Stellen Sie sich einen Jungen vor, der wild in den Wäldern aufwächst, ohne jeglichen menschlichen Kontakt, unterrichtet von den Wölfen – so etwas soll es in Indien gegeben haben. Er kann nicht sprechen. Wenn er in ein Dorf zurückgebracht wird, läuft er immer noch auf allen Vieren herum und isst nichts Gekochtes, sondern stopft sich mit rohem Fleisch und Blut voll. Natürlich muss er auf die menschliche Art und Weise erzogen werden.

Das wird nicht leicht sein. Lange Zeit werden ihn die Erinnerungen an seine wilde und ungezügelte Freiheit begleiten und ihn daran hindern, die erhabenen Freuden der menschlichen Liebe, der Unterhaltung und des Spiels, des intellektuellen Austauschs zu genießen. Doch letztendlich wird aus dem echten Mowgli ein Mann.

Es ist nichts Schlechtes, zusammen mit seinen Freunden, den Wölfen, das Jagdwild zu töten. Wenn man Glück hat, lernt man vielleicht sogar den grauen Jäger Akela kennen, der am Ratsfelsen heult. Kiplings Mowgli bereut sein früheres Leben nicht. Wenn überhaupt, dann ist er wehmütig darüber, und dass er es hinter sich lässt, ist ein echtes, aber notwendiges Opfer.

Stellen Sie sich nun ein menschliches Wesen vor, dem es schlechter geht als dem Wolfsjungen. Sie müssen sich ihn nicht vorstellen – oder sie. Lieber Leser, ein Spiegel kann genügen.

Stellen Sie sich einen jungen unverheirateten Mann oder eine junge unverheiratete Frau vor, die noch nie einen einzigen gesunden und unschuldigen Tag der Fröhlichkeit mit einem Vertreter des anderen Geschlechts erlebt hat. Ich meine einen Tag ohne Trunkenheit, ohne Bettgeflüster, ohne Misstrauen, ohne Angst, dass man zu etwas Bösem gedrängt wird – sondern einfach nur unbeschwerte Fröhlichkeit, Tanzen oder Singen oder Kegeln oder Eisessen oder Arm in Arm auf einer Bank sitzen und sich küssen. Keine Wärme und Dankbarkeit, wie eine Meereswelle, die Sie überkommt, wenn eine Hand die andere berührt und ein schüchternes Lächeln auf ein lächelndes Gegenüber trifft.

Stellen Sie sich jemanden vor, der nicht ein einziges Mal in der Nachbarschaft umhergezogen ist, um mit Freunden Football oder Baseball zu spielen, weil die Kinder nicht da sind oder weil er nicht wüsste, wo er anfangen sollte.

Stellen Sie sich jemanden vor, für den der größte Teil der Natur auf dem Mars liegen könnte, auch weil Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten, seine Verdummung gefördert haben, indem sie ihn die meiste Zeit seines jungen Lebens in der Schule oder im Bus eingesperrt oder vor einen Bildschirm gesetzt haben, der ihm den Verstand raubt.

Stellen Sie sich jemanden vor, der noch nie ein richtiges Lied mit seinen Eltern gesungen hat, jemanden, dessen Erfahrung mit Musik aus animalischem Grunzen und Stöhnen besteht. Genauso wie der Wolfsjunge nicht an einem Tisch sitzen kann, kann die Person, die ich mir vorstelle, keinen Bach hören, er hat nie eine der Big Bands des 20. Jahrhunderts gehört, er kennt keine Gospelmusik, er kann kein einziges Instrument spielen und war nicht in der Nähe, als seine Freunde oder andere in der Nachbarschaft es spielten; jemand, dem Artie Shaw und seine Band mit ihrem unvergleichlichen Arrangement von Gershwins "Summertime" so fremd sind wie Beethoven für einen Eskimo vor hundert Jahren – oder eher noch fremder, denn die Eskimos hatten ihre Volksmusik, und er hat keine.

Stellen Sie sich jemanden vor, der noch nie im Gebet gekniet hat. In einer Pfütze kann sich der nächtliche Sternenhimmel spiegeln, wenn die Pfütze für diesen Himmel offen ist; er ist es aber nicht. Stellen Sie sich jemanden vor, dessen Erfahrung mit der Religion, wenn er überhaupt eine solche hat, die Ehrfurcht und die ungeheure Schönheit des Heiligen vermissen lässt; eine Erfahrung, die auf eine oberflächliche Geselligkeit reduziert ist, die je nach Geschmack die richtigen Meinungen äußert, manchmal begleitet von emotionalem Schwärmen.

Stellen Sie sich jemanden vor, der keine Poesie hat. Ist nicht so gut wie jeder ohne Poesie? Heute, ja. Aber auch das ist unnatürlich. Die Poesie ist die Universalkunst des Menschen. Sie braucht nur Sprache und Gedächtnis.

Stellen Sie sich jemanden vor, der keine Geschichte hat. Oh ja, ein wenig Geschichte wird in der Schule gelehrt, aber die Geschichte, welche die Seele aufbaut, die Geschichte, welche den jungen Geist mit Beispielen von Tugend, Fleiß, Intelligenz, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit inspiriert – diese Geschichte kennt er kaum. Er steht nicht mit Washington in Valley Forge, er unterhält sich nicht mit dem betagten Jefferson in Monticello, er erkundet nicht die Gletscher Alaskas mit John Muir, er klettert nicht auf das Gerüst, um die Hände und den Geist Michelangelos zu beobachten.

Kann es noch schlimmer werden? Ja, das kann es. Denn unser Wolfsjunge hat Erfahrungen gemacht, die auch nach hundert Jahre nicht ausbleichen werden.

Wenn er nicht von Eltern großgezogen wurde, die weitaus weiser und bewusster waren als die meisten menschlichen Sünder, wurde er mit Szenen unaussprechlicher Bosheit und Verderbtheit durchtränkt, möglicherweise mit Tausenden von ihnen als regelmäßiges Merkmal seines entmutigenden Lebens, und sie wurden durch das Dopamin, das sexuelle Handlungen begleitet, in seine Vorstellungskraft und in seine Nerven und sein Blut eingebrannt.

Einen solchen Menschen zu heiraten, bedeutet nicht nur, einen Sünder zu heiraten, denn das ist jeder. Es bedeutet, jemanden zu heiraten, bei dem das Prinzip der ehelichen Vereinigung durch etwas Hässliches, Brutales oder gar Dämonisches ersetzt wurde, der, wenn er mit seiner Frau schläft, mit der anonymen Hure schläft, die ihm seine Phantasie und sein Gedächtnis vor Augen führen, ob er will oder nicht.

Ich sage "er", aber auch die Mädchen selbst sind heute große Konsumenten und Produzenten von solchem pornografischen Müll.

Was tun wir für den Wolfsjungen? Aber wer sind die "wir", die etwas tun können? Bucklige, die Nachhilfe in Körperhaltung geben; Giftfresser, die ein Festmahl auftischen; ein einäugiges Monster in einer Höhle, das vom sozialen Leben schwärmt.

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Dennoch müssen wir handeln. Ich werde in den künftigen Beiträgen ein paar Empfehlungen geben. Im Moment geht es zunächst darum, das Problem zu erkennen. Die Kirche kommt nicht in ein Dorf in Indien mit einer echten Kultur. Stattdessen ist sie eingebettet in dieselbe Un-Welt, die jede Kultur zerstört.

Es gibt keine natürliche menschliche Welt, die ihre Gnade vervollkommnen könnte. Sie muss die Natur mitbringen. Sie muss die Kultur aufbauen. 

Wie Jesus vor langer Zeit sagte, werden bestimmte Arten von Dämonen nur durch Gebet und Fasten ausgetrieben.

Der Autor, Anthony Esolen, lehrt am Magdalen College of the Liberal Arts in New Hampshire.

Übersetzung des englischen Originals mit freundlicher Genehmigung von "The Catholic Thing".

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.

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