16. März 2020
Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht "von Natur", nicht von selbst. Menschen müssen, wie wir im Deutschen sagen, ihr "Leben führen". Sie müssen, um Menschen zu sein, ihrem Leben eine Gestalt geben. Das gelingt nur, wenn das Leben einen Inhalt hat, der über die bloße Selbsterhaltung und die Reproduktion der Gattung hinausgeht. Einen Inhalt, der den Menschen übersteigt. Der Mensch ist das Wesen der Selbsttranszendenz. Er braucht etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Das cor curvatum in se ipsum, von dem der heilige Augustinus spricht, das Herz, dem es nur noch um sich selbst geht, ist nicht mehr im eigentlichen Sinne menschlich. Was wir Kultur nennen, ist die Prägung des Lebens einer Gemeinschaft durch solche Inhalte, die das Leben strukturieren und ihm einen Sinn geben.
All diese Inhalte sind letzten Endes relativ. Den einzig adäquaten Gegenstand menschlicher Selbsttranszendenz nennen wir Gott. Friedrich Nietzsche hielt die christliche Idee der Gottesliebe für die höchste Idee der bisherigen Menschheit, weil sie den Menschen lehrte, sich auf etwas zu richten, das größer ist als der Mensch und weil so der Mensch über sich selbst hinauszuwachsen lernte. Nur dadurch wird der Mensch im eigentlichen Sinne menschlich. In diesem Sinne schrieb Andrej Sinjawski aus dem Zustand tiefster Erniedrigung im sibirischen GULAG: "Wir haben uns lange genug Gedanken über den Menschen gemacht. Es wird Zeit, an Gott zu denken!"
Nietzsche hielt Gott für tot, und um die Lücke zu füllen, erfand er als funktionales Äquivalent der Gottesidee den Übermenschen. Die Utopie des Übermenschen war, wie alle Utopien der Neuzeit, Religionsersatz. Die Utopien sollten, wie Feuerbach und Marx sagten, dasjenige auf die künftige Erde zurückholen, was die Menschen bisher in den Himmel projiziert hatten. Der Sinn menschlichen Handelns sollte letzten Endes aus der irdischen Zukunft der Menschheit gewonnen werden. Nicht der Mensch "wie er geht und steht" ist für Marx verehrungswürdig, sondern nur der Mensch der Zukunft. Aber warum soll dieser Mensch besser sein, bloß weil es ihm besser geht? Zukunft wurde Opium des Volkes. Die Utopien projizierten freilich nur einen schwachen Abglanz dessen, was für den Gläubigen lebendige Gegenwart ist, in eine unbestimmte irdische Zukunft. Gott ist lebendige Gegenwart. Und die künftige Welt Gottes warf in christlichen Zeiten ihren Glanz vielfältig auf das tägliche Leben der Menschen voraus - nicht nur an Weihnachten und Ostern und nicht nur sonntags, obgleich an diesen Tagen besonders.
Dieser Glanz durchdrang das oft genug dürftige reale Leben der Menschen und entriß es der Banalität. Er machte auch die Armut zu "edler Armut", wie Johannes XXIII. im Blick auf seine Kindheit sagte. Die Gegenwart der göttlichen Welt in der menschlichen bedeutet auch, daß die Arbeit, daß alles, was gut und schön getan wird, nicht nur durch seinen späteren Nutzen gerechtfertigt ist, sondern hier und jetzt seinen Sinn hat, weil es, wie es in der Bibel heißt, "in Gott getan ist". Das aber macht Feste ebenso wie Arbeit zu Elementen menschlicher Kultur, wobei die Feste den Vorrang haben. Sie vergegenwärtigen immer wieder den präsenten Sinn des Ganzen.
Die neuzeitliche Utopie ersetzte die Erwartung unsterblichen göttlichen Lebens für jeden, der sich danach ausstreckt, durch die Perspektive verbesserter irdischer Lebensbedingungen später lebender Menschen. Dazu bedurfte es der Verwandlung der Gesellschaft in eine zweckrationale Organisation, die diese Verbesserungen herbeiführen sollte. Das gegenwärtige Leben hat, auch wenn es schön und richtig gelebt wird, nicht mehr einen Ewigkeitssinn in sich selbst. Kultur existiert eigentlich noch gar nicht, sondern sie soll das künftige Ergebnis gegenwärtiger Arbeit sein. Es gibt auch nicht wirklich etwas zu feiern. An die Stelle des Festes tritt die Freizeit. Wieso allerdings die Verbesserung des Lebens künftiger Generationen dieses Leben der Banalität sollte entreißen können, kann die Utopie nicht einsichtig machen.
Die Utopie ist inzwischen tot. Toter als es Gott je war. Es hat sich gezeigt, daß die Organisation der Gesellschaft im Dienst der Utopie materielle Verbesserungen eher behinderte als beförderte. Was bleibt aber, wenn der Religionsersatz sich als Illusion erwiesen hat? Natürlich legt sich die Rückkehr vom Ersatz zum Original nahe. Aber die Rückkehr zu Gott geschieht nie automatisch. Sie ist immer nur die Folge eines Aufbruchs eines jeden Menschen. Zu diesem Aufbruch gibt es immer eine Alternative. Wie sieht heute die Alternative aus? An die Stelle der Utopie als Religionsersatz tritt heute eine radikale Antiutopie, die dem Gedanken der Transzendenz des Menschen in jeder Weise absagt. Ein angesehener amerikanischer Philosoph der Gegenwart, Richard Rorty, hat unlängst die Antiutopie entworfen. Es handelt sich um das Wunschbild einer liberalen Gesellschaft, in der alle kognitiven, ethischen und religiösen Absolutheitsansprüche verschwunden sind und in der "nichts für wirklicher gehalten wird als Lust und Schmerz". Alles, worum es dem Menschen geht, alles, womit es ihm ernst ist, ist Illusion. Es soll uns mit nichts mehr ernst sein. Das höchste Resultat der Bildung ist Ironie. Im übrigen wollen wir uns wohlfühlen, das ist alles. An die Stelle des heroischen Nihilismus tritt das, was ich den "banalen Nihilismus" nennen möchte.
Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert. Er sprach in diesem Zusammenhang von dem letzten Menschen". "‚Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?' - so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht... 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm. Denn man braucht Wärme... Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und keine Herde. Jeder will das gleiche. Jeder ist gleich. Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus... Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. 'Wir haben das Glück erfunden', sagen die letzten Menschen und blinzeln."
Der letzte Mensch Nietzsches: das ist die Verkörperung des banalen Nihilismus. Er nennt sich heute selbst "Liberalismus" und hat für alles, was sich ihm nicht fügt, die Einschüchtervokabel "Fundamentalismus" bereit. Ein Fundamentalist ist in diesem Sinne jeder, dem es mit irgend etwas ernst ist, das für ihn nicht zur Disposition steht. Für den banalen Liberalismus ist Freiheit: Vermehrung von Optionschancen. Er läßt aber keine Option gelten, für die es sich lohnte, auf alle übrigen zu verzichten. Von einer solchen Option aber spricht das Evangelium: von dem Schatz im Acker und der kostbaren Perle, für die der, der sie findet, alles verkauft.
Dieser Schatz war es, der der europäischen Kultur ihre vitale Mitte gab. Diejenigen, die für diesen Schatz wirklich alles verkauften, waren die Heiligen. Das christliche Europa bestand nicht überwiegend aus Heiligen. Im Gegenteil. Aber es existierte so lange, als es nicht daran zweifelte, daß die Heiligen den besten Teil erwählt hatten. Sie waren es, die die letztlich geltenden Wertmaßstäbe repräsentierten. Wenn Europa diesen Schatz verliert, bleibt ihm nur noch der banale Nihilismus, also das Ende jeder Kultur, die diesen Namen verdient.
Wenn es deshalb in Gottes Plan liegen sollte, die Kirche in Europa noch einmal zur kulturell prägenden Kraft werden zu lassen, dann nur, wenn sie als Heimat derer sichtbar wird, die der Banalität überdrüssig sind, also als das wirklich Andere, als wirkliche Alternative zur Zivilisation der Banalität und das heißt: als Kirche der Heiligen. Die christliche Erneuerung Europas wird nicht von Symposien und Kongressen ausgehen, nicht von Planungsbüros, Katholischen Akademien und Theologischen Fakultäten und auch nicht von kirchlichen Institutionen sozialpädagogischer Art, die vielfach längst gar nicht mehr genügend gläubige Christen haben, um aus authentisch christlichem Geist zu arbeiten. Eine an den Geist der Zeit angepaßte Kirche wird in Zukunft immer weniger interessieren. Den großen christlichen Aufbrüchen gingen stets Epochen des Rückzugs, der Distanznahme und der Rückbesinnung voraus. Ohne den Rückzug des heiligen Benedikt in die Einsamkeit von Subiaco wäre dieser Heilige nicht Patron Europas geworden. Und noch der renouveau catholique, die scharenweise Hinwendung von Intellektuellen und Künstlern zur Kirche am Anfang des 20. Jahrhunderts war nicht eine Frucht des Aufklärungskatholizismus des 18. Jahrhunderts, sondern ihr ging voraus die Kampfansage des "Syllabus" des Pius IX. an den religiösen Liberalismus im 19. Jahrhundert, durch den die Kirche zeitweise in eine Art Ghetto geriet. Als Ausgangsposition für christliche Mission ist aber die zeitweise Verbannung ins sogenannte Ghetto offensichtlich günstiger als die Anpassung an den Zeitgeist, durch die das Salz allmählich schal wird.
Wenn die Präsenz des Göttlichen in der Gesellschaft Kern jeder authentischen Kultur ist, dann besteht die kulturelle Leistung der Kirche für Europa zuerst und vor allem darin, diese Präsenz darzustellen. Ob also die Kirche für die Kultur Europas eine entscheidende Bedeutung haben wird, hängt davon ab, ob sie ganz sie selbst ist, ob sie in Lehre, Kult und Ethos ihre Identität bewahrt oder zurückgewinnt. Diese Präsenz hat eine doppelte Gestalt, eine kognitive und eine praktische, Mythos und Ethos. Die Mitte, aus der beide hervorgehen, das sacrum commercium, der heilige Austausch von göttlicher und menschlicher Welt, ist der Kult, das kultische Opfer.
Unter Mythos verstehe ich eine Deutung der Wirklichkeit, die sich von wissenschaftlicher Deutung prinzipiell unterscheidet. Wissenschaft setzt die Welt als ganze immer schon voraus und stellt Regelmäßigkeiten und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Welt fest. Wo die Naturwissenschaft statt dessen singuläre Geschichten erzählt - also die Geschichte von der Evolution des materiellen Universums -, da handelt es sich um hypothetische Rekonstruktionen aufgrund gegebener Ausgangsdaten und bekannter Naturgesetze. Der Mythos ist dagegen eine überlieferte Geschichte, die jeder Theorie vorausliegt. Sie bezieht sich auf die Welt als ganze, als einmaliges Ereignis, auf ihren Ursprung, auf ihr Ziel, auf den Grund ihrer unbefriedigenden Verfassung und auf den Weg zur Überwindung dieser Verfassung. Authentische Kultur setzt stets eine solche Erzählung voraus, die die Welt als Ganzes deutet. Der Mythos des Christentums beginnt mit der Erschaffung der Welt. Im Mittelpunkt steht das Erscheinen Gottes in der Welt in Gestalt des Jesus von Nazareth, seine Geburt von einer Jungfrau, sein Tod am Kreuz unter Pontius Pilatus und seine leibliche Auferstehung. Das Christentum versteht seinen Mythos im Gegensatz zu den Mythen der Heiden zugleich als geschichtliche Wahrheit. Also als etwas, das man in wahrheitsfähigen Sätzen ausdrücken kann. Der Glaube der Kirche artikuliert sich in solchen Sätzen, also in Dogmen. Um die Wahrheit wurden in Europa mörderische Bruderkriege geführt, bis dann das resignative Prinzip sich durchsetzte, das Thomas Hobbes so formulierte: "non veritas sed auctoritas facit legem". Die Kirche hat inzwischen gelernt, die ihr anvertraute Wahrheit als eine Sache zu begreifen, die ihrem Wesen nach nur in freier Zustimmung ergriffen werden kann und deren Verkündigung deshalb den öffentlichen Frieden nicht gefährden muß. Aber das ändert nichts am Absolutheitsanspruch dieser Verkündigung. Den religiösen Liberalismus kann die Kirche nach wie vor nur als Gegner sehen, so wie ihn John Henry Newman sah. Nur unter dieser Voraussetzung kann das Christentum Ferment der europäischen Kultur bleiben oder wieder werden. Denn Relativismus und Skeptizismus sind nicht nur der spirituelle Tod der Seele, sondern auch der jeder vitalen Kultur. Vor allem aber der europäischen. Denn Europa kann seinen Mythos nicht als regionale Besonderheit relativieren, ohne ihn ganz aufzugeben. Christus ist entweder wirklich von einer Jungfrau geboren und von den Toten auferstanden, oder er ist es nicht. Tertium non datur. Weil sie auf die Wahrheit bezogen ist, ist die christliche Kultur Europas wesentlich universalistisch und deshalb hinsichtlich ihres Glaubenskerns missionarisch. Am cor curvatum in se ipsum eines Eurozentrismus, der sich selbst relativiert, müßte die europäische Kultur sterben.
Die Vergegenwärtigung des Mythos geschieht nicht durch anonyme Medien, sondern erstens durch Erzählung von Mund zu Mund realer Menschen, zweitens aber und vor allem durch den Kult. Lex orandi lex credendi. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Wirklichkeit findet in ritueller Feier statt. "Laß uns durch das Mysterium dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen", so betet die katholische Kirche täglich in ihrer alten römischen Meßliturgie. (Es ist unbegreiflich, daß gerade dieser Text durch die Liturgiereform beseitigt wurde.)
Der christliche Kult ist Vergegenwärtigung eines Opfers. Das Opfer ist die reale und gewaltsame Negation der Selbstbehauptung des Endlichen gegenüber Gott. "Nicht mein Wille, sondern der Deine", sagt Christus zu Beginn seines Leidens. Das Opfer von Golgotha ist daher Ende aller Opferaltäre der Geschichte, weil es die Erfüllung der Intention aller dieser Altäre ist. In der Mitte des kultischen Opfers der Kirche steht die Transsubstantiation - das Paradigma aller Kunst Europas, die mehr war als bloße Unterhaltung. Durch mehr als ein Jahrtausend war die Feier dieses Kultus Kern der künstlerischen Kultur und des Kontinents, eine unaufhörliche Quelle der Inspiration für bildende Kunst, Dichtung und Musik bis in die Mitte unseres Jahrhunderts. Es muß erlaubt sein, darüber nachzudenken, warum das seit den sechziger Jahren plötzlich und vollständig aufgehört hat.
Zu der kulturrelevanten Selbsterneuerung der Kirche gehört in erster Linie die Wiederherstellung einer Feier der Messe, in welcher der Mysteriencharakter, der Opfercharakter und der Gebetscharakter unmißverständlich hervortritt. Dazu gehört, daß aus dieser Feier die vielen Beliebigkeiten entfernt werden müssen. Ein großes Kunstwerk duldet keine Beliebigkeit. Es gehört ferner dazu, daß die Möglichkeit, die Feier der Messe mit einer volkspädagogischen Veranstaltung zu verwechseln, beseitigt wird. Das kann vor allem geschehen durch Wiederherstellung einer gemeinsamen Gebetsrichtung von Priester und Volk. Die allgemeine Etablierung von sogenannten Volksaltären verwischt den Unterschied von Altar und Kanzel. Und wenn das Mikrophon auf dem Altar hinzukommt, wird fast unvermeidlich der sinnliche Eindruck erzeugt, der Priester sei ein Animateur, der uns durch etwas anderes zum Beten bringen will als dadurch, daß er selbst betet.
Im übrigen ist für West- und Mitteleuropa die lateinische Sprache, die das Zweite Vatikanische Konzil als eigentliche Liturgiesprache verlangt, ein wesentlicher Beitrag zur Einheit der europäischen Kirche und unserer Kultur. In meiner Stadt finden sich nur dort, wo eine lateinische Messe gefeiert wird, Deutsche, Franzosen, Polen, Rumänen und Italiener sonntags als Katholiken zusammen, während überall sonst die Landsmannschaften sich bei der Feier der Liturgie trennen. Ich nenne nur einige solche Details, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind, wenn die Feier des Mysteriums unserer Erlösung wieder zur Mitte des kulturellen Lebens Europas werden soll.
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Der rituelle Kult ist im Christentum Symbol für das ethische Leben des Christen als "innerer Kult", und die Transsubstantiation der innerste Ausgangspunkt der Transzendierung und Humanisierung der Natur. Darauf aber beruht wiederum alle Kultur. Das sacrum commercium von göttlicher und menschlicher Welt hat sein Analogon im sacrum commercium von Geist und Natur im Menschen selbst. Die moderne szientistische Zivilisation stellt, Descartes folgend, res cogitans und res extensa einander gegenüber. Es gibt einerseits ein abstraktes Subjekt, genannt "die Wissenschaft", und andererseits die gesamte natürliche Welt, die zum bloßen Objekt dieser Wissenschaft herabgesetzt wird. Wo aber der Geist keine natürliche Dimension und die Natur keine spirituelle hat, da kann von Kultur nicht mehr die Rede sein. Cultura heißt ursprünglich Ackerbau, also Veredelung der Natur. Die szientistische Zivilisation hat eine Tendenz sowohl zum Spiritualismus wie zum Materialismus, die beide kulturfeindlich sind. Der Kampf der katholischen Kirche für eine spirituelle Auffassung der menschlichen Natur und eine natürliche Auffassung menschlicher Personalität wirkt dieser Dekomposition entgegen und ist der wichtigste praktische Beitrag des Christentums zur Bewahrung einer humanen Kultur. Dieser Widerstand kommt zum Ausdruck ebenso im Kampf gegen Abtreibung wie gegen Euthanasie, Kontrazeption und In-vitro-fertilisation. Die Einheit von Natur und Personalität in einem lebendigen Menschen hat ja ihren Anfang in der Einheit von geschlechtlicher Vereinigung und Zeugung. Der Widerstand gegen die artifizielle Trennung beider, der Widerstand gegen die Herstellung von Menschen in der Retorte gründet im "genitum non factum", das für jeden Menschen gelten muß. Leider muß die Kirche bei diesem Widerstand weitgehend auf die Hilfe derer verzichten, die dazu berufen sind, den Sinn dieses Widerstands zu vermitteln und zu interpretieren. Katholische Akademien in meinem Land, die von Gläubigen bezahlt, aber von Bischöfen kontrolliert werden, stellen ihren Apparat in den Dienst der Propaganda gegen die diesbezügliche Lehre der Kirche. Und wenn die Bischöfe dazu schweigen, wird das naturgemäß von den Gläubigen nach der Regel interpretiert: "qui tacet consentire videtur".
Was heute vielen Menschen als borniertes Festhalten der Kirche an traditionellen Verhaltensmustern erscheint, muß in einem neuen Lichte gesehen werden: als Widerstand gegen das, was C.S. Lewis "die Abschaffung des Menschen", die "abolition of man" genannt hat. Die szientistische Zivilisation mit ihrer Tendenz zum Spiritualismus und Materialismus, zur Dekomposition der menschlichen Natur ist die Tendenz zu dieser Abschaffung. Wenn Europa nicht die kostbare Perle wiederfindet, die seine Mitte war, wird es zum Ort, von dem die Abschaffung des Menschen auf diesem Planeten ausgeht.
Diese Rede hielt der Philosoph Robert Spaemann unter dem Titel "Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos" im November 1991 in Rom vor dem Praesynodalen Symposium über Christentum und Kultur gehalten. Sie wurde in der Zeitschrift "Umkehr", Februar 1993, hg. vom Priesterseminar St. Petrus, veröffentlicht.
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