Warum behandelt der "Synodale Weg" nur binnenkirchliche Themen und lässt gesellschaftspolitische Entwicklungen völlig aus?

Elf Jahre, bevor Karl Marx in London das Kommunistische Manifest veröffentlichte, hielt der jüngste Abgeordnete des Badischen Landtages seine erste parlamentarische Rede. Franz Joseph Buß (1803-1878), Sohn einer eher ärmlichen, katholischen Schneiderfamilie aus dem Schwarzwald, schrieb Geschichte mit seiner „Fabrikrede“ im Jahr 1837. Sie war die erste sozialpolitische Ansprache in einem deutschen Parlament. 

Franz Joseph Buß formulierte einen sozialen Forderungskatalog, der noch im Jahr 1904 von dem Sozialisten August Bebel als Grundstein parlamentarischer Arbeiterpolitik zitiert wurde. Heute ist in Kirche und Gesellschaft wenig bekannt, wie einflussreich Katholiken auf die politische Willensbildung seit deren Anfängen eingewirkt haben. Das 2. Vatikanische Konzil setzt dieses Engagement als bekannt voraus und überträgt deshalb den katholischen Laien eine Aufgabe von zentraler Bedeutung.

Eingebettet im Denken der Zeit

„Der Fabrikarbeiter ist der Leibeigene eines Brotherrn.… Er ist der Leibeigene der Maschine“, sagte Franz Joseph Buß beispielsweise. Nachdem die seit Jahrhunderten funktionierende kirchliche Caritas-Arbeit angesichts der Bevölkerungsexplosion und der wachsenden Verarmung überfordert war, nahm Buß den Staat in die Pflicht, das „drohende Übel zu verhüten“ oder wenigstens zu bändigen. 

Er forderte zum Beispiel eine Beschränkung der Arbeitszeit, Fabrikinspektion, Einrichtung von Kranken- und Unfallversicherung sowie von Sparkassen, Volksschulpflicht, berufliche ebenso wie religiös-sittliche Bildung.

Der engagierte Katholik war beruflich Professor für Staatswissenschaft und Völkerrecht in Freiburg, zusätzlich auch für Kirchenrecht. Später (1848) wurde Franz Joseph Buß Präsident des ersten Katholikentages, damals noch als erste Generalversammlung der katholischen Vereine Deutschlands.

Sein politisches Engagement war eingebettet in das Denken der Katholiken seiner Zeit. Mehr als 150 Jahre sollte dies so bleiben: Seit den Anfängen der Demokratie in Deutschland bis in unsere Zeit haben sich Katholiken gesellschaftspolitisch engagiert. Aber nicht irgendwie, sondern in einflussreichen Gruppen mit großer Wirkkraft auf das öffentliche Leben. Glaube und christliches Menschenbild haben dabei Orientierung vermittelt.

Zunächst bildete die Benachteiligung gegenüber dem Protestantismus eine bedeutende treibende Kraft. Aber eben auch die „Soziale Frage“ des 19. Jahrhunderts. Zwei Jahre nach der „Fabrikrede“ erließ die preußische Regierung mit dem „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken“ ein erstes Arbeiterschutzgesetz. Die Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren wurde verboten. Nur ein erster Schritt, weitere folgten – auch unter dem Druck, der von engagierten Katholiken ausging. Dazu gehörte auch Wilhelm Emmanuel von Ketteler (1811–1877), damals noch nicht Bischof von Mainz, sondern zunächst als Jurist im preussischen Staatsdienst, dann spätberufener Priester, „Bauernpastor“ und Mitglied der Deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche. Er widmete den größten Teil seines Lebens einer gerechten sozialen Ordnung. 

Ein sozialer und politischer Katholizismus

Mit Gründung der Piusvereine 1848 entstand für die katholische Bevölkerung eine erste bürgerlich-rechtliche Struktur für politische Zwecke. 1869 sprach Wilhelm Emmanuel von Ketteler vor 10.000 Arbeitern und verkündete deren Recht, sich zur Vertretung ihrer berechtigten Interessen zusammenzuschließen. Er formuliert die „Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung“ mit Forderungen nach gerechtem Arbeitslohn, Streikrecht, Verkürzung der Arbeitszeit, Ruhetagsrecht an Sonn- und Feiertagen und Verbot der Kinderarbeit. Ketteler gehörte mit Buß, den Brüdern August und Peter Reichensperger unter anderen zu den Vorreitern des sozialen und politischen Katholizismus. 

Ketteler gab sein Reichstagsmandat 1871 auf: In diesem ereignisreichen Jahr wurde nicht nur das deutsche Reich gegründet und der „Kulturkampf“ begonnen. Im gleichen Jahr gründeten die Katholiken in Deutschland das „Zentrum“ als katholische Partei mit Ludwig Windthorst an der Spitze. Windthorst war zuvor als erster Katholik in ein Ministeramt in Hannover berufen worden. Kanzler Otto von Bismarck misstraute den Katholiken wegen deren Treue zum römischen Papst. Einen Auslöser des Kulturkampfes bildete die Abänderung des Strafgesetzbuches, wonach es mit dem „Kanzelparagraphen“ den Geistlichen verboten wurde, bei Verlautbarungen in ihrem Beruf den „öffentlichen Frieden“ zu gefährden. Der Staat kontrollierte außerdem Ausbildung und Einstellung der Geistlichen; das kirchliche Vermögen wurde staatlich verwaltet. Die Jesuiten sowie die meisten anderen Ordensgemeinschaften wurden verboten.

Die Katholiken ließen sich – unerwartet – nicht spalten; vielmehr wuchs die katholische Zentrumspartei von 63 auf 100 Abgeordnete und entwickelte sich zur größten Fraktion im Reichstag. Klerus wie Gläubige ignorierten die Gesetze, was zur Folge hatte, dass Priester, die ohne Zustimmung des Staates seelsorglich tätig wurden, verhaftet oder vertrieben wurden. Der Entzug der staatsbürgerlichen Rechte und die Vermögenskonfiszierung bildeten den Gipfel der Verfolgung. 1876 befanden sich die meisten preußischen Bischöfe im Gefängnis oder Exil. 

Diskussion über gesellschaftspolitische Themen

Katholische Laien taten sich auf vielfache Weise hervor. Der Unternehmersohn Franz Brandts gründete 1872 eine eigene Firma, die sich sehr erfolgreich entwickelte. Er initiierte dort einen Arbeiterausschuss. Die 1885 erlassene interne Fabrikordnung garantierte den Arbeitern in betrieblichen Dingen Mitverwaltung, war also eine Vorstufe eines Betriebsrats im heutigen Sinne. Die Fabrik von Franz Brandts verfügte über zahlreiche freiwillige Sozialleistungen wie eine eigene Krankenversicherung, Darlehnskasse, Bücherei, Betriebsküche, Kindergarten und Nähschule. Brandts baute Wohnungen, die seine Arbeiter günstig erwerben konnten. 

Für die damalige Zeit war dieses soziale Engagement wegweisend. Der Unternehmer gründete den Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde, woraus sich der Volksverein für das katholische Deutschland entwickelte, den Franz Brandts gemeinsam mit  Franz Hitze und Ludwig Windthorst gründete und dessen Vorsitzender er wurde.

Erhalten Sie Top-Nachrichten von CNA Deutsch direkt via WhatsApp und Telegram.

Schluss mit der Suche nach katholischen Nachrichten – Hier kommen sie zu Ihnen.

Franz Brands wurde auch Ehrenpräsident des 59. Katholikentages in Aachen. Zu dieser Zeit fanden sie meist jährlich statt; bei diesen Treffen entwickelte sich die Diskussion über gesellschaftspolitische Themen zu einer Tradition. 

Ein häufiger Redner war auch Adolph Kolping, ein ehemaliger Schuhmachergeselle, der als Spätberufener Priester wurde und durch die soziale Not in Elberfeld seine Prägung erhielt. Dort lernte er den ersten katholischen Gesellenverein kennen, entfaltete diese Idee und trug sie von Köln aus in weite Teile Deutschlands und Europas. Die Mischung aus Zufluchtsort, Bildung und Unterhaltung im Gesellenverein traf das Bedürfnis der Handwerkergesellen. Durch die Schaffung von mehren hundert Kolpinghäusern – meist in mittelgroßen und größeren Städten – blühte der Verband weiter auf und erreichte Zehntausende gleichzeitig. Heute gibt es weltweit 400.000 Kolpingmitglieder in 60 Ländern. 

Als der fränkische Schreiner und Kolpingbruder Adam Stegerwald, Generalsekretär des Gesamtverbands die Christlichen Gewerkschaften, 1920 die vorhandenen einzelnen Gruppen zum einheitlichen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammenschloss, forderte er auch zur Gründung einer interkonfessionellen christlichen Partei auf. Damit trug er eine Idee vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg Realität werden sollte.

Die Niederlage des Ersten Weltkrieges und die Abdankung des Monarchen läutete eine innenpolitisch stürmische Zeit ein. Die katholische Zentrumspartei erklärte: „Durch gewaltsamen Umsturz ist die alte Ordnung Deutschlands zerstört. Eine neue Ordnung ist auf dem Boden der gegebenen Tatsachen zu schaffen; diese Ordnung darf nach dem Sturz der Monarchie nicht die Form der sozialistischen Republik erhalten, sondern muss eine demokratische Republik werden.“ Drei Jahre später – 1921  – wurde der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von Rechtsradikalen ermordet. 

Tragende Säule der republikanischen Neuordnung war beispielsweise die Arbeitsgesetzgebung, die in achtjähriger Amtszeit – unter zwölf Regierungen – von Heinrich Brauns (1868–1939) geprägt wurde. Der Arbeitsminister, Sohn eines Schneiders aus Köln, war Priester und Sozialwissenschaftler. 

Politischer Katholizismus als prägende Kraft

In der Ära des Nationalsozialismus begann die Suche nach einer gerechten und humanen Nachkriegsordnung nicht erst nach Zusammenbruch und Ende des 2. Weltkrieges. Verschiedene katholische Widerstandskreise hatten schon in der NS-Zeit über eine Neuordnung des Staates nachgedacht. Sie trafen sich zum Beispiel im Ketteler-Haus, der Verbandszentrale der Katholischen Arbeitnehmerbewegung, und im Kölner Kolpinghaus. Beide Gruppen standen in Kontakt zum Dominikaner-Kloster Walberberg. Aus beiden Widerstandskreisen wurden Teilnehmer im Jahr 1944 verhaftet und in Konzentrationslager transportiert, wo sie den Tod fanden. 

Andere konnten entkommen; sie gehörten zu den Wegbereitern und Gründern der CDU in Deutschland, deren Gründungsversammlungen am 16. und 17. Juni 1945 in Berlin und Köln stattfanden. Darunter befand sich der ehemalige Zentrumspolitiker Leo Schwering, Leiter der Programmkommission und Verfasser der „Kölner Leitsätze“, der ersten programmatischen Schrift. An beiden Orten befanden sich unter den Gründern Kolpingmitglieder, in Köln waren es acht von 16 Personen. Auch der erste Ministerpräsident des neu gebildeten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, war ein Kolpingmitglied: Karl Arnold (CDU). 

Der politische Katholizismus, der sich nach 1945 vorzugsweise in der CDU/CSU sammelte, konnte seine christlichen Wertvorstellungen fruchtbar machen. Der Parlamentarische Rat unter Vorsitz Konrad Adenauers (CDU) verabschiedete am 8. Mai 1949 in Bonn ein Grundgesetz mit deutlicher Handschrift der Christdemokraten. 

Der soziale Katholizismus schlug sich auch in einer Reihe maßgeblicher Gesetze nieder – von Kriegsopferversorgung, über Lastenausgleich für Heimatvertriebene und die so genannte dynamische Rente bis zu Montanmitbestimmung, Betriebsverfassung, Kündigungsschutz, Mutterschutz, Kindergeld usw. Dieser Einfluss blieb jahrzehntelang erhalten. Die Einführung von Erziehungszeiten der Kinder in der Rentenversicherung ging zum Beispiel auf ihr Konto. Der letzte prominente und einflussreiche Christdemokrat mit katholischer Prägung auf Bundesebene war Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm, der gegen erheblichen Widerstand die soziale Pflegeversicherung ins Leben rief. 16 Jahre blieb er in der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl im Amt. 

Zuvor hatte er bereits erhebliche familienpolitische Errungenschaften mit der Einführung von Erziehungsgeld und -urlaub sowie der höheren Bewertung von Kindererziehungszeiten in der Rente durchgesetzt. Der gesetzlichen Rentenversicherung verlieh er jahrzehntelang wirksame Stabilität.

Nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland im Jahr 1989 übernahmen zahlreiche Katholiken verantwortliche Aufgaben in der Politik. Sie waren unbelastet von SED und Stasi wie keine andere Gruppe. Zwei Kolpingbrüder wurden zum Beispiel Landtagspräsidenten in den neuen Bundesländern, ein engagierter Katholik aus dem Osten Präsident des Deutschen Bundestages.

Der Sozialkatholizismus Deutschlands war wesentlich in den katholischen Verbänden beheimatet, die auch uneingeschränkt für den Lebensschutz des Menschen vom Beginn der Schwangerschaft bis zum Lebensende eintraten. Katholische Akademien in den Bistümern leisteten wertvolle Beiträge zur Weiterbildung der engagierten Katholiken. Die Katholische Soziallehre fand aber nicht nur in Verbänden und Akademien lebendigen Zuspruch und gute Verbreitung. In einigen Bistümern entwickelte sich sogar eine Betriebsseelsorge mit „Betriebskernen“: Gruppen katholischer Arbeiter bildeten und engagierten sich für ein Apostolat von Arbeitern für Arbeiter am Arbeitsplatz. 

Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils

Vor diesem Hintergrund sind die Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) zu verstehen. Gesellschaft und Kirche hatten sich längst weiterentwickelt. Was in früherer Zeit undenkbar schien, wurde mehr als hundert Jahre lang zur Gewohnheit: Laien konnten in Beruf und Politik die Gesellschaft im christlichen Geist mitgestalten. In organisierten Gruppen (katholischen Verbänden, Gewerkschaften und Parteien) nahmen sie das Heft des Handelns in die Hand und ließen sich dabei gewissenhaft vom Evangelium Jesu leiten. 

Vor diesem Hintergrund betonte das Konzil: „Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise eigen“ (LG 31). Ihnen obliege die „Regelung der zeitlichen Dinge“. Sie leben in der Welt, im Familien- und Gesellschaftsleben, wo sie „Sauerteig zur Heilung der Welt“ sein könnten, „vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens“. 

Dieser Auftrag ist umfassend, nahezu unbegrenzt. Er wird eigenverantwortlich wahrgenommen. Das Lehramt hat sich in das operative Geschäft der Laien nicht einzumischen, so das Konzil.

Umgekehrt gilt: Die Bischöfe lehren authentisch in Glaubens- und Sittensachen, sie verkündigen auf unfehlbare Weise die Lehre Christi (LG 25). „Dieser religiöse Gehorsam des Willens und Verstandes ist in besonderer Weise dem authentischen Lehramt des Bischofs von Rom, auch wenn er nicht kraft höchster Lehrautorität spricht, zu leisten“, bekräftigt das Konzil (LG 25). „Die einzelnen Bischöfe besitzen, …wenn sie in Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri, authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend vortragen, so verkündigen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi.“ Das Konzil bekräftigt zudem die Unfehlbarkeit des Papstes, „wenn er als oberster Hirt und Lehrer aller Christgläubigen, der seine Brüder im Glauben stärkt (vgl. Lk 22,32), eine Glaubens- oder Sittenlehre in einem endgültigen Akt verkündet“.

Eine jahrzehntelang anerkannte Aufgabenteilung

An diese Aufgabenteilung haben sich seit dem Konzil sowohl die Laien und als auch der Klerus weitgehend gehalten. In katholischen Verbänden war es jahrzehntelang selbstverständlich, sich aus der Glaubens- und Sittenlehre herauszuhalten und dies dem Klerus zu überlassen; umgekehrt blieben die Verbände und der Kirche nahestehenden Politiker zwar mit den Bischöfen im Gespräch; sie handelten aber – ihrem Gewissen folgend und unter maximaler Berücksichtigung der katholischen Lehre – autonom. Auf andere Weise wäre ihr Engagement auch nicht möglich gewesen.

Lediglich zwei Vorgänge waren in dieser Zeit umstritten: Beim Konflikt um die Frage, ob eine Mitwirkung an der Schwangerschaftskonfliktberatung einschließlich der Ausstellung eines Beratungsscheines waren die Grenzen fließend. Eine andere Abweichung gegen die Aufgabentrennung erfolgte beim gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (1994). Das Thema war eindeutig eine Laienaufgabe. Von diesen beiden Ausnahmen abgesehen funktionierte die vom Konzil vorgesehene Aufgabenteilung.

Katholiken als Vorreiter? 

Allerdings ging in den letzten Jahren und Jahrzehnten die Initiative der Laien in gesellschaftlichen Fragen deutlich zurück. Deshalb lohnt sich heute zu fragen: Bei welchem politischen Thema sind die katholischen Laien gegenwärtig tonangebende und exklusive Vorreiter? Welche neuen Initiativen im politischen Raum gehen aus den Grundsätzen der Katholischen Soziallehre hervor? 

Vielen Katholiken ist die Katholische Soziallehre mit ihren Prinzipien der Personalität, Subsidiarität und Solidarität dagegen unbekannt. Unter den katholischen Laien geht der Weltdienst in seiner ursprünglich starken Bedeutung erheblich zurück. Gleichzeitig beanspruchen Laien neuerdings eine Mitsprache in Fragen von Glaube und Sittenlehre. 

So entsteht der Eindruck einer Verschiebung des Engagements: Laien geben die ihnen zugedachte Aufgabe des Weltdienstes weitgehend auf; gleichzeitig mischen sie sich in Fragen des Glaubens und der Sitte verstärkt ein, ohne dass dies ihr vorrangiges Aufgabengebiet wäre.

Im Matthäus-Evangelium sagt Jesus im Anschluss an die Seligpreisungen: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden.“ – Erfüllt sich gegenwärtig dieses Wort? Das Evangelium verliert seinen begeisternden und prägenden Charakter, und schon folgen nicht wenige Katholiken der Neigung, die bereits als Gefahr im Volk Israel ständig präsent war: sich der Umgebung anzupassen und das eigene Profil zu verlieren.

Zeitgeist und Glaubenswahrheiten

Im deutschen synodalen Sonderweg manifestiert sich diese Tendenz. Plötzlich stehen nicht mehr das Wort Gottes und die Lehre der Kirche an erster Stelle, sondern „Erkenntnisse der Humanwissenschaften“. Ignoriert wird dabei: Während der Katechismus Glaubenswahrheiten enthält, die in der Nachfolge der Apostel seit 2000 Jahren zur Geltung kommen, ist der Zeitgeist, der sich in Humanwissenschaften wiederfindet, oft sehr kurzlebig. 

Das zeigt sich besonders krass am sexuellen Missbrauch von Kindern. Es gab eine Phase in der deutschen Geschichte, in der eine Abschaffung des Sexualstrafrechtes, zumindest beim Kindesmissbrauch, diskutiert wurde. Es entstand in Teilen der Öffentlichkeit – auch mit Hilfe der Wissenschaft – ein Klima, Kindesmissbrauch sei nicht schädlich. In den Blickpunkt gelangte nicht nur die Partei die „Grünen“, sondern auch bedeutende Politiker anderer Parteien, ebenso gemeinnützige Organisationen wie Pro Familia und der Humanistische Bund.

Während einerseits die Kirche lehrt, dass die Sexualität zur Schöpfung gehört und für den Menschen in mehrfacher Hinsicht eine große Bedeutung hat, so lehrt sie andererseits, dass ihre Kultivierung und Selbstbeherrschung unverzichtbar sind. In Entwürfen und Beschlüssen des synodalen Sonderwegs kommen Aspekte wie Verzicht und Enthaltsamkeit dagegen nicht (mehr) vor. Beispiel: Im Grundtext mit einer Länge von 29 Seiten kommt das Wort „Lust“ 22 Mal vor, die Wörter Selbstbeherrschung und Keuschheit dagegen überhaupt nicht.

Die vier Themenbereiche der Synodalforen beschäftigen sich mit rein innerkirchlichen Themen. Bei der ersten und kirchenrechtlich anerkannten Würzburger Synode vor 50 Jahren war der Anteil von innerkirchlichen und gesellschaftspolitischen Themen dagegen noch ausgeglichen. Auch die Stellungnahmen zu innerkirchlichen Aufgaben beschäftigten sich damals – von ganz wenigen Einzelfragen abgesehen – nicht mit Aspekten des Glaubens und der Sitte, sondern der Aufgabenverteilung und zeitgemäßen Ausrichtung. Der wichtigste Text unter der Überschrift „Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit“ machte damals unzweifelhaft den Vorrang des Glaubens vor den aktuellen Strömungen des Zeitgeistes deutlich. Heute entsteht vielmehr der gegenteilige Eindruck einer Anbiederung an den Zeitgeist. 

Aber es gibt auch Gegenbewegungen. In der von Gebetshausgründer Johannes Hartl initiierten neuen Bewegung „Eden Culture“ geht es genau darum, ein Netzwerk zu schaffen, welches auf der Grundlage des christlichen Welt- und Menschenbildes die Gesellschaft mitgestaltet. Er spricht nicht vorrangig Theologen und Kirchenvertreter an, sondern „Kreative, Unternehmer, Wissenschaftler, Medienschaffende und dergleichen“. Es geht dabei um Projekte für mehr Menschlichkeit anstelle einer Überhöhung der technischen Möglichkeiten und der grenzenlosen Manipulierbarkeit.

Vierter Teil der Serie bei CNA Deutsch. Wie entstand das unveränderliche Glaubensgut der Kirche? Dieser Frage widmete  sich der erste Teil – und den zweiten Teil – Was kennzeichnet das Bischofsamt? – lesen Sie hier. Im dritten Teil ging es um die Frage, warum die Kirche keine demokratische Organisation ist.

Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.