Eine ältere Dame spricht mich erstaunt an. Sie hat meine Töchter und mich beim Einkaufen beobachtet. Die Mädchen laufen neben mir her, wir gehen den Einkaufszettel durch und ab und an entdecken die beiden Süßigkeiten oder andere Begehrlichkeiten, die sie mir gerne in den Wagen legen würden. Es gibt Situationen, da handeln wir einen Kompromiss aus, oft müssen die beiden aber damit leben, dass ich nein sage und sie die Süßigkeiten zurückbringen müssen.

Das tun sie dann auch, ohne Weinen, ohne Schreien oder hysterische Ausbrüche. Die ältere Dame ist erstaunt und erklärt, dass sie so wohl erzogene Kinder schon lange nicht mehr erlebt habe.

Natürlich bin ich als Mutter geschmeichelt, aber ich denke auch darüber nach, wieso dieses Verhalten meiner Kinder so bemerkenswert ist. Es ist nicht so, als würden die Mädchen nie meckern oder sich auch mal unzufrieden beschweren, dass sie ihren Einkaufswünschen nicht in Gänze nachkommen können, aber wir sprechen dann und schreien nicht. Wir setzen unseren Einkauf fort und ich stelle fest, dass ich die ganze Zeit über mit meinen Kindern kommuniziere und sie am Einkauf partizipieren, was schon beim Verfassen des Einkaufszettels seinen Anfang genommen hatte. Es ist aber auch klar, wer der Chef ist-das bin ich.

Zu Hause denke ich weiter darüber nach. Es hat wohl mit gegenseitigem Vertrauen zu tun, dass ich meine Kinder am Einkauf beteilige und sie sich frei im Laden bewegen, ohne willkürlich Regale leer zu räumen. Gleichzeitig wissen sie, dass ich bereit bin auf Kompromisse einzugehen und meine Chefrolle nicht ausnutze oder ihnen wahllos alles verbiete. Sie vertrauen auf jene Kommunikation mit mir, die ich mit den Mädchen pflege.

Wie oft beobachte ich Mütter, die telefonierend den Kinderwagen durch die Stadt schieben und nicht wahrnehmen, was ihre Kinder sagen oder tun. Die kaum oder erst spät reagieren. Mütter, die keine klaren Ansagen machen, die mit schreienden Kindern vor den kleinen Autos stehen, die hoch und runter schaukeln, wenn man die Euros eingeworfen hat. Das sind Momentaufnahmen und sollen niemanden verurteilen, aber es zeigt mir, was die ältere Dame vermutlich oft sieht und was es "früher nicht gegeben hätte".

So einfach ist das aber nicht, denn die Rolle der Eltern und das Bild vom Kind unterliegt immer dem Wandel der Zeit und das ist gut und wichtig. In den 50er Jahren war man noch der festen Überzeugung, Säuglinge schreien zu lassen, stärke die Lungen. Heute weiß man, dass das fatale Folgen haben kann, da das die Babys traumatisiert und in ihrer Bindung stört. Aber der Trend geht auch immer mehr dahin, Kinder wie Erwachsene zu behandeln. Sie werden durch falsch verstandene Erziehungskonzepte überfordert. Alles wird ausdiskutiert, jedes Familienmitglied hat eine Meinung zu allem und demokratische Abstimmungen gipfeln in hysterischen Kindern, die keine Grenzen und Autoritäten mehr akzeptieren.

Es geht nicht darum, Kinder zu beherrschen oder ihnen den Raum zur Entfaltung zu nehmen, sondern es geht darum, ihnen Sicherheit zu vermitteln und einen Rahmen abzustecken, in dem sie sich entwickeln können. Es geht auch nicht um Kontrolle, sondern es geht um Vertrauen, dass die Eltern das Beste für einen wollen und sich liebevoll dem Kind zuwenden. Das wiederum bestärkt mich in meiner Entscheidung, mir Zeit für meine Kinder zu nehmen, um ihnen das richtige Maß zu zeigen und ihnen vorzuleben, was es heißt eine gute Beziehung zueinander aufzubauen und zu pflegen.

"Früher" war Erziehung anders. Autorität war zum Teil mit Angst besetzt, Kindern sollten mehr funktionieren, als sich zu entfalten.  Es gab Konventionen und wenig Raum zur individuellen Lebensführung oder gar Erziehungshaltung. Das hat Vorteile, denn Eltern konnten sich einfach danach richten, was allgemeingültiger Konsens war.

Heute müssen Eltern sehr viele Entscheidungen treffen, da überhaupt nicht mehr klar ist, was gesellschaftlicher Konsens ist. Es gibt trendige Erziehungskonzepte, neue Tabus, oder gar keine Tabus, es gibt eine Fülle von Angeboten zur Förderung von Kindern ab Geburt, es gibt Kurse, Fragen, Antworten, keine Antworten und dann gibt es diese Euro-Autos, vor denen die Kinder schreiend liegen und die Eltern sich nicht mehr erinnern, für welches Konzept sie sich entschieden hatten.

An ihre Zeit als Mutter erinnert sich die alte Dame also wohl noch mit aller Klarheit in der Erziehung und weiß nicht, was heute von Eltern abverlangt wird. Denn neben den vielen Entscheidungen, die Eltern treffen müssen, unterliegen Familien seit Jahrzehnten einem Strukturwandel. Großfamilien gibt es kaum noch, d.h. Vorbilder fallen weg. Viele Eltern haben noch nie ein Baby gewickelt, bevor sie ihr eigenes Neugeborenes in den Armen halten. Ganz verpönt ist es, sich in Erziehung einzumischen. Der Mythos der Schwiegermutter im Haus, die die eigene Erziehungskompetenz untergräbt, schwebt über allem und so sind die Kleinfamilien bemüht um Privatsphäre, Abgrenzung und eine möglichst eigenwillige Art der Erziehung, um jene Selbstbestimmung zu betonen.

Und was bleibt am Ende zu sagen? Ich komme immer wieder zu dem Schluss, dass wie so oft im Leben, die richtige Mischung das Wahre ist. Ein guter Rat der eigenen Eltern oder Schwiegereltern ist manchmal gar nicht teuer. Autorität darf nicht in Zwang und Strafe münden, Eltern sollten aber mutig sein, Grenzen zu setzen, sachlich und klar zu sein und ihren Kindern Sicherheit durch Regeln zu vermitteln. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie gerne man manchmal nachgeben würde und dem Kind gleich die ganze Tüte Schokoriegel hinstellen möchte, sich ein Bad einlässt und 15 Minuten seine Ruhe hat.

Das Problem ist nur, dass nach diesen 15 Minuten der Terror losgeht, denn Kinder lernen schnell und wer einmal die Schokolade rausgerückt hat, der tut dies vielleicht auch noch ein zweites Mal.

Liebe, Vertrauen, Konsequenz, Grenzen, Regeln und Zuwendung sind für mich die Schlüsselwörter zu einer gelungenen Erziehungshaltung und einer guten Eltern-Kind-Bindung, die unsere Töchter in die Zukunft trägt.

Elisabeth Illig ist Mutter von bald drei Kindern. Die gelernte Erzieherin hat ihr Theologiestudium bewußt unterbrochen, um sich um die Familie zu kümmern.  

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