Vor ungefähr 500 Jahren, irgendwann um oder kurz nach dem Jahr 1520 soll im Franziskanerkonvent zu Montefalcone in den Marken ein denkwürdiges Gespräch stattgefunden haben.

Ein Mitbruder des jungen Ordenspriesters Matteo da Bascio kam dabei plötzlich auf die Ordenskleidung zu sprechen. "Du kannst Deinen Habit mit gutem Gewissen tragen, denn wir haben vom Heiligen Vater selbst die Erlaubnis dazu bekommen!" 

Pater Matteo antwortete: "Wieso brauchen wir die Erlaubnis des Papstes, wenn wir uns doch so kleiden, wie Franziskus es vorgeschrieben hat?" "Du machst Witze, Bruder Matteo!", kam es zurück, "weißt Du nicht, wie er sich kleidete? Hast Du nicht die Bilder in Assisi, in Rom und anderswo gesehen?" Daraufhin nahm der Mitbruder ein Stück Papier und zeichnete einen groben Habit mit langer und spitzer Kapuze. Das sei die Kleidung des Heiligen Franziskus gewesen. 

Dieses Gespräch brachte den jungen Franziskanerpater in Gewissensnöte: War er nicht in den Ordenszweig der Franziskaner-Observanten eingetreten, um die Regel des Franziskus genau zu beachten – was im Lateinischen ja nichts anderes als "observare" bedeutet. Gehörte dazu nicht auch die Kleidung? Was, wenn sich diese Laxheit nicht nur auf den Habit erstreckte?

Wir wissen nicht, ob die Unterhaltung, von der uns der Ordenschronist Zacharias Boverius berichtet, jemals so stattgefunden hat. Aber einen wahren Kern enthält seine Mitteilung schon; denn sie visualisiert sozusagen die inneren Kämpfe des Pater Matteo, der tatsächlich in den Jahren nach seiner Priesterweihe Zweifel an der Regeltreue vieler Ordensbrüder bekam. Schließlich wurden die Zweifel so groß, dass er in einer kalten Januarnacht des Jahres 1525, und somit vor genau 495 Jahren, seinen Konvent in Richtung Rom verließ. Dort wollte er den Papst bitten, besagte Regel dem Wortlaut nach befolgen und jenen Habit tragen zu dürfen, von dem der Mitbruder gesprochen hatte. Er wusste, dass ihm sein eigener Orden das niemals erlauben würde.

Dieser Matteo wurde um 1495 als Sohn der Bauernfamilie Clavini im Weiler Montefeltro, etwa 40 km südwestlich von San Marino, geboren. Da in der Nähe das weithin bekannte Schloss von Bascio lag, erhielt er 1515 bei seinem Eintritt in den Franziskanerorden den Beinamen "da Bascio". Über seine Jugend, die ärmlich gewesen sein muss, ist wenig bekannt. Um 1520 wurde er zum Priester geweiht und kam nach Montefalcone.

Der junge Pater machte sich einen Ruf als tatkräftiger Pestseelsorger, als im nahegelegenen Herzogtum Camerino 1523/1524 der schwarze Tod wütete. Die Herzogin, Caterina Cybo, hatte ihn deswegen mit Gunstbezeugungen überhäuft.

Mit Fug und Recht durfte er sie als Gönnerin betrachten – in den damaligen Zeiten eine wichtige Währung, zumal besagte Caterina die Nichte des Papstes war! Und genau hier setzte Matteo an. Obwohl die Legende berichtet, dass ihm in Rom ein Unbekannter Ort und Uhrzeit nannte, wo er den Papst sozusagen unfehlbar treffen konnte, dürfen wir vermuten, dass es Caterina war, die ihm den Weg in den Vatikan ebnete, wo er vom Pontifex die erhoffte Erlaubnis erlangte – allerdings unter der päpstlichen Auflage, sich beim jährlichen Provinzialkapitel einzufinden und über sein Tun Rechenschaft abzulegen. Das tat er auch im April desselben Jahres. Da jedoch der beglückte Matteo aus Rom abgereist war, ohne die Übergabe der schriftlichen Bestätigung abzuwarten, stand er ohne jeglichen Beweis vor seinem Provinzial, Giovanni da Fano. Die Folge: Der Wanderprediger landete im Ordens-Gefängnis von Furano, zwischen Orvieto und Rom!

Warum war der Provinzial so erzürnt? Weil er den Laden zusammenhalten wollte: Denn zur DNA der Observanten gehörte, dass sie – und nur sie – Regel und Testament ihres Gründers genauestens beachteten. Erst 1517 hatte Papst Leo X. ihre Lebensform als offiziellen Zweig des Franziskanerordens anerkannt. Der Papst zog damit einen Schlussstrich unter jene Auseinandersetzung, die den Franziskanerorden seit den Tagen des Ordensgründers nicht zur Ruhe kommen ließ: Den Armutsstreit und seine Folgen! 

Armutsstreit? Blenden wir zurück in das Jahr 1226. Auf dem Sterbebett hatte Franziskus von Assisi ein Testament verfasst, dass es in sich hatte. Der Poverello machte sich Sorgen, dass die vom Papst bestätigte Ordensregel bald nicht mehr entsprechend seiner Intentionen befolgt würde. Zu viele der zuletzt hinzugekommenen Fratres kamen aus anderen Gemeinschaften und hatten eine moderate Auffassung über den evangelischen Rat der Armut mitgebracht. In seinem Testament nannte er daher noch einmal die wesentlichen Punkte der Regel: Leben in äußerster Armut, Ablehnung von Eigentum, Ablehnung von päpstlichen Privilegien, Lebensunterhalt nur durch Handarbeit und Almosen, tägliches Gebet, Gehorsam gegenüber Oberen und Rom – um dann den Ordensoberen und allen Brüdern ein für alle Mal einzuschärfen, dass sein Testament zusammen mit der Regel zu beachten, bei jedem Kapitel vorzulesen und darüber hinaus keine Interpretation und damit Abmilderung der Regel zuzulassen sei. Genau diese Anweisung war es, die Matteo da Bascio aufwühlte und mit ihm Generationen von Franziskanern vor ihm.

Denn es geschah genau das, was Franziskus in seinem Testament ablehnte: Die Regel wurde ausgelegt! Um realistisch zu sein – man musste sie im Hinblick auf das Armutsgebot ausgelegen, um den Ausbau des Ordens zu einer funktionierenden Gemeinschaft überhaupt erst möglich zu machen. Die Moderaten wandten sich genau deswegen an Papst Gregor IX., der daraufhin 1230 die Bulle "Quos eleganti" erließ, worin er unter anderem festlegte, dass wenigstens Mittelspersonen Geld für den Orden annehmen und verwalten durften und die Franziskaner-Brüder, wenn schon kein Besitzrecht, so doch das Gebrauchsrecht daran hätten. Außerdem legte er fest, dass nur die Regel, aber nicht das Testament des Heiligen Franziskus verpflichtend sei. Unruhe machte sich breit.

Mit den Jahren verfestigte sich der einmal eingeschlagene Kurs: Große und für die damalige Zeit komfortable Konvente entstanden, Franziskanerpriester wurden in der Pfarrseelsorge eingesetzt, anstatt in Armut zu leben, die Pflicht zur Handarbeit wurde abgeschafft, franziskanische Studienzentren entstanden. Diese bald dominierende Strömung innerhalb der Franziskaner erhielt dann auch den treffenden Namen "Konventualen". Wir kennen sie heute als Minoriten.

Als dann Papst Innozenz IV. 1245 in der Bulle "Ordinem vestrum" die Verwaltung von gestifteten Gütern den Ordensbrüdern direkt übertrug und alle Kirchen und Klöster den Ordens mit päpstlichen Privilegien versah, kam es zum offenen Aufruhr – insbesondere unter den noch lebenden Weggefährten des Franziskus, denn mit einem Leben in Einfachheit und Armut hatte diese Entwicklung nichts mehr zu tun: Die Ordensleitung habe das Testament missachtet und damit den heiligen Franziskus verraten, klagten sie. Der "Armutsstreit" war geboren.

Über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte, hatte der neue Orden mit genau dieser Kontroverse zu kämpfen. Immer wieder spalteten sich zum Teil radikale Bewegungen ab, etwa die Spiritualen, die der Lehre Joachim von Fiores anhingen und glaubten, dass das Zeitalter des Heiligen Geistes angebrochen sei und damit ein Zeitalter, in dem alle Hierarchien aufgehoben und Sakramente unnötig seien. Die reine Häresie, verkündet von entsprungenen Franziskanern, die in Franziskus allein schon wegen seiner Wundmale den Novus Christus sahen! Das alles führte, trotz der Vermittlung kluger Ordensgeneräle wie dem Hl. Bonaventura, zu ständigen Unruhen, denen auch die Verfolgung der Abweichler unter Papst Johannes XXII keinen Abbruch tat. Die Spiritualen wurden exkommuniziert, ihre Anführer landeten auf dem Scheiterhaufen; die Frage aber schwelte weiter. Legitime Reformbewegungen, die innerhalb des Ordens tätig wurden und die Regel und Testament buchstabengetreu beachten wollten, setzten sich mehr und mehr vom führenden Ordenszweig der Konventualen ab.  1517 kam es dann zum Bruch, als Papst Leo X. alle Reformbewegungen unter der Überschrift "Observanten" zusammenfasste, von den Konventualen trennte und als eigenständigen Ordenszweig anerkannte. 

Man ahnt sofort, was Giovanni da Fano beunruhigte, als er von Matteos Alleingang hörte: Für ihn konnten dessen Vorstellungen, wenn überhaupt, nur unter dem Dach der Observanten und unter Anleitung der Oberen umgesetzt werden. Eine neuerliche Abspaltung würde die alten Gräben wieder aufreißen. Jedoch… zu spät! Genau das war in den Jahren zuvor schon geschehen.

Denn die Observanten waren ja gerade deswegen von Leo X. anerkannt worden, weil sie populär waren. Und zwar so populär, dass sie sich vor dem Zustrom neuer Mitglieder nicht mehr retten konnten. Die Folge: Aus Eremitagen wurden Konvente, aus Konventen große Klöster, in denen die Masse bequem lebte – auf Kosten der Regeltreue! Hier wiederholte sich die Geschichte nicht als Farce, sondern im Zeitraffer. Bald schon klagten die Regeltreuen, dass man sich von den Konventualen nicht mehr unterscheide.

Bruder Matteo hatte also in ein Wespennest gestochen, was noch keinem gut bekommen ist. Caterina Cybo eilte wieder zur Hilfe, indem sie gegenüber Giovanni da Fano drohte, den päpstlichen Onkel einzuschalten, der ja Matteo eine mündliche Erlaubnis gegeben hatte. Unverzüglich wurde Matteo freigelassen und im Orden zum Ereignis des Jahres. So also konnte man seiner Unzufriedenheit Luft machen!

Ende des Jahres verließen die ebenfalls unzufriedenen Brüder Ludovico und Raffaele Tenaglia, die nach ihrem Geburtsort den Beinamen "da Fossombrone" trugen, ohne Erlaubnis ihren Konvent und schlüpften bei Konventualen in Cingoli in den Marken unter. Sie standen bald in Kontakt mit Matteo: Die drei gründeten bei Cingoli eine Einsiedelei unter dem Patronat des Erzengels Michael auf dem Monte Acuto.

Dorthin setzte ihnen Giuseppe da Fano nach, nachdem er im März 1526 bei Papst Clemens doch noch deren Exkommunikation erwirkt hatte. Während die Tenaglia-Brüder zu den Kamaldulensern des Paulo Giustiniani nach Cupramontana flüchteten und dort versteckt wurden, wanderte Matteo als Volks- und Bußpredigerprediger in den Marken umher. Mit folgendem Ruf soll er sich an die Gläubigen gerichtet haben:

In die Hölle, all ihr Sünder,
Bösewichter, in die Hölle!
"Gutes tun?" Darüber lacht ihr
Ganz verstockt in eurem Irrtum.

Trotz dieser Höllenphantasien: Die Leute kannten und liebten ihn! So veranstaltete er einmal ein Festmahl im Städtchen Fabriano, nachdem ihm ein reicher Gönner einen Ochsen geschenkt hatte, den er nun an die Armen weiterreichte. Das genügte ihm! Das war seine Berufung!

An eine Ordensgründung dachte er hingegen nicht! Es gilt, was der englische Kapuzinerpater Cuthbert in seinem Werk "The Capuchins" vor rund 90 Jahren schrieb: "Als er aus Montefalcone floh, hatte er nicht die Reform seines Ordens im Sinn; er wollte einfach Buchstaben und Geist der Franziskus-Regel die Ehre geben, die er zu befolgen geschworen hatte. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er es gerne in seiner Gemeinschaft getan; da er das nicht konnte, trennte er sich von seinem Orden, um sich ganz der Jurisdiktion des Papstes zu unterstellen." Ein Ein-Mann-Unternehmen. Doch durch die aufsehenerregende Inhaftierung und vor allem durch das Auftreten der Tenaglia-Brüder hatte ebendiese Unternehmung eine starke Eigendynamik bekommen.

Denn Ludovico – der die Priesterweihe empfangen hatte, während sein Bruder einfacher Frater blieb - hatte das, was Matteo da Bascio fehlte: Organisationstalent und eine geradezu machiavellistische Zielstrebigkeit, mit der er die vollständige Loslösung der wandernden Brüder von den Observanten betrieb. Eine Rückkehr zu den feindseligen Observanten schien ihm unmöglich. Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass er der führende Kopf der nun folgenden Geschehnisse gewesen ist.  Zumal Matteo ihn mit der Papstnichte Catarina bekannt gemacht hatte.

Sicher war der Mann aus Fossombrone die treibende Kraft, als er, sein Bruder Raffaele und Matteo am 18. Mai 1526 vom Kardinal-Großpötentionär Luigi Pucci einen Indult erhielten, in dem er ihnen erlaubte, nicht mehr in ihre Konvente zurückzukehren und als Eremiten zu leben. Hierzu wurden sie dem Bischof von Camerino unterstellt.

Es verwundert dann auch nicht, dass Matteo an der Erlangung des Gründungdokumentes der Kapuziner nicht mehr beteiligt war. Jedenfalls wird er in der Bulle "Religionis Zelus", die Papst Clemens VII. am 03. Juli 1528 erließ, namentlich nicht erwähnt. Die ersten Kapuziner – es waren nunmehr vier, da der laisierte Observant Paolo da Chioggia sich ihnen angeschlossen hatte – wurden von allen kirchlichen Strafen befreit, der Habit mit der spitzen Kapuze und das Tragen eines Bartes erlaubt. Die "Minderen Brüder vom eremitischen Leben" – so wurden sie in der Bulle genannt – durften Kandidaten aufnehmen und wurden dem Schutz des Generalministers der Konventualen unterstellt, womit sie der Jurisdiktion der Observanten entzogen waren. Sie durften frei umherziehen und einen Generalvikar wählen. Ludovico da Fossombrone hatte – wieder auf Fürsprache der Papstnichte Catarina – sein Ziel erreicht. Auch an Kandidaten mangelte es nicht.

Das erste Generalkapitel fand schließlich 1529 in einer abgelegenen und nur mühsam erreichbaren Eremitage bei Albacina (Marken) statt. Man fürchtete wohl immer noch die Nachstellung der Observanten. Zwölf Brüder trafen sich, um die Statuten der ersten Kapuziner festzulegen und den Generalvikar zu bestimmen. Als die Wahl anstand, rief einer der Anwesenden den Namen Matteos. Dieser Zuruf wurde per Akklamation bestätigt. Alles Bitten und Jammern des Betroffenen half nichts. Matteo da Bascio war erster Generalvikar der Kapuziner – ein General wider Willen. In der Leitung eines Ordens vollkommen unerfahren und – wie gesagt – ohne jegliche Ambitionen, war ihm das Amt eine unzumutbare Last. Und so kam es, wie es kommen musste: Nach nur 10 Tagen legte er das Amt zurück in die Hände seines Stellvertreters Ludovico das Fossombrone und nahm seine Tätigkeit als Wanderprediger wieder auf. Matteo kannte seine Berufung – und er kannte seine Schwächen. Blickt man auf die Aufgaben, die in den kommenden Jahren auf den Generalvikar zukamen, kann man diese weise Entscheidung nur bewundern..

Ludovico da Fossombrone hatte nun beim Aufbau der neuen Gemeinschaft freie Hand und diese Freiheit nutzte er, um das Ordensleben ganz nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Und die bestanden darin, dem Vorbild des Franziskus – oder dem, was er dafür hielt – in radikaler Weise zu folgen. Das setzte er mit diktatorischen Maßnahmen durch.

Gleichzeitig riss die "Nachlässigkeit" bei den Observanten immer weiter ein, sodass Anfang 1534 die einstigen Gegner der ersten Kapuziner enttäuscht über diese Entwicklung in den neuen Orden übertraten. Besonders pikant war, dass sich darunter auch Giovanni da Fano befand. Ludovico war nun Oberer seines einstigen Verfolgers. Man sich gut vorstellen, dass diese Konstellation keinem der Beteiligten gefiel. Und noch einmal wiederholte sich die Geschichte von 1226, denn die Neuankömmlinge konnten mit der Radikalität des Ludovico Tenaglia nichts anfangen. Der weigerte sich, das fällige Generalkapitel einzuberufen; wohl weil er wusste, dass man ihn abwählen wollte. Zudem war Clemens VII. verstorben und Paul III. saß auf dem Stuhle Petri. Caterina Cybo, die Gönnerin der ersten Kapuziner, hatte allen Einfluss verloren. Und so kam es, dass Paul III. zugunsten der Neulinge eingriff. Er berief das fällige Kapitel in Rom ein, wo Ludovico sein Amt verlor und durch Bernardino d‘ Asti, einem der Überläufer von 1534, ersetzt wurde. Erzürnt verweigerte er dem neuen Oberen sein Gehorsam, sodass er nach langem Streit 1536 die Kapuziner verlassen musste.

Die neue Ordensleitung verlangte nun, dass alle wanderden Brüder in Konventen lebten. Auch Matteo! Der hatte diese Entwicklung kommen sehen und vorsorglich Kontakt mit den Observanten aufgenommen, die ihm nun endlich jene Erlaubnis gaben, die er vor elf Jahren nicht bekommen hatte. Ohne Groll verließ er die Kapuziner und kehrte zu den Observanten zurück. Auch damit wird noch einmal deutlich, dass er niemals vorhatte, einen Orden wie die Kapuziner zu gründen.

Matteo wanderte nun in das reiche Venedig, wo er ein weites Betätigungsfeld für seine Bußpredigten fand. Man kann sich leicht vorstellen, dass die mehr als korrupte Führungsschicht der Serenissima den unbequemen Zeitgenossen loswerden wollte. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass der Eremit aus Bascio einen fluchenden Offizier ohrfeigte oder einem nachlässigen Priester bis in die Sakristei folgte, um ihm die Leviten zu lesen. Beim einfachen Volk war er umso beliebter!

Als Wanderprediger tauchte er aber auch an anderen Orten auf und kam sogar bis nach Deutschland. So begleitete er die kaiserlichen Truppen als Feldprediger in den Schmalkaldischen Krieg; seine Anwesenheit bei der Schlacht bei Mühlberg, 1547, wo der Sieg über die Protestanten errungen wurde, ist bezeugt. Die Höllenpredigten, die er Freund und Feind bei diesem Anlass hielt, kann man sich nur zu gut vorstellen.

Als er in die Lagune zurückkehrte, war der Bettelmönch, der auf nacktem Boden schlief und nur das nötigste zum Leben annahm, bekannt wie ein bunter Hund. Als der Pfarrer von San Moisè ihm ein Zimmer in Pfarrhaus anbot, lehnte er ab und bat darum im Taubenschlag auf dem Dachboden wohnen zu dürfen. Dort – so will es eine Legende, die zu schön ist, um wahr zu sein – verschied er am 02. August 1552 mitten unter jenen Vögeln, die den Heiligen Geist symbolisieren. Sein Begräbnis soll so viele Menschen angezogen haben, wie der Leichenzug eines Dogen. In der Kirche von S. Francesco di Vinea im Norden der Lagunenstadt befindet sich sein Grab.

So starb der Gründer des Kapuzinerordens! Der Gründer? Alle einschlägigen Werke bezeichnen Matteo da Bascio als solchen und ganz sicher gab er mit seinem Gang zu Papst Clemens VII. den Anstoß zur Kapuzinerreform. Aber war es nicht Ludovico di Fossombrone, der den Orden formte oder vielleicht sogar die 1534 übergetretenen Observanten, die im Laufe der Jahre den Kapuzinern ihr unverwechselbares Gesicht gaben? Die unter ihnen verabschiedeten Konstitutionen galten immerhin bis 1967.

Als die ersten Chronisten der Kapuziner die Ordensgeschichte aufzeichneten, betrachteten sie die Ereignisse mit dem Wissen, dass Ludovico da Fossombrone den Orden im Zorn verließ und sich zuvor wie ein Diktator aufgeführt hatte. Sie wussten auch, dass seine Nachfolger die ersten Kapuziner noch verfolgt hatten und dass einer dieser Nachfolger, Bernardino Ochino, als Generalvikar zu den Protestanten übergelaufen war. Sie als Gründungspersönlichkeiten herauszustellen, schien den Chronisten wenig attraktiv.

Matteo da Bascio hingegen hatte den Orden zwar verlassen, pflegte aber weiterhin gute Kontakte zu den Kapuzinern; ja, den Chronisten gab er sogar noch bereitwillig Auskunft über die Ereignisse der ersten Jahre. Und außerdem: War er nicht der erste Generalvikar gewesen! So optierten sie eben für ihn, der niemals einen Orden gründen, sondern lediglich seiner Berufung folgen wollte. Damit wurde der Generalvikar wider Willen, auch – und das ist viel bedeutender –zum Ordensgründer wider Willen.

Und darin liegt eine tiefe Wahrheit: Denn auch wenn die Kapuziner schon 1536 wieder in Konventen lebten und sich als Pfarrseelsorger und Gelehrte hervortaten, haben sie den Geist Matteos bewahrt. Der Kapuzinerorden wurde zu dem Orden der Bußprediger, der Armenseelsorger und der Almosensammler. Ja, Matteo da Bascio wurde durch sein besonderes Charisma zum Vorbild für viele heiligmäßige Kapuziner. Schon bald wurde ein Seligsprechungsverfahren eröffnet, dass allerdings bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Gründe sind unbekannt; vielleicht behindert der erste Ungehorsam, den er in Montefalcone beging, den Abschluss des Verfahrens. Aber hat nicht der Papst schützend die Hand über ihn gehalten? Und hat nicht der eine oder andere Ungehorsam in der Kirchengeschichte auch Segen gebracht? Das segensreiche Wirken der Kapuziner spricht jedenfalls ein positives Urteil über Matteo.

Wenn sich auch die Geschichte nicht immer als Farce wiederholt, so trifft hier doch eine andere Weisheit zu: Gott schreibt auf krummen Linien gerade! Die göttliche Vorsehung hat Matteo auf jene verschlungenen Pfade gelenkt, die schließlich den Ausschlag zur Kapuzinerreform gaben. Und noch etwas: Der eigentliche Ordensgründer, das würde jeder Kapuziner bestätigen, ist ohnehin Franziskus. Ihm wollten und wollen die Kapuziner nacheifern, als die seinerzeit noch fehlende Facette im Dreiklang der franziskanischen Ordensfamilie, wo sie neben den Observanten, die sich seit Leo XIII. einfach wieder Franziskaner nennen, und den Minoriten mit ihrem jeweils besonderen Charisma die Welt und mit ihren vielen Heiligen auch den Himmel bereichern.

LINK-TIPP: Die Serie "Die Kapuziner" im Überblick finden Sie hier.

Oder lesen Sie direkt Teil Eins – Laurentius von Brindisi, Teil Zwei – Francesco Maria da Camporosso und Teil Drei – Bernardino Ochino.  

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