11. November 2016
Vor 1700 Jahren wurde der heilige Martin von Tours geboren. Jedes Kind kennt den frommen Soldaten, der seinen Mantel mit dem frierenden Bettler geteilt hat, und so zum Vorbild aufrichtiger Nächstenliebe geworden ist. Sein Gedenktag, der am heutigen 11. November gefeiert wird ist Anlass, ihn nachzuahmen und die Liebe zu unseren Mitmenschen zu trainieren.
In drei Teilen präsentiert Monsignore Florian Kolfhaus praktische Tipps für jedermann. (Zum Nachlesen finden Sie hier den ersten und hier den zweiten Teil.)
Was das Gerümpel am Speicher mit Liebe zu tun hat
Unser Alltag ist natürlich nicht immer ein Sonntagsspaziergang. Wir haben ja schon gesehen, dass wir in der Stille und im Alleinsein mit uns selbst, vieles entdecken, was nicht passt. Auch hier gibt es eine praktische Übung, wie sie eigentlich ganz leicht, mehr mit sich ins Reine kommen können und Ordnung schaffen. Es ist eine auffallende Tatsache, dass unsere Wohnungen nicht selten Spiegel unserer Seele sind. Ich meine damit gar nicht bestimmte Bücher, Bilder und Gegenstände, die einem Besucher sofort ihre Interessen und Hobbies verraten können. Es geht um die Frage, wie aufgeräumt ihre Zimmer sind. Sind die Dinge an ihrem Platz oder liegt alles wild herum? Wandeln Sie durch Stapel von Zeitschriften, Kleidern und Krimskrams oder haben Sie noch Raum, sich frei zu bewegen. Ganz egal ob ihre Wohnung groß oder klein ist: Fragen Sie sich, ob Sie Enge oder Weite spüren, Raum für neue Möglichkeiten oder verstellte Chancen? Auch umgekehrt kann die Beobachtung unseres Zuhause Aufschluss über uns selbst geben: Ist alles steril, leer und tot, oder gibt es liebgewordene Erinnerungen und Dinge, die nicht zweckmäßig, aber schön und für mich ganz persönlich wertvoll sind. Schaffe Sie Ordnung in ihrer Wohnung, und automatisch klärt sich in Ihnen selbst manches, was in Unordnung scheint. Die meisten von uns müssen entrümpeln, weil sich in den Jahren Ballast angestaut hat, andere dagegen sollten versuchen, ihre Wohnung als Heim zu sehen und nicht nur als Schlafstätte und zweckmäßige Kantine.
Dein Schreibtisch und seine Schubladen sind ein Spiegel Deiner Seele
Unser Haus spiegelt unsere Seele wider. Ganz deutlich wird das an Schubladen und Schränken. Vielleicht stimmt der äußere Eindruck. Alles ist sauber, hübsch und ordentlich. Wehe jedoch, man schaut in den Schreibtisch oder gar in den Keller, wo sprichwörtlich die Leiche versteckt liegt. Entrümpeln Sie Truhe, Kisten und Schränke. Befreien Sie sich von dem, was Sie belastet. Schaffen Sie Ordnung. Das hat eine Auswirkung auf ihr Inneres. Schaffen Sie sich Raum – ganz wörtlich in Ihren eigenen vier Wänden. Das ist ein erster, ganz konkreter Schritt, um etwas zu verändern. Wenn Sie ihn machen, finden Sie auch die Entschlossenheit, andere Schwächen und Probleme anzupacken. Christliche Askese meint nicht, sich selbst wehzutun, weil Schmerz und Verzicht irgendwie etwas Gutes seien, sondern schlicht und einfach Ordnung zu schaffen im eigenen Leben. Fangen Sie mit ihren Schubladen an, wagen Sie sich dann an andere Gewohnheiten, die sie einengen und unfrei machen: Hören Sie mit dem Rauchen auf, schalten Sie die Glotze ab, machen Sie mehr Sport, hören Sie bewußt Musik, lesen Sie ein gutes Buch. Überfordern Sie sich nicht. Sie müssen nicht Supermann werden oder von heut auf morgen alles anders machen. Es geht darum, Raum zu schaffen, damit Platz für die Liebe ist. Ein wichtiger Punkt darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden (auch wenn er nicht der erste ist, mit dem Sie anfangen): Machen Sie Fehler wieder gut. Wagen Sie es, Schuld einzugestehen und um Verzeihung zu bitten.
Es geht um's Entrümpeln und Ballast loswerden. Was wir alle in unserem Herzen an kleiner und großer Schuld angesammelt haben, muss endlich raus. Hier geht es um mich. Ich will in meinem Herzen wieder Platz für anderes haben – nicht für den Mist, den ich angestellt und nie aus der Welt geräumt habe. Oft ist es nicht leicht, ja vielleicht sogar unmöglich, Fehler gegenüber anderen wieder gut zu machen. Es genügt, wenn Sie dann ganz bewusst in den dunklen Keller ihres Herzens steigen, die Leiche aus dem Schrank holen und, in dem sie bereuen, was da geschehen ist, sie endlich aus dem Haus schaffen. Ein neuer, besserer Anfang ist immer möglich. Bitten Sie Gott um Verzeihung und gehen Sie zur Beichte. Das klingt altmodisch – aber es hilft, Kopf und Herz frei zu machen. Jeder von uns hat hoffentlich schon einmal erlebt, wie es ist, sich nach einem heftigen Streit zu versöhnen oder von jemanden, dem man Unrecht getan hat, zu erfahren, dass alles wieder gut sei. Mit einem schlechten Gewissen kann man nur halbherzig lieben. Schaffen Sie Ordnung – in ihrer Wohnung, in ihren Gewohnheiten, in ihrer Vergangenheit. Befreien Sie sich aus dem, was sie einengt. Das kostet sicher Überwindung, manchmal Schweiß und sogar Tränen, aber es öffnet einen neuen Horizont und schafft Zukunft. Lieben heißt den Schritt in diese grenzenlose Weite zu gehen.
Herzmuskeltraining
Erinnern Sie sich noch an den Bettler an der Straßendecke und die eingangs gestellt Frage, ob Nächstenliebe bedeutet, ihn in Ihrem Haus wohnen zu lassen? Sie ahnen mittlerweile schon, das es darum gar nicht geht. Lieben heißt, dem anderen Gutes zu wünschen (und wenn möglich auch zu tun). Versuchen Sie's! Denken Sie an die Liste all dessen, was Sie sich für sich selbst wünschen und probieren Sie sich vorzustellen, dass all das im Leben derer, die sie lieben auch Wirklichkeit wird. Vielleicht haben Sie zuerst Ihre Familie und Freunde vor Augen, aber dann sollten Sie auch eben jenen Bettler an der Straßenecke in den Blick nehmen. Was bräuchte er um wirklich glücklich zu sein? Was kann ihm helfen, dass sein Leben gelingt? Üben Sie es, anderen Gutes zu wünschen. Vielleicht setzen Sie sich dazu auch in ein Straßenkaffee und beobachten die Passanten. Was wünschen Sie jedem Einzelnen der vorbeigeht? Merken Sie, dass diese positiven Gedanken helfen, das eigene Herz ein bisschen größer und weiter zu machen? Das lateinische Wort für "segnen" heißt "benedicere" - auf deutsch: Gutes sagen. Sagen Sie ihren Mitmenschen, wenigsten in Gedanken, Gutes zu. Versuchen Sie, Ihnen – zumindestens im Stillen – von Herzen Gutes zu wollen. Beten Sie für die vorbeieilenden Passanten.
Liebt Eure Feinde, betet für die, die Euch hassen!
Auch hier gibt es noch einen Schritt, der diese Übung etwas schwieriger macht. Den anderen lieben wie sich selbst, heißt dem Nächsten zu wünschen, was ich selbst für mein Leben erhoffe. Kann ich so auch über Menschen denken, die mir unsympathisch sind, die ich eigentlich unausstehlich finde und für die ich nun wirklich keine Zuneigung empfinde. Es mag leicht sein, bei einer Tasse Cappuccino einem vorübergehenden Touristen gute Freunde und Gesundheit zu wünschen, aber gelingt das auch bei anderen, mit denen ich Tag für Tag zusammenarbeite? Bei jedem von uns gibt es heftige innere Widerstände, einem arroganten Kollegen innerlich Erfolg zu wünschen. Gerade hier aber muss der Herzmuskel trainiert werden. Stemmen Sie schwerere Gewichte – wünschen Sie unsympathischen Menschen Gutes. Sie brauchen sich dabei nicht zu überfordern und schon gar nicht erwarten, dass sich auf einmal ihre Sicht für den anderen radikal ändert. Lieben heißt nicht, dass ich für alle Menschen schöne Gefühle hege und mit ihnen in Einklang stehe. Lieben heißt – schlicht und einfach, und doch gar nicht so leicht – dass ich wünsche, dass ihr Leben gelingt.
Nächstenliebe konkret: kein Gefühl, aber ehrliches Wohlwollen
Sie müssen nicht jeden als ihren Freund umarmen, aber versuchen Sie ihm zu wünschen, dass es andere gibt, die das aus ehrlichem Herzen tun. Je mehr Ihnen das gelingt, umso freier und offener werden Sie und umso wenige setzen Ihnen Ärger und Ungerechtigkeiten seitens anderer zu. Andere zu lieben ist vor allen Dingen ein Geschenk an uns selbst. Schon der bloße und unausgesprochene gute Wunsch für andere ist in Wirklichkeit eine Bereicherung für uns selbst. Sie müssen nicht ihr gesundes Urteil über andere Mitmenschen aufgeben. Liebende laufen nicht mit einer rosaroten Brille durch die Welt, die den Blick für Fehler, Unrecht oder Schuld verschleiert. Es geht darum, die anderen trotz alledem zu lieben. Jeder Mensch verdient es, geliebt zu werden. Sie, ich, der Bettler an der Ecke und sogar der jähzornige Chef, der mich zu unbezahlten Überstunden verdonnert. Vielleicht hilft es Ihnen, sich vorzustellen, das dieser kleine Diktator einmal ein Kind war, das seine Mutter voller Stolz umarmt hat, um ihm alles Glück dieser Welt zu wünschen. Und falls Sie Christ sind, erinnern Sie sich daran, dass das Wutgeschrei ihres Vorgesetzten Gott sicherlich keine Freude bereitet, er aber selbst diesen "Knallkopf" liebt.
Sobald es Ihnen gelingt, in Ihrem Kopf (noch besser in Ihrem Herzen) anderen Gutes zu wünschen und für sie zu beten, versuchen Sie Ihnen gegenüber das auch auszusprechen. Es ist doch eigentlich viel zu wenig, nur an Geburtstagen und Weihnachten unseren Mitmenschen zu gratulieren und oft nur floskelhaft "Alles Gute" zu wünschen. Sagen Sie Ihrem Kollegen "Viel Erfolg bei Deiner Konferenz!" und dem Bettler am Straßenrand wenigstens "Einen schönen Tag!". Üben Sie Wünsche auszusprechen und damit anderen Mut zu machen, manchmal vielleicht sogar augenzwinkernd und humorvoll, etwa wenn Sie dem Landstreicher viele Euros im Hut wünschen. Versuchen Sie – mit der Zeit werden Sie immer sensibler – die geheimen Sehnsüchte oder Verwundungen ihrer Mitmenschen zu treffen, um dann vielleicht der immer gestressten Familienmutter zu sagen, dass Sie ein erholsames Wochenende haben möge und vielleicht die Zeit, einmal richtig abzuschalten. Versprechen Sie anderen – auch Nicht-Christen werden sich darüber freuen - für sie zu beten, auch in den kleinen Sorgen des Alltags.
Geben ist seliger denn Nehmen
Natürlich kann Nächstenliebe sich nicht auf gute Wünsche und fromme Gedanken beschränken. Sie sind jedoch ein Anfang, der zu freundlichen Worten und Ermutigungen führen kann, um dann auch wirklich zur Tat zu werden. Wenn man an christliche Nächstenliebe denkt, so fallen einem vielleicht spontan die Almosen und Spenden ein. Die Deutschen sind Weltmeister im Spenden und dank ihrer Hilfe, ist es möglich in vielen Ländern der Welt Gutes zu tun. Manchmal scheint es jedoch, dass Almosen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sind, oder, schlimmer noch, nur eine oberflächliche Gewissenberuhigung für den Spender. Oft sind damit auch Zweifel verbunden, ob das Geld überhaupt bei den Bedürftigen ankommt oder nicht vielmehr in der Verwaltung irgendwelcher Organisationen verschwindet.
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Bei all diesen berechtigten Gedanken, sind und bleiben Almosen eine ganz konkrete Form Gutes zu tun und Menschen in Not zu helfen. Fangen Sie wieder mit dem Bettler am Straßenrand an. Stecken Sie immer ein paar Euros in die Tasche, die Sie dann dem nächstbesten in den Hut werfen. Denken Sie dabei nicht daran, ob er sie sofort in Bier umsetzt oder wirklich zur Besserung seines Lebens benutzt. Es genügt, dass Sie jemandem eine Freude machen, ohne gleich ganz hoch anzusetzen, was ihm wirklich hilft. Suchen Sie sich eine Organisation aus, die Sie unterstützenswert finden und spenden Sie. Sie werden merken, dass jede Gabe sie reicher macht. Wer regelmäßig spendet hat das Gefühl, viel oder doch wenigstens genug zu haben, um anderen beistehen zu können. Das gibt Ihnen selbst ein Gefühl von Sicherheit und Zufriedenheit.
Geschenke nicht nur zur Weihnachtszeit
Versuchen Sie, Menschen, die Sie besser kennen, ganz bewusst Geschenke zu machen, die ihnen Freude bereiten. Das fordert vielleicht ein bisschen Nachdenken und Fantasie, aber ist – je mehr sie sich bemühen – echter Ausdruck dafür, dass sie Freunden und Bekannten Gutes wollen. Überlegen Sie welches Buch ihren Freunden Spaß machen könnte, welche Musik sie interessiert, welchen Wein sie mögen. Machen Sie Geschenke – nicht nur zu Weihnachten und zum Geburtstag, und schon gar nicht nur als Gegenleistung, weil sie selbst beschenkt worden sind. Es geht nicht um teure Geschenke, sondern um den Wunsch, anderen Freude zu bereiten. Vielleicht verschenken Sie sogar Gutscheine, mit denen Sie anderen ihre Zeit zur Verfügung stellen: für einen Kinobesuch, für eine Entrümpelungsaktion der Garage, für's Babysitten. Lieben heißt von sich etwas hergeben. Üben Sie das mit Geschenken. Mutter Teresa, die albanische Ordensschwester, die sich jahrzehntelang in Kalkutta um die Ärmsten der Armen gekümmert hat, hat einmal gesagt: Man muß geben, bis es wehtut. Wer wirklich liebt, weiß das. Zu lieben tut nicht selten weh und kostet viel. Jede Mutter und jeder Vater können ein Lied davon singen. Lassen Sie es zu, dass das Geben und Verschenken auch ein bisschen wehtut. Das ist wie beim Sport im Fitnesscenter: Wenn Sie nur ganz leichte Gewichte heben, können Sie Ihre Muskeln nicht trainieren. Sie müssen an ihre Grenzen kommen, ein bisschen den Schmerz und die Anstrengung fühlen (natürlich ohne sich zu verletzen und zu überfordern), um Fortschritte zu machen. Versuchen Sie, auch dann zu geben, wenn es wehtut. Bodybuilder sagen: No pain, no gain (kein Muskelaufbau). Damit ist gar nicht eine große Summe Geldes gemeint. Verschenken Sie Zeit. Helfen Sie bei Dingen, die Ihnen eigentlich unangenehm sind. Reden Sie mit Kollegen, die Sie nicht mögen. Nächstenliebe kann man üben. Der Gewinner dabei sind Sie selbst. Sie werden freier, ausgeglichener und zufriedener.
Herzmuskelkater bedeutet "Trainingserfolg"
Vielleicht gelingt es Ihnen auch, Dinge zu verschenken, bei denen es Ihnen schwer fällt, sich von ihnen zu trennen. Auch hier geht es nicht um den materiellen, sondern den emotionalen Wert. Ein liebgewonnenes Buch, ein altes Foto, das Kuscheltier aus Kindertagen – solche Sachen herzugeben kann weht tun, aber umso mehr kann mit dieser eigentlich ganz simplen Übung trainiert werden, auch mal auf eigene Kosten anderen Gutes zu tun und Freude zu bereiten. Keine Angst, dass Sie dabei verlieren – sie gewinnen an Freude und Freiheit – mehr als das Geschenk Sie eigentlich kostet. Machen Sie die Erfahrung, dass Geben glücklicher macht als Nehmen.
"Man sieht nur mit dem Herzen gut" (Antoine de Saint Exupery)
Kennen Sie auch die Erfahrung, dass liebe Freunde sofort merken, wenn es einem schlecht geht, auch wenn man noch gar nichts gesagt, ja sich vielleicht sogar ganz bewußt bemüht hat, sich nichts anmerken zu lassen? Liebe macht sensibel und hellhörig für die anderen, gerade dann wenn Sie in Not sind und Hilfe brauchen. Diese Aufmerksamkeit ist nicht einfach nur eine Gabe, die einige haben und andere nicht, sondern ganz wesentlich mit der Liebe verbunden. Wer liebt fühlt mit dem anderen, nicht nur das Schöne und Freudige, sondern auch Leid und Schmerz. Das ist vielleicht auch der Grund, warum es manchen nicht immer leicht fällt, sich auf die Nächstenliebe wirklich einzulassen, denn das heißt oft, dass ich die Probleme und Sorgen meiner Freunde, meiner Eltern oder Kinder an mich heranlasse. "Mitleid" ist kein billiger Trost, sondern ein wesentlicher Ausdruck von Liebe. Ich lasse es zu, mitzuleiden. Das ist etwas ganz Großes und Wichtiges.
Das Kreuz ist Schaubild größter Nächstenliebe
Das zentrale Symbol des Christentums ist das Kreuz Jesu. Der Sohn Gottes hat sich buchstäblich von Sünde und Leid verwunden lassen. Sein Herz ist durchbohrt. Sein Herz ist offen. Das Kreuz – wir alle haben es vielleicht schon viel zu oft gesehen und uns an seinen Anblick gewöhnt haben – ist ein erschütterndes Bild auch dafür, dass Liebe sich verletzlich macht, mitleidet, schmerzvoll sein kann. Ein offenes Herz für die Nöte der anderen schmerzt. Nur wer sich verschließt – sprichwörtlich ein unverwundbares Herz aus Stein hat – leidet nicht; wenigstens nicht mit den anderen, aber früher oder später an sich selbst. Haben Sie keine Angst davor, mitzuleiden und verwundbar zu sein. Liebe hat ihren Preis, aber noch größer ist der Gewinn. Um ein offenes Herz zu haben braucht es zuerst offene Augen für die Mitmenschen und die Not der anderen. Achten Sie darauf, wer Ihnen Tag für Tag über den Weg läuft. Versuchen Sie sich in die Haut derer zu versetzen, die Ihren Arbeitsplatz verloren haben oder die plötzlich krank geworden sind. Lassen Sie es zu, den Schmerz zu fühlen, der Ihr Herz weit und offen machen kann. Wenn das gelingt, brauchen Sie oft gar kein Wort mehr zu sagen, um andere zu trösten. Es genügt ein Blick, ein Handschlag, ein Lächeln. Ihr Nächster merkt, dass Sie ihn verstehen, an seiner Seite sind, mit ihm fühlen und Ihm Gutes wollen. Das ist Nächstenliebe.
Darf ich beim Fernsehen beten? Ja, unbedingt!
Nicht selten heißt es, das Fernsehen abstumpft und gleichgültig macht. Vielleicht geht es Ihnen aber auch immer wieder so, dass Sie bei den Nachrichten, die von Attentaten, Hungersnöten oder Umweltkatastrophen berichten, ganz spontan "Oh Mein Gott!" sagen – selbst Atheisten rutsch ein solches Stossgebet unbewusst über die Lippen. Machen Sie es zu einem echten Gebet für die leidenden Menschen, von denen Sie aus dem Fernsehen oder der Zeitung erfahren. Lassen Sie sich von Meldungen, die vom Leid anderer sprechen, anrühren und bewegen. Es geht um Nächsten- , nicht Fernenliebe, aber immer dann, wenn wir von der Not eines Menschen erfahren ist er unser Nächster. Oft können wir hungernden Menschen in Afrika oder Obdachlosen in Indien nur mit einer relativ kleinen Spende helfen. Wir müssen nicht die ganze Welt retten, und doch sollte unser Herz Tag für Tag weiter und liebevoller werden. Sie werden sehr bald die Nöte und Sorgen ihrer Mitmenschen entdecken, wenn Sie nicht davor verschließen. Einsamkeit, Trauer, Krankheit, Arbeitsdruck – das begegnet Ihnen im Nachbarhaus, im Büro des Kollegen und an der Kasse am Supermarkt. Versuchen Sie, sich von all dem anrühren zu lassen und nicht "cool" zu bleiben. Still und vielleicht hilflos mitzuleiden – auch das ist Liebe. Je mehr sie das zulassen, die Augen nicht verschließen und zur Tagesordnung übergehen, umso stärker wachsen in Ihnen Hilfsbereitschaft und Tatendrang, nicht nur still zuzusehen, sondern etwas zu tun. Vielleicht kommt für ihren krebskranken Freund jede Hilfe zu spät, um sein Leben zu retten. Aber ihre häufigen Besuche und ihre Nähe an seinem Bett machen doch alles anders. Und vielleicht wächst aus diesem konkreten Mitleiden mit einem Menschen das innere Bedürfnis den vielen auf der gleichen Krankenstation zu helfen, die Tag für Tag allein bleiben, einsam sind und vergeblich auf Freunde warten.
Apostel der Nächstenliebe
Sicherlich ahnen Sie, worum es geht: Es kommt darauf an, ein offenes Herz zu haben. Das aber bedeutet, mutig die Augen aufzumachen für die Not der anderen und, mehr noch, sich davon berühren, vielleicht sogar verletzen zu lassen. Das Wort aus dem Buch "Der Kleine Prinz" von Saint Exupery - "Man sieht nur mit dem Herzen gut" - ist fast schon zu einer abgedroschenen Floskel geworden, die allzu oft als "Seinem Gefühl folgen" verstanden wird. In Wirklich meint es aber die tiefe Wahrheit, das ein mitfühlendes Herz die oft verborgene Not des anderen sieht. Der englische Kardinal John Henry Newman hatte als Wahlspruch "Cor ad Cor loquitur" - Das Herz spricht zum Herzen. Mein Herz ist das Sinnesorgan für das Innerste meines Nächsten, für seine Freuden und Sorgen, für seine Nöte und Ängste. Ein solches Herz ist der fruchtbare Boden, auf dem Kreativität, Initiative und Tatkraft wachsen. Mitleid ist nicht das hoffnungslose Eingeständnis der eigenen Ohnmacht, sondern der innere Antrieb zu lieben und zu helfen.
Die Saat geht auf
Unser Herz, unsere Seele, unser Innerstes sind nicht so leicht zu bedienen wie ein Fernseher, bei dem man einfach auf den Knopf drück, um ihn einzuschalten und das Programm zu wechseln. Liebe ist immer auch Gnade und Geschenk, etwas das wir empfangen und weitergeben, aber nicht selber machen können. Liebe ist wie eine Pflanze, die ich gießen und düngen kann, die aber auch Luft und Licht braucht, um dann ganz langsam und ohne mein Zutun zu wachsen und zu blühen. Liebe – das haben Sie bei all den vorausgehenden Übungen sicherlich gemerkt – kommt aus dem Innersten, um sich dann nach außen in Worten und Taten zu entfalten. Haben Sie Geduld mit sich selbst, wenn es Zeit braucht, um ihre Liebe wachsen und groß werden zu lassen. Verwechseln Sie Liebe nicht mit schönen Gefühlen und romantischen Sehnsüchten, die sich nicht immer einstellen werden.
Heil und heilig werden
Lassen Sie sich von Vorbildern der Nächstenliebe inspirieren, auch wenn Sie es nicht schaffen, sie in allem nachzuahmen. Es gibt wahre Helden der Liebe, die wir Christen Heilige nennen: Martin von Tours, der seinen Mantel geteilt; Franz von Assisi, der den Aussätzigen umarmt; Elisabeth von Thüringen, die trotz der Drohungen ihres Mannes, Brot an die Armen austeilt; Johannes Bosco, der für die Straßenkinder Turins Heime und Schulen gebaut hat; Damien de Veuster, der freiwillig unter Aussätzigen gelebt hat, die aus der Gesellschaft verbannt worden waren; Mutter Teresa, die Sterbende von der Straße geholt hat, um ihnen ein würdevolles Lebensende zu bereiten; Maximilian Kolbe, der im KZ sein Leben für die Rettung eines Familienvaters angeboten hat. Gott sei Dank – im wahrsten Sinne des Wortes – gibt es immer wieder Männer und Frauen, die wirklich Liebe ausstrahlen und weitergeben. Oft sind es nicht die, die in der Öffentlichkeit stehen und Schlagzeilen machen. Entdecken Sie diese Menschen, die es sicher auch in ihrer Nähe gibt: Eheleute, die jahrzehntelang füreinander da sind; Eltern, die in ein behindertes Kind liebevoll großziehen; Freiwillige, die sich in allen möglichen caritativen Bereichen engagieren; Krankenschwestern und Pfleger, die trotz Zeitdruck versuchen, ihren Patienten Aufmerksamkeit und Trost zu schenken. Lassen Sie sich anstecken und motivieren vom Beispiel anderer. Fangen Sie an, den Nächsten zu lieben – in ihrer Familie, an der Straßenecke, am Arbeitsplatz. Sie werden merken, wie sehr Ihr eigenes Leben dadurch gewinnt. Das Jahr der Barmherzigkeit geht zu Ende, aber nicht unsere christliche Berufung, Spezialisten in Sache Liebe zu werden.
Lesen Sie den ersten und den zweiten Teil.
Msgr. Florian Kolfhaus hat folgende Bücher veröffentlicht: "Ganz Dein, Maria" (2. Auflage, Dominus Verlag, Augsburg), "Via Dolorosa" (2. Auflage, Dominus Verlag, Augsburg), "Der Rosenkranz – Theologie auf Knien" (1. Auflage, Dominus Verlag Augsburg). Es sind Bücher für die Praxis eines christlichen Gebets- und Glaubenslebens. Im Media Maria Verlag ist unlängst das Buch erschienen "Stärker als der Tod – Warum Maria nicht gestorben ist".
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