7. Oktober 2020
In Patras blickten wir in einer Seitenkapelle der Basilika plötzlich auf die offene Schädeldecke des Andreas, die unter einem Bergkristall den Gläubigen zum Kuss geboten wird. Wie der Flusslauf des Jordans auf einem alten Pergament schaute uns die Schädelnaht des Apostels an, wie die Landmarke einer Landkarte in eine unbekannte Welt. Unter dieser Schädeldecke muss sich ein Augenpaar bewegt haben, das Jesus gesehen hat. Das Maria sah. Das Maria sterben sah. Der Apostel Andreas hatte sie mit zu Grab getragen. Beinahe hätten wir unser Schiff verpasst.
Wind kam auf, als die Fähre sich von der Kaimauer löste. Der Golf von Korinth erstreckte sich makellos blau vor dem Bug. Im Westen waren die Hügel und Berge zu erkennen, die sich von beiden Seiten des Festlands, von Norden und Süden, zu jener Meerenge in die See hineinschoben, auf die das Schiff nun in großem Bogen von Patras her Kurs nahm zur Adria. Ich hielt mich an der Reling fest und schaute auf das glitzernde Auf und Ab der Wellen in der Bucht von Lepanto. Es war hier, wo am 7. Oktober 1571 eine Seeschlacht wütete, gegen die der Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und der Terrorangriff auf die New Yorker Twin Towers sich wie ein Geplänkel der Weltgeschichte ausnimmt. Vielleicht hat in den letzten tausend Jahren nur die Schlacht um Wien hundertzwölf Jahre später den Lauf der Geschichte Europas noch einmal so entscheidend verändert. Die Seeschlacht von Lepanto hatte rund 40.000 Gefallene und unzählige Verwundete an einem einzigen Tag gekostet – und sie hatte eine fast dreihundertjährige Vorgeschichte.
Im 14. Jahrhundert hatten die Osmanen große Teile des Balkans erobert. 1453 fiel das christliche Konstantinopel. Im frühen 16. Jahrhundert wurde der Vordere Orient unterworfen. 1529 belagerten die Türken Wien. 1571 fiel das venezianische Zypern. Seitdem beherrschte das Osmanische Reich den gesamten östlichen Mittelmeerraum. Jetzt war Kreta gefährdet, der letzte Stützpunkt des Orienthandels der Venezianer. Der Papst sah nicht nur Italien, sondern die ganze Christenheit von Selim II., dem Sohn Suleiman des Prächtigen, bedroht. Ganz Europa drohte eine Balkanisierung. Der Vormarsch der Türken schien unaufhaltbar. In dieser Situation gelang es Pius V., Venezianer und Spanier zu einem Abwehrbündnis zu vereinen. Auch viele abendländische Fürsten entsandten Söldner für die größte Streitmacht, die der Westen den Türken jemals entgegengestellt hatte.
Doch als die Flotte der Christen im Morgengrauen des 7. Oktober vom Westen her in das Ionische Meer segelte und ruderte, traf sie direkt hinter der dahin führenden Meerenge auf die Schiffe der Türken. Sie waren in der Linie einer Mondsichel wie Perlen eines Rosenkranzes von der griechischen Küste im Norden bis zur Küste des Peloponnes im Süden aufgereiht. In ihrem Rücken schauten die Christen auf eine zweite Kette. Es war die perfekte Falle. Die Helden der christlichen Seefahrt waren den Janitscharen Ali Paschas hoffnungslos unterlegen. Der Kommandant der muslimischen Flotte war ein genialer Stratege. Zwei große Geschwader Venedigs und Spaniens trieb der Wind gerade in seine offenen Arme, begleitet von kleineren Flotten aus Parma und Savoyen, die sich mit den Streitkräften Genuas unter dem Kommando des Kondottiere Andrea Doria vereinigt hatten. Das Oberkommando über die Christen hatte Don Juan de Austria, ein Halbbruder Philipps II. von Spanien. Er war vierundzwanzig Jahre alt, wie Andrea Doria.
Auch Miguel de Cervantes Saavedra war auf einem der Schiffe, auch er vierundzwanzigjährig. Zwei Büchsenschüsse trafen an diesem Tag seine Brust, ein dritter zermalmte die linke Hand des Spaniers, der später mit seiner Rechten den Don Quijote de la Mancha schreiben würde. Die Blüte Europas kämpfte an diesem Tag in der »Heiligen Liga« gegen den Halbmond, der aus dem Osten kam. Es war eine einmalige Vereinigung der uneinigen Christenheit. Das Flaggschiff der Savoyer zierte eine riesige Fahne, auf der die Konturen des Gekreuzigten vom Turiner Grabtuch in den schweren Brokat vor dem Emblem der Sonne gestickt waren. Die Flagge hing aber schlaff vom Mast herunter, es fehlte der Wind. Fast fünfhundert Schiffe und rund zweihunderttausend Mann standen sich auf dem Wasser gegenüber, doch die Christen waren den türkischen Positionen gleich zu Beginn hoffnungslos unterlegen.
Sturmvögel flatterten aufgeregt über den Wellen, als sich gegen neun Uhr morgens der Himmel verdunkelte. Die größten Hoffnungen der Europäer waren sechs Galeassen, schwere Segelschiffe mit Hilfsrudern, die allerdings schwer manövrierbar waren. Ihre weitreichenden Geschütze konnten sie hier kaum einsetzen. Dazu fehlte der Rückenwind. Mit dem Ruf »Viva Maria!« stürzte sich Andrea Doria endlich dennoch kopfüber in die Schlacht. Sogleich wurde er ausmanövriert, sein Admiralsschiff abgedrängt und sein Abschnitt von der Hauptstreitmacht abgetrennt. Der türkische Admiral Uluch Ali machte sich daran, die Schiffe der genuesischen Flotte eins nach dem anderen zu versenken. Es war der Anfang vom Ende. Das Flaggschiff Don Juans wurde von den Türken geentert. Überall nutzten sie ihre vorteilhaften Positionen. Sie taktierten besser und kämpften geschickter – mit unbändigem Siegeswillen.
Enorme Beute lockte sie an. Hinter der Bucht von Lepanto und der christlichen Flotte lag Venedig offen wie eine unbewachte Schatzkammer – und Bari, Rom, Neapel, alle Häfen des Westens. Verzweifelt stürzte Andrea Doria unter Deck und warf sich vor einem neuen Gnadenbild Marias nieder. Nur die Königin des Himmels könne ihm jetzt noch helfen, flehte er, wenn nicht alles verloren sein sollte. Wenn ihr die Christenheit noch irgendwie lieb und teuer war. Unter Tränen rief der junge Kondottiere die fremde Jungfrau mit dem Kreuzesmedaillon an.
Es war die erste Kopie vom Gnadenbild Marias von Guadalupe aus Mexiko in Europa. Alonso Montúfar, Mexikos neuer Erzbischof, hatte das Bild ein Jahr zuvor anfertigen und als Geschenk an Spaniens König verschiffen lassen. Philipp II. hatte das Bild an Juan de Austria weitergegeben. Der hatte die Madonna auf dem Halbmond dem jugendlichen Admiral Andrea Doria als Glück verheißendes »Pallium« anvertraut, als Schutzmantel für den entscheidenden Waffengang.
Als Andrea Doria wieder an Deck kam, hatte sich der Wind gedreht. Ein Sturm war ausgebrochen und fegte die türkischen Formationen auseinander. Plötzlich konnten die Europäer ihre Feuerkraft ausspielen. Spanier enterten das Flaggschiff Ali Paschas und enthaupteten den Eliteadmiral Selims noch an Bord. Furcht ergriff die Türken, Panik machte ihr Manövrieren unmöglich. Wer schwimmen konnte, versuchte durch das blutrote Meer das Land zu erreichen. Wer es nicht konnte, klammerte sich an Planken und Schiffstrümmern fest. Es war eine grässliche Schlacht – und ein überwältigender Sieg der Christenheit –, bei der hier vom Morgen des 7. Oktober 1571 bis zum frühen Nachmittag mindestens dreißigtausend Türken und siebentausendsechshundert Christen zu Tode kamen: hier, auf diesen Wellen, in dieser Bucht, an einem einzigen Tag. (Vierhundert Jahre später kosteten die zehn Jahre des Ersten und Zweiten Weltkriegs die deutsche U-Boot-Flotte insgesamt 33.472 Gefallene). Fünfzehntausend Christen wurden an dem Tag von den Galeeren der Türken befreit, wo sie an die Ruder gekettet waren. Der Sieg hatte den osmanischen Siegeslauf des Islam nach Westen erstmals auf dramatische Weise gebrochen. Von diesem Tag an ging es bergab mit der türkischen Seemacht.
Ich hatte in vielen Berichten davon gelesen – und natürlich auch viele Berichte der Schlacht, in denen die Intervention der Jungfrau mit keinem Wort erwähnt wird. Nur der günstige Wind wird überall erwähnt. Die Quellen sind schwierig auszumachen. Für die Zahl der Todesopfer gilt als Hauptzeuge der Chronist Wilhelm Dilich, der erst im Jahr der Schlacht geboren wurde. Nur drei Dinge bleiben unzweifelhaft: Erstens: Die Schlacht wurde gegen alle Wahrscheinlichkeit von den Christen überwältigend gewonnen. Zweitens: Dieser Sieg wurde später von der genuesischen Flotte der Jungfrau von Guadalupe zugeschrieben. Drittens: Andrea Doria führte gewiss die erste Kopie der apokalyptischen Madonna von Guadalupe, die Europa erreicht hatte, mit sich an Bord.
Ich habe sie mir selbst angeschaut, nachdem ich aus Mexiko zurückgekommen war. Über die von Oleandern umsäumte Autobahn waren wir im Juli 1999 von Frankreich kommend viele Stunden durch die Berge und Tunnel und über die Brücken Liguriens hoch über dem Meer an dem in zwei Täler gefalteten Stadtkoloss Genua vorbei und endlich in den Apennin hoch gefahren, hundert Kurven lang, bis wir schließlich auf der Höhe der Adler in den Bergen am Ziel angekommen waren, einem kleinen Kirchlein, wo wir das Auto unter einer ausladenden Kastanie parkten: Santo Stefano d’Aveto.
Mit steifen Beinen gingen wir zu dem Portal hinüber, drückten einen Flügel auf, suchten das Dämmerlicht nach dem Bild der Madonna ab und blieben rechts bei einem blutverschmierten Antlitz Christi hängen, mit abgenommener Dornenkrone, die Stirn und Schläfen mit Stichwunden übersät, das Haar nass von Blut. Doch keine Madonna, für die wir uns auf den langen Weg gemacht hatten. Auf unser Klingeln im Pfarrhaus rief uns aus einem Fenster die Sakristanin zu, wir müssten ein Dorf weiter fahren.
Im nächsten Dorf, noch einige Kurven höher, stand die Tür in der hellen Pfarrkirche weit offen. Es wurde Abend. Rund zwanzig Frauen und einige Männer beteten in den ersten Bänken gerade den Rosenkranz: Ave Maria piena di grazia il Signore è con te... Wie Glieder einer Endloskette griffen die Teilgebete ineinander: Amen Ave Amen Ave Amen Ave …. Ich aber hatte nur Augen für das Medaillon der Morenita in einem reich verzierten Rahmen hoch oben im Hauptaltar. Ja, wahrhaftig, das war sie, das musste sie sein: das erste verbürgte Abbild der Jungfrau von Mexiko, detailgenau und mit großer Kunstfertigkeit nachgemalt. Mit den Sonnenstrahlen umhüllt im Wolkenoval, den Sternen auf ihrem Mantel, dem schwarzen Mond zu ihren Füßen, den vier Fingern ihrer betenden Hände, dem kleinen gefiederten Mann am Zipfel ihrer Gewänder, dem durchsichtigen Blumenschleier, dem gesenkten Blick und bronzenem Teint, den Falten ihres Gewands und ihres Mantels. Nichts fehlte. Nur eine neunzackige Krone hatte der Kopist ihr noch hinzugefügt. Schließlich hält diese Kopie auch fest, dass sich das Original zumindest seit dem Jahr 1570 farblich so gut wie nicht verändert hat, weder durch Schmutz noch durch Witterung.
Im Hinterland Genuas war das Bild nach der Schlacht von Lepanto in der mächtigen Malaspina-Burg im Besitz der Familie Doria geblieben, bis es im Jahr 1811 Kardinal Giuseppe Doria dieser kleinen Pfarrei im Hochtal von d’Aveto vermachte, wo es die Kirche bald zu einem Wallfahrtsort werden ließ.
Ein Jahr nach dem Sieg ließ Papst Pius V. für den 7. Oktober einen neuen Festtag in den Reigen des katholischen Festkalenders einfügen. Es ist der Gedenktag »Unsere Liebe Frau vom Sieg«, der schon bald in »Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz« umbenannt wurde. Der venezianische Senat ließ damals im Dogenpalast unter das Bild der Schlacht die Worte setzen: »Weder Macht noch Waffen und Führer, sondern Maria vom Rosenkranz hat uns zum Sieg verholfen.« Viele Städte nahmen das Bild Marias auf einem Halbmond in ihr Wappen auf.
Dem überwältigenden Ereignis verdanken sich das Deckengemälde in der Kirche Ara Coeli am römischen Kapitol und unzählige andere Bilder in vielen Barockkirchen auf der westlichen Hemisphäre, bis hin zur Heimsuchungskirche in Ein Karem bei Jerusalem, wo Maria nach Ihrer Empfängnis ihre schwangere Base Elisabeth aufgesucht hat, die Mutter Johannes des Täufers. Für die Schlacht von Lepanto hatte Pius V. die lateinische Christenheit zu einem Sturmgebet des Rosenkranzes aufgerufen. Während sie noch auf dem Meer tobte, zogen in Rom betende Rosenkranz-Bruderschaften durch die Straßen. Den Akten seiner späteren Heiligsprechung im Vatikan ist zu entnehmen, dass der Papst seinen Vertrauten schon in der Stunde des Sieges mitteilte, dass er gerade eine Vision gehabt hatte, die ihn von dem Triumph der Christen unterrichtete. Danach ließ er dem »Ave Maria« des Rosenkranzes das bis heute übliche »Heilige Maria, Mutter Gottes!« anfügen (das bis dahin nur aus dem Gruß des Engels Gabriel an Maria in Nazareth und der Begrüßung durch ihre Cousine Elisabeth im judäischen Bergland bestanden hatte: »Sei gegrüßt, Maria! Der Herr ist mit Dir, Du bist gesegnet unter allen Frauen, und gesegnet ist die Frucht Deines Leibes, Jesus«).
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In Mexiko kam bald darauf das Gerücht auf, der Papst habe den Zusatz direkt jenem Gruß entnommen, mit dem sich die Jungfrau im Morgenrot des 9. Dezember 1531 Juan Diego auf dem Tepeyac-Hügel vorgestellt habe: »Präge dir folgendes gut ein, Allerkleinster meiner Söhne! Ich bin die immerwährende Heilige Jungfrau Maria, die Mutter des einzig wahren heiligen Gottes.«
(*) Auszug aus "Maria von Guadalupe. Wie das Erscheinen der Jungfrau Weltgeschichte schrieb", erschienen bei List Taschenbuch. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors.
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