In der Kirche des Herrn geht es in diesen Zeiten turbulent zu. Die Statements von Kardinal Koch zum deutschen Synodalen Weg und die Erwiderungen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz auf dessen Äußerungen zu den Deutschen Christen sowie die Wahrnehmung des Streits in den Medien sorgten für Wirbel. Wir wissen, dass historische Vergleiche oder Analogien in allen Bereichen des öffentlichen Lebens problematisch, irreführend und auch falsch sein können. Die öffentliche Kontroverse überlagert nun, dass Kardinal Kurt Koch an die beiden Quellen der Offenbarung erinnert – Schrift und Tradition – und die Erweiterungen, die in den Papieren des Synodalen Weges vorgebracht werden, energisch abgewiesen hat.

Die Zeichen der Zeit besitzen keinen Offenbarungscharakter, sondern müssen im Licht des Evangeliums gedeutet werden. Wer diese Aussage aus der Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ ins Gegenteil verkehrt, steht außerhalb der Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte – und setzt sich zugleich eindeutig vom Zweiten Vatikanischen Konzil ab. Darum erscheint es in Anbetracht gegenwärtiger Diskurse um den Offenbarungsbegriff angezeigt und notwendig, an die Dogmatische Konstitution „Dei Verbum“ zu erinnern.

In Abschnitt 4 lesen wir: „Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, als ‚Mensch zu den Menschen‘ gesandt, ‚redet die Worte Gottes‘ (Joh 3,34) und vollendet das Heilswerk, dessen Durchführung der Vater ihm aufgetragen hat (vgl. Joh 5,36; 17,4). Wer ihn sieht, sieht auch den Vater (vgl. Joh 14,9). Er ist es, der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt, daß Gott mit uns ist, um uns aus der Finsternis von Sünde und Tod zu befreien und zu ewigem Leben zu erwecken. Daher ist die christliche Heilsordnung, nämlich der neue und endgültige Bund, unüberholbar, und es ist keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten vor der Erscheinung unseres Herrn Jesus Christus in Herrlichkeit (vgl. 1 Tim 6,14 und Tit 2,13).“

Entscheidend ist, was im letzten Satz ausgesagt wird – es ist „keine neue öffentliche Offenbarung mehr zu erwarten“ vor der Wiederkehr Christi. Wer irgendwelchen beliebigen Signaturen der Zeit einen Offenbarungscharakter zuweist, hat das Wesentliche über die Offenbarung und ebenso das Zweite Vatikanische Konzil nicht verstanden. Dem sich offenbarenden Gott schuldet der Mensch den „Gehorsam des Glaubens“. Er stimmt nicht irgendwelchen säkularen Privatmeinungen, ob sie wissenschaftlich bemäntelt sind oder nicht, oder auch einem zeitgeistlichen Mainstream zu, sondern unterwirft sich in seinem ganzen Sein dem sich offenbarenden Gott.

In Abschnitt 7 heißt es über die „Weitergabe der göttlichen Offenbarung“: „Was Gott zum Heil aller Völker geoffenbart hatte, das sollte – so hat er in Güte verfügt – für alle Zeiten unversehrt erhalten bleiben und allen Geschlechtern weitergegeben werden. Darum hat Christus der Herr, in dem die ganze Offenbarung des höchsten Gottes sich vollendet (vgl. 2 Kor 1,20; 3,16-4,6), den Aposteln geboten, das Evangelium, das er als die Erfüllung der früher ergangenen prophetischen Verheißung selbst gebracht und persönlich öffentlich verkündet hat, allen zu predigen als die Quelle jeglicher Heilswahrheit und Sittenlehre und ihnen so göttliche Gaben mitzuteilen.“

Damit ist ausgeschlossen, dass irgendeine Kirchenprovinz neue Heilswahrheiten und andere Sittenlehren aufbringen und diese dann als römisch-katholisch ausgeben darf. Nicht ausgeschlossen freilich ist die absichtsvolle und faktisch vollzogene Abkehr vom Evangelium Jesu Christi und der darauf fußenden Lehre der Kirche des Herrn: „Damit das Evangelium in der Kirche für immer unversehrt und lebendig bewahrt werde, haben die Apostel Bischöfe als ihre Nachfolger zurückgelassen und ihnen ‚ihr eigenes Lehramt überliefert‘. Diese Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift beider Testamente sind gleichsam ein Spiegel, in dem die Kirche Gott, von dem sie alles empfängt, auf ihrer irdischen Pilgerschaft anschaut, bis sie hingeführt wird, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen, so wie er ist (vgl. 1 Joh 3,2).“ Das „Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen“ wächst – und zwar „durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung derer, die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben“.

Die Konzilsväter bekennen sich zu Schrift und Tradition: „Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift sind eng miteinander verbunden und haben aneinander Anteil. Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu. … Die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift bilden den einen der Kirche überlassenen heiligen Schatz des Wortes Gottes. Voller Anhänglichkeit an ihn verharrt das ganze heilige Volk, mit seinen Hirten vereint, ständig in der Lehre und Gemeinschaft der Apostel, bei Brotbrechen und Gebet (vgl. Apg 8,42 griech.), so daß im Festhalten am überlieferten Glauben, in seiner Verwirklichung und seinem Bekenntnis ein einzigartiger Einklang herrscht zwischen Vorstehern und Gläubigen.“

Die verbindliche Erklärung des Wortes Gottes ist „nur dem lebendigen Lehramt der Kirche anvertraut“. Die Vollmacht hierzu besitzt es nicht aus eigener Einsicht oder Selbstermächtigung, sondern durch die Ausübung der „Vollmacht im Namen Jesu Christi“: „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist, weil es das Wort Gottes aus göttlichem Auftrag und mit dem Beistand des Heiligen Geistes voll Ehrfurcht hört, heilig bewahrt und treu auslegt und weil es alles, was es als von Gott geoffenbart zu glauben vorlegt, aus diesem einen Schatz des Glaubens schöpft. Es zeigt sich also, daß die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt der Kirche gemäß dem weisen Ratschluß Gottes so miteinander verknüpft und einander zugesellt sind, daß keines ohne die anderen besteht und daß alle zusammen, jedes auf seine Art, durch das Tun des einen Heiligen Geistes wirksam dem Heil der Seelen dienen.“

Der „Orientierungstext“ – und darauf hat Kardinal Koch aufmerksam machen wollen – ergänzt und erweitert den verbindlich gültigen Offenbarungsbegriff in unzulässiger Weise: „Alle Zeichen der Zeit müssen angesichts der Fülle geschichtlicher und gesellschaftlicher Phänomene unterschieden und in ihrer Bedeutung für den Glauben und die Kirche ermittelt werden. So lässt sich in ihnen Gottes Gegenwart entdecken und lassen sich Orientierungen für das persönliche, gesellschaftliche oder auch kirchliche Leben gewinnen. … Die Zeichen der Zeit in Gottes Geisteskraft zu erkennen und im Lichte des Evangeliums zu deuten, dazu bedarf es des Zusammenspiels aller weiteren Orte und Quellen des Glaubens.“

Zu den „Zeichen der Zeit“, in denen Gottes Ratschluss vermutet wird, gehören nach dem Verständnis der Mehrheit der Mitglieder des deutschen Synodalen Weges „Fragen kirchlichen Lebens“, die „teilweise schon lange aufgebrochen sind: die Frage der Macht und das Verlangen nach Gewaltenteilung; die Zukunftsfähigkeit priesterlicher Lebensformen; das Verlangen nach gleichberechtigtem Zugang aller Geschlechter zu den Diensten und Ämtern der Kirche; die Rezeption der gegenwärtigen Forschungserkenntnisse in die kirchliche Sexualmoral. Auch sie könnten sich als Zeichen der Zeit erweisen.“ Aber wir müssen die Ansichten und Meinungen, die auf dem Synodalen Weg kursieren, nach meinem Verständnis an einem einzigen Maßstab messen – am Evangelium Jesu Christi und damit zugleich an der verbindlich gültigen Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte. Was auf dem deutschen Synodalen Weg über den Offenbarungscharakter bestimmter Zeichen der Zeit ausgeführt wird, ist dezidiert konzilswidrig.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln allein die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht die der Redaktion von CNA Deutsch.

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