein anderes wichtiges Kapitel erwähnt dieses Buch, nämlich die Verschwörung deutscher Generäle und Admiräle gegen Hitler, ihren Plan, ihn aus dem Weg zu räumen, und ihre Zusammenarbeit dabei mit Pius XII., der, anders als sonst, nicht erst lange überlegte, sondern ihnen spontan und innerhalb von wenigen Stunden seine Unterstützung zusicherte. Das war ein äußerst mutiger Entschluss, denn wenn Hitler das je erfahren hätte, hätte der katholischen Kirche in Deutschland eine noch unerbittlichere Verfolgung gedroht, als sie ohnehin schon stattfand.

All das ist heute leider vergessen. Es ist darum hoch an der Zeit, dass Autoren wie mein Freund Michael Hesemann daran erinnern, was Pius XII. wirklich getan hat und welches Risiko er dabei auf sich nahm, um Menschenleben zu retten. Hätten alle seine Bemühungen um Frieden und um eine Beseitigung Hitlers Erfolg gehabt, hätte weder der Zweite Weltkrieg stattgefunden noch die Schoah, der schreckliche Holocaust. Es ist die Tragik seines Lebens, dass es ihm trotz aller Versuche nicht gelungen ist, diese Schrecken zu verhindern. Doch es ist sein Verdienst, alles Menschenmögliche versucht zu haben.

Pater Prof. Dr. Peter Gumpel, SJ, Vatikanstadt

Relator im Seligsprechungsprozess für Pius XII.

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