Wenige Tage vor Beginn der Adventszeit begeht die Kirche den Gedenktag Unserer lieben Frau von Jerusalem. Der Name dieses Festes lässt das eigentlich Geheimnis dieses Tages vergessen, an dem – im Osten seit dem 8. Jahrhundert, im Westen seit Papst Sixtus V. (1585) – die Darstellung Mariens im Tempel gefeiert wird.

Die Tradition überliefert, dass die Tochter Annas und Joachims schon mit drei Jahren ins Jerusalemer Heiligtum gebracht wurde, um dort mit anderen Mädchen erzogen und ausgebildet zu werden. Fast könnte man von einem feministischen Feiertag sprechen, in dessen Zentrum der für die Antike nicht überall selbstverständliche Unterricht von jungen Frauen im Mittelpunkt steht.

Es geht freilich nicht nur um die Ausbildung, die  Maria, die die Mutter Gottes werden sollte, erhalten hat, sondern um ihr Großwerden im heiligen Bezirk. Sie, die selbst zum Tempel wurde, in dem der Herr Wohnung nahm, wuchs in seinem Haus auf und weihte ihm ihr Leben. Es ist nicht unvernünftig anzunehmen, dass der Wunsch jungfräulich zu bleiben – von dem ausdrücklich Augustinus und Thomas von Aquin sprechen – in diesen stillen Jahren in Jerusalem gewachsen und gereift ist. Zu Recht hat daher der hl. Johannes Paul II.

Das heutige Fest in seinem ursprünglichen Charakter bestätigt, wenn er es zum Gebetstag des kontemplativen Ordenslebens ausgerufen hat. Im Licht dieser Entscheidung des Papstes feiern wir am heutigen Tag Maria als die betende Frau, die von Kindheit an ihr Leben der Betrachtung Gottes geweiht hat. Sie hat Gott geschaut – im Gebet, in der Erziehung und Pflege ihres Kindes, das der Ewige Sohn des Vaters ist, in der Herrlichkeit des Himmels, in die sie zur ewigen und ungetrübten Betrachtung der Dreifaltigkeit gelangt ist.

"Mariä Opferung" - so ein anderer Name des heutigen Festes – erinnert uns an den Vorrang des Gebets und der Betrachtung vor allem äußeren Tun und Machen. Dieser oft vergessene Tag zeigt uns Maria als Fürsprecherin, die von manchen Kirchenvätern "bittende Allmacht" genannt wird. Wie sehr rührten die schlichten Gebete dieses Kindes den Vater, als er sie an der Schwelle seines Hauses in Jerusalem beten sah? Wie sehr bewegten den Sohn die Tränen seiner Mutter, als sie ihn in eben diesem Heiligtum suchte? Wie sehr freut es den Heiligen Geist, den Bräutigam dieses reinen Mädchens, das er sich vom Tag ihrer Empfängnis an erwählte, in ihrem Herzen wie in einem Tempel zu wohnen? Ja, dieses Kind, das heute von ihren Eltern in den Tempel gebracht und Gott – dem Hausherrn des heiligen Bezirkes – vorgestellt wird, ist seine geliebte Tochter, Mutter und Braut – unsere Fürsprecherin.

Der neue Adam geboren aus einer Frau

Unsere liebe Frau von Jerusalem – der neue Titel eines alten Festes – erscheint auf den ersten Blick als Abwertung eines auf Legenden beruhenden Festes. Es scheint fast als schäme man sich all der vielen Feste und Geschichten, die sich um Maria ranken und von ihrer unvergleichlichen Größe berichten. Welcher marianisch gesinnter Christ kennt nicht den Vorwurf von evangelischen Freunden, aber auch von "aufgeklärten" Katholiken, dass die Kirche viel zu viel über Maria sage, obwohl doch die Bibel weitgehend von ihr schweige? Vom heutigen Festtag etwa findet sich kein Wort in der Heiligen Schrift und allzu leicht könnte man von einem "frommen Märchen" sprechen, würde man der Tradition nicht trauen. Auch der hl. Paulus, der erste große Theologe der Kirche, spricht in seinen 14 Briefen nur ein einziges Mal von der Mutter Jesu und nennt dabei nicht einmal ihren Namen. Und doch ist gerade dieser eine Vers  ein Schlüssel, der die Heilige Schrift zu einem besseren Verständnis der einzigartigen Aufgabe Mariens im Erlösungwerk öffnet und sie uns buchstäblich als "Frau von Jerusalem" zeigt. Christus "geboren aus einer Frau" - so die wörtliche Übersetzung von Gal 4, 4 – ist der Sohn Gottes, der Mensch werden wollte, um uns zu Söhnen zu machen. Sein Vater soll der unsere sein; seine Mutter – die er vom vor den Toren der heiligen Stadt errichteten Kreuz selbst Frau nennt, als er ihr den Lieblingsjünger Johannes anvertraut (vgl. Joh 19, 26) – soll die unsere sein.

Die Stunde der Frau

Das geheimnisvolle Wort von der Frau, das bei der Hochzeit von Kanaa fällt, als Jesus seiner Mutter sagt, "Was willst Du von mir ,Frau? Meine Stunde ist noch nicht gekommen", und daher von vielen als Distanzierung, ja sogar Abwertung gedeutet wird, ist in Wahrheit ein Ehrentitel für die Gefährtin des Erlösers aus der Urzeit des Menschengeschlechtes. Vom ersten bis zum letzten Buch der Bibel taucht die "Frau" immer an den entscheidenden Wegmarken der Heilsgeschichte auf. Wenn die Stunde des Sohnes auf Golgotha kommt, schlägt auch die der Frau, die beim Opfer ihres Sohnes anwesend ist. Sie ist die Tochter Sion – des heiligen Berges auf dem der Tempel steht, in dem die Opfer des Alten Bundes dargebracht werden. Nun steht Maria auf dem wahren Sion als das eine und einzige Opfer des Neuen Bundes geschlachtet wird. Sie ist die neue Eva an der Seite des neuen Adam – die neue Frau als Hilfe des Mannes (vgl. Gen 2, 18), der in diese Welt gekommen ist, um durch seinen Tod die Schuld der Stammeltern und ihrer Kinder zu sühnen. Sie ist die Frau des neuen Jerusalems! Im Buch Genesis 3, 15 wird diese Frau als Schlangenzerterterin im sogenannten Protoevangelium, der ersten frohen Botschaft, verheißen. Im letzen Buch der Bibel zeigt sie sich als die Sonnenbekleidete, die auf dem Mond – dem Zeichen des Feindes steht – und den Sieg des Lammes einleitet (vgl. Offb 12, 1), damit endlich die Stadt Gottes als seine Wohnung unter den Menschen herabsteige.

Siegerin über Sünde, Tod und Teufel

Dieser Sieg – von dem Papst Benedikt gesagt hat, dass das Lamm stärker ist als der Drache – beginnt durch das Ja-Wort der Jungfrau von Nazareth, erlebt seinen Höhepunkt am Kreuz, wo die Mutter bei ihrem sterbenden Sohne ausharrt und wird wird besiegelt in der Auferstehung Christi. Er ist der Erste, der das Grab besiegt. Ihm folgt seine Mutter, die – bewahrt vor jeder Sünde und ihrer Folge dem Tod – mit Leib und Seele im Himmel an seiner Seite steht um immerfort für die streitende Kirche auf Erden einzutreten. Sie ist die Mutter eines Gottes, der Mensch wurde, damit wir als Söhne und Töchter vom Gesetz der Sünde befreit werden und zu ihm in die Herrlichkeit gelangen können. Die Frau, von der Paulus spricht und die vom Beginn bis zum Ende der Heilsgeschichte an der Seite Jesu steht, ist wahrhaftig die menschliche Mutter des Gottessohnes. Jesus, der sich auf Erden "Sohn des Vaters" oder "Kind Gottes" hätte nennen können, wollte von sich immer nur als "Menschensohn" sprechen um so auch immer indirekt auf seine menschliche Mutter hinzuweisen, die – ohne einen Mann zu erkennen – ihn jungfräulich geboren hat. Sie, die von frühester Kindheit ihm geweiht war, wurde sein Zelt, seine Wohnung, sein Haus auf Erden. Sie ist der wahre Tempel Jerusalems!

Jesus und Maria, Gott und seine Mutter

In der Tat, Jesus und Maria, der göttliche Sohn des Vaters und seine menschliche Mutter begegnen sich gleichsam auf Augenhöhe. Wie der hl. Papst Pius X. In der Enzyklika "Ad diem illum" ausführt, hat Maria schicklicherweise (de congruo) für uns verdient, was Christus von Rechtswegen  (de condigno) getan hat. Er ist König kraft seiner Natur, sie Königin aus Gnade; er ist Herr und Mittler, sie aber – wiederum aus freier Wahl des Sohnes – Herrin und Mittlerin in seinem Reich. Ja, Maria ist die neue Eva, d.h. wie die hl. Katharina von Siena es für heutige Ohren provokant formuliert, Erlöserin (Redemptrix) mit dem Erlöser. Auf diese Frau blickt auch heute die Kirche voll Dankbarkeit für das Heil, das sie zur Welt berachte. Niemals kann von ihr zu viel gesagt werden - "de Maria numquam satis" so der hl. Bernhard – und daher tuen wir gut daran, keine Gelegenheit auszulassen, ihr Lob zu singen und ihre Verehrung zu verbreiten.

"Alle Tage sing und sage Lob der Himmelskönigin!"

Jedes Marienfest ist ein Gnadentag. Es gibt den schönen, kindlichen Brauch Maria zu ihren Feiertagen mit einem Brief zu gratulieren und ihr bestimmte Anliegen und Sorgen zu empfehlen. Wie die Briefchen und Bildchen, die kleine Kinder ihren Müttern an Weihnachten und Muttertag schenken, so ist diese Geste gegenüber der  Jungfrau von Nazareth ein schönes Zeichen von Wertschätzung und Vertrauen. Ein kleiner Zettel, den man unter ihre Statue legen kann, ist ein geschriebenes Gebet, das nicht unerhört bleiben wird – zumal dann nicht, wenn es gerade an Festtagen geschieht, die von vielen unbeachtet bleiben. Welche Frau freut sich nicht darüber, wenn ihr Mann an den Hochzeitstag denkt oder sich ihre Tochter dankbar erinnert, wie sie zum Abitur ihre silberne Halskette geschenkt bekam? "Mariä Opferung ist so ein Tag, an dem die Mutter Gottes wohl nicht sehr viel Post bekommt. Ein Grund mehr, gerade heute das Lob der Himmelskönigin zu singen und ihr, der hohen Frau von Jersualem, einen Liebesbrief  zu schicken.

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