2. September 2019
"Dein Name entstand in dem Augenblick, in dem dein Herz zum Abbild wurde: zum Bild der Wahrheit. / Dein Name entstand aus dem, was du geschaut hast", schrieb Karol Wojtyla 1978 in einem Gedicht, das er "Name" nannte, um Veronika damit anzusprechen, die wir von der VI. Station des Kreuzwegs kennen. Der Dichter war ein Seher. Kurz danach reiste er von Krakau nach Rom, wurde zum Papst gewählt und stellte sich den damals noch streng geteilten Blöcken der Welt am 22. Oktober mit den Worten vor: "Habt keine Angst! Öffnet, ja reißt die Tore weit auf für Christus! Öffnet die Grenzen der Staaten, die wirtschaftlichen und politischen Systeme, die weiten Bereiche der Kultur, der Zivilisation und des Fortschritts seiner rettenden Macht! Habt keine Angst! Christus weiß, was im Innern des Menschen ist. Er allein weiß es! ... Erlaubt Christus, zum Menschen zu sprechen! Nur er hat Worte ewigen Lebens." - Erlaubt Christus, zum Menschen zu sprechen!!
Ein Heiliger hatte auf dem Stuhl Petri Platz genommen: Johannes Paul der Große. Es war ein Quantensprung der Geschichte. Mir persönlich fuhr seine Wahl damals so in die Glieder, dass Johannes Paul II. mich im Oktober 1978 auch zum Journalisten und Chronisten machte, der all das aufschreiben wollte und musste. Bis dahin war ich Geschichtslehrer. "Dieser Mann wird die Welt verändern." schrieb ich in meinem ersten Artikel, den damals aber keine Zeitung drucken wollte. Der Papst aus Polen hat mich dennoch rechtfertigt. Bald öffnete er mir wie mit Geisterhand Zugang zu vielen Redaktionen Deutschlands, obwohl ich den Beruf des Journalisten nie gelernt hatte. Wegen ihm fuhr ich im Herbst 1979 mit meiner Frau von Berlin nach Polen, wo wir im Bild unserer Lieben Frau von Tschenstochau erstmals in unserem Leben einem lebendigen Bild begegneten. Wegen ihm wollten wir im März 1979 unseren vierten Sohn Johannes Paul nennen, haben uns nach der Geburt aber für den Namen Maria Magdalena entschieden. Doch er wurde "mein Papst". Als Korrespondent der Berliner Tageszeitung DIE WELT durfte ich deshalb am 21. April 2000 dabei sein, als der alte Dichter auf dem Papstthron in Rom in seinen Betrachtungen zum Karfreitag noch einmal auf sein altes Gedicht von 1978 zurückkam (das erst 1979, nach seiner Wahl im Druck erschienen war).
"Veronika erscheint in den Evangelien nicht," sagte er da. "Ihr Name wird nicht erwähnt, obwohl die Namen verschiedener Frauen vorkommen, die Jesus begleiten. Vielmehr war ihr Name wohl Ausdruck dessen, was sie getan hat. Der Überlieferung nach bahnte sich auf dem Weg zum Golgatha eine Frau den Weg durch die Eskorte der Soldaten und trocknete den Schweiß und das Blut auf dem Antlitz des Herrn mit einem Tuch, als "Vera Ikon", als wahre Ikone. ... Trifft das zu, dann enthält der Name Veronika ... zugleich die tiefste Wahrheit über sie."
Das heilige Genie hatte sich vor dem Jubiläumsjahr 2000 von Kanonikern das Reliquiar des Veronikaschleiers aus dem Petersdom zeigen lassen und erkannt, dass dieses "Bildnis" in seinem kostbaren Rahmen keinem Gläubigen mehr von Nahem gezeigt werden konnte. Er wusste aber auch, dass die poetische Figur der Veronika in der realen Geschichte wie keiner sonst das Bewusstsein wachgehalten hat, dass die Christenheit über den Schatz eines authentischen, wahren und nicht von Menschenhand geschaffenen Bildes Gottes verfügt, in einem Geniestreich Gottes zu unserer Erinnerung.
Doch "was ist Wahrheit?" - Jesus schweigt, als Pontius Pilatus ihn das fragt und schaut den römischen Prokurator nur an. In Jesus war die Wahrheit Mensch geworden. Hier stand sie vor ihm. - Bewegender als in diesem Verhör ist die Frage nach Wahrheit in der Geschichte der Menschheit niemals sonst beantwortet worden. Pilatus findet keine Schuld an dem Angeklagten. Er lässt ihn auspeitschen, mit einer Dornenkrone foltern, und stellt ihn denen, die seinen Tod verlangen, mit den Worten vor: "Seht da, den Menschen!
Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, zeigt sich hier in Jesus als das erste und letzte all seiner Ebenbilder, als "Abbild des unsichtbaren Gottes", wie Paulus später schreibt. Ecce homo! Seht die Wahrheit! - Danach liefert Pilatus den Menschensohn an dessen Verfolger aus: "Nehmt und kreuzigt ihn!"
Der Prozess des Pilatus aber geht bis heute weiter, zusammen mit seiner Frage: "Was ist Wahrheit?" Und wie damals schweigt Jesus auch heute noch. Doch inzwischen sind neue Zeugen in dem Prozess dazu gekommen. Das heißt, es sind uralte und "engelgleiche Zeugen", wie es in den Ostersequenzen heißt, der seit tausend Jahren in der westlichen Christenheit an Ostern gesungen werden: "Sudarium et vestes". Es sind das "Schweißtuch" und "Tücher", die in Christi Grab nach seiner Auferstehung gefunden wurden.
Zu den "Tüchern" zählt zunächst das große Grabtuch aus Leinen, das 1587 aus Frankreich nach Turin gebracht wurde, wo es lange Zeit auch "Sudario" genannt wurde. Das wahre Sudarium aber ist der so genannte Schleier der Veronika, der seit dem "Sacco di Roma" im Mai 1527 im Vatikan als verschollen gelten musste. Es ist die "Vera Eicon", wie dieses Urbild mit seinem lateinisch-griechischen Mischbegriff heißt, quasi in Vorwegnahme einer letzten Einheit zwischen der östlich-orthodoxen und der westlichen Christenheit.
Es ist das wahre Bild vom Antlitz Gottes, zu dem ich "meinem Papst" am 6. August 2004 folgenden Brief schrieb:
"Heiliger Vater, Recherchen nach der Geschichte der Muttergottes von Guadalupe haben mich zu einem Bild ihres Sohnes geführt, dem kein Bildnis auf der Erde gleicht. / Es befindet sich in der Obhut der Kapuziner von Manoppello in den Abruzzen, wo es von der Bevölkerung seit 400 Jahren als "Volto Santo" verehrt wird. Durch die Jahrhunderte haben viele Quellen davor von demselben Bild als "Veronika" gesprochen. / Die Maße von diesem "Volto Santo" sind identisch mit den Proportionen im Antlitz auf der "Santa Sindone" von Turin. Beide Tuchbilder zeigen dieselbe Person und sprengen den Rahmen menschlicher Kunstfertigkeit, ohne irgendwelche Farbspuren. Neben dem leinenen Grabtuch aus Turin scheint der Schleier von Manoppello aber aus Byssus gewebt, der kostbaren Muschelseide der Antike. / Im Gegenlicht ist das Bildnis transparent, im Schatten schiefergrau. Bei Licht hingegen ist der Schleier gold- und honigfarben, wie die heilige Gertrud von Helfta das Gesicht des Herrn schon im 13. Jahrhundert beschrieben hat. Es ist ein lebendiges Bild. Es ist der Herr. / Am 24. März durfte ich in der Sala Clementina Zeuge sein, als Sie Ihre Vision eines "Europas des Menschen" vorstellten, "über dem das Angesicht Gottes leuchtet". Und für das Kölner Weltjugendtreffen im Jahr 2005 haben Sie den Leitsatz gewählt: "Wir wollen Jesus sehen!" / Bitte, Heiliger Vater, zeigen Sie den jungen wie den alten Menschen die "Veronika" aus Manoppello! In der Veronika werden sie Jesus sehen. /Ihr pb"
Der heilige Dichterpapst ließ mir darauf freundlich mit einem Segensgruß danken, aber konnte nicht mehr selbst zum wahren Bildnis kommen. Dazu reichten seine Kräfte nicht mehr. Auch zum Weltjugendtreffen in Köln 2005 konnte er nicht mehr kommen und musste diese Begegnung seinem Nachfolger überlassen.
Am 23. September 2004 durfte ich aber einen ersten langen Korrespondentenbericht für DIE WELT in Berlin über die Rückkehr der Veronika schreiben, den sowohl er wie sein Kardinal Joseph Ratzinger aufmerksam lasen. Als Johannes Paul II. am 2. April 2005 in das Haus des Vaters zurückkehrte, war die Nachricht vom wahren Bild Gottes unter den Menschen deshalb schon wieder zurück in der Welt. Das aber war nur möglich geworden aufgrund eines Artikels, den Renzo Allegri, der große Biograf Pater Pios, schon am 30. September 1978 auf drei Seiten in der Zeitschrift GENTE veröffentlicht hatte, also auch in ebeb jenen Wochen, als Karol Wojtyla in Krakau seinen Hymnus an Veronika schrieb, der sich heute wie ein Notenschlüssel seines ganzen Pontifikats lesen lässt.
Im entscheidenden ersten großen Bericht Renzo Allegris über die Wahre Ikone aber, der damals fast gleichzeitig in Italien erschien, hieß es am Anfang: "Beim Bild vom Antlitz Jesu, das seit fast 500 Jahren in Manoppello in den Abruzzen verehrt wird, handelt e sich um ein geheimnisvolles, auf einem außerordentlich dünnen Schleiertuch eingeprägtes Bild, das die Überlieferung als ‚Schweißtuch Christi‘ bezeichnet. Damit wäre es jenes Tüchlein, welches die Mutter Jesu über das Antlitz des Sohnes ausgebreitet habe, ehe dieser für die Grablegung in das Grabtuch eingewickelt wurde. Es ist aber nicht das Gesicht des gestorbenen Christus mit geschlossenen Augen wie beim Grabtuch, sondern das Antlitz einer lebenden Person mit geöffneten Augen und verheilten Narben: Es scheint das Bild des eben gerade auferstandenen Christus zu sein . ... Menschlich gesehen, ist es unerklärbar."
Dieser Bericht ist inzwischen über 40 Jahr alt, und fast scheint es, als habe Pater Pio die Hand des Journalisten geführt, der ihm damals schon drei Bücher gewidmet hatte. Auch dieser Artikel markierte einen Quantensprung im Prozess der Rückkehr der Veronika - und konnte von vielen Lesern doch nicht geglaubt werden. Zu unglaublich war für die moderne Welt die Nachricht geworden, dass die Christenheit ein wahres Bild vom Antlitz Gottes besitze – die zudem nicht in theologischen Seminaren verbreitet wurde, sondern in einer populären Zeitschrift, die in Frisiersalons zum Durchblättern auslag.
Anlass dieser Nachricht über die "Piccola Sindone in Abruzzo", wie Allegri seinen Bericht über das Heilige Gesicht von Manoppello nannte, war damals die erste Ausstellung der "Santa Sine" nach dem Jahr 1933 in Turin, als ein Ereignis, das die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich zog. Doch während Allegri seinen Bericht noch schrieb, starb ausgerechnet in Turin der Pilger, der das Gerücht über dieses zweite Grabtuch in die Welt gesetzt hatte. Das war der Kapuzinerpater Domenico da Cese, der erstmals die "Santa Sindone" mit eigenen Augen sehen wollte, nachdem er in den Jahren davor in dem Schleier von Manoppello das heilige Sudarium wiederentdeckt hatte, von dem der Evangelist Johannes in seinem Evangelium von der Auferstehung Christi gesprochen hatte. Das war der Schleier, der lange als "Schweißtuch der Veronika" gegolten hatte.
Kaum aber hatte Domenico da Cese das Antlitz auf der Santa Sindone gesehen, wurde er noch am gleichen Abend von einem Auto angefahren und starb an den Folgen dieses Unfalls vier Tage später, am 17. September 1978, während Karol Woityla im fernen Krakau sein Gedicht zu Papier brachte, wo er die Veronika des Kreuzwegs auf geheimnisvolle Weise mit diesen Worten ansprach:
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"In der Menge - auf dem Weg zum Ort der letzten Folter / Hast du dich plötzlich nach vorn gedrängt, oder war es schon von Anbeginn? / Doch seit wann? - Sag du es mir, Veronika. / Dein Name entstand, als dein Herz / zum Bildnis wurde: zum Bild der Wahrheit. / Dein Name entstand aus dem, was du geschaut hast. / So intensiv war dein Wunsch zu sehen, Schwester / so intensiv dein Wunsch zu fühlen, / dass dein Blick sein Ziel erreichte, ... / Sag also: Ich will nah sein, so nah / Dass keine Leere sich zwischen uns schieben und mich von dir lösen kann. / Dass deine Abwesenheit nie wiederkehrt."
- Bei Karol Wojtyla war das Herz Veronikas zur Leinwand Gottes geworden.
Und nun ist dieses "verlorene Gesicht" wieder mitten unter uns, von dem Jorge Luis Borges noch im Jahr 1960 in Buenos Aires schrieb: "Wüssten wir in Wahrheit, wie es aussah, so besäßen wir den Schlüssel zu den Gleichnissen und wüssten, ob der Sohn des Zimmermanns auch der Sohn Gottes war." Der Dichter war blind. Doch auch er war ein Seher, wie Johannes Paul II. – und er hatte Recht. Den Schleier der Veronika hat er – wie Karol Wojtyla - niemals gesehen. Doch es ist, wie Borges sagte. Es ist ein Wundertuch, einzig und einzigartig, wie die Wahrheit selbst. Es gibt kein zweites "Bild", das ihm gleichkommt. Kein Mensch weiß, wie es entstanden ist. In diesem Schleier aber besitzen wir tatsächlich einen Schlüssel zum Verständnis der Gleichnisse Jesu und können bezeugen, dass der Menschensohn wirklich der Sohn Gottes war. In diesem Schleier können wir wie nirgendwo sonst erkennen, dass der Schöpfer des Himmels und der Erde Mensch und Person geworden ist, und kein Buch. Hier zeigt uns Jesus Christus, dass die Menschwerdung Gottes kein Intermezzo war. Er hat unser Wesen nicht abgestreift wie eine Maske. Er ist immer noch Mensch, in Ewigkeit und in Herrlichkeit. "Der Ruhm Gottes ist der lebendige Mensch." schrieb Irenäus von Lyon um das Jahr 180 in seinem Werk Gegen die Irrlehren und weiter: "Das Leben der Menschen ist die Anschauung Gottes".
Und hier schauen wir nun Gott selbst in einer persönlichen Begegnung in einem lebendigen Menschen, und können ihn als unser Gegenüber erkennen. Wir können es, aber müssen es nicht. Denn das wahre Bild schweigt, wie Jesus vor Pilatus geschwiegen hat. Es zwingt uns zu nichts. Dennoch darf hier jeder wieder wie der Pilger aus Dantes Göttlicher Komödie, der denselben Schleier noch in Rom vor sich sah, neu flüstern: "Jesus Christus, mein Herr und mein Gott, wahrer Gott, so also hat Dein Gesicht ausgesehen?!’"
Denn die Wahre Ikone, die Veronika, ist tatsächlich zurückgekehrt und lässt sich Tag für Tag von morgens bis abends betrachten. Nah wie nie zuvor, nicht mehr wie früher in Rom von ferne von der Loggia des alten Petersdoms, sondern in einer abgelegenen kleinen Pilgerkirche in den Abruzzen. Hier sehen wir Christi Antlitz so nah vor uns wie Veronika selbst, die sich auf dem Kreuzweg Jesu durch die Menge drängt, um ihm ihr Herz hinzuhalten, dass er sein Gesicht da hineindrückt, nicht mehr voller Blut und Wunden, sondern geheilt, im Aufleuchten seiner Auferstehung. Entwaffnet und entwaffnend. Veronika verwandelt uns.
Jetzt verbindet mich ihr Bild darum auch wie mit einem Gewebe aus Byssusfäden mit meiner Geschichte und meinem Leben, und mit Domenico da Cese und Renzo Allegri und Pater Pio - und mit "meinem Papst", und seiner alten Sehnsucht und seinem Verlangen, in dem er Veronika noch einmal die Worte flüstern lässt: "Ich will Dir nah sein, so nah. Dass keine Leere sich zwischen uns schieben und mich von dir lösen kann! Dass deine Abwesenheit nie wiederkehrt!" - Inmitten der Pilger dürfen wir erkennen: Die wahre Ikone verwandelt uns alle in Zeugen – und viele in Seher.
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