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Warum nun auch Kardinal Marx eine Begrenzung der Migration fordert

Migranten am Wiener Westbahnhof vor der Fahrt Richtung München Hauptbahnhof am 5. September 2015. Allein an diesem Tag wanderten mindestens 9.000 Menschen ohne Grenzkontrolle von Ungarn nach Österreich ein, um von dort über den Westbahnhof Richtung Deutschland weiter zu reisen

Viel Aufmerksamkeit haben Aussagen des Erzbischofs von München und Freising erregt, mit denen er seit gestern  auch eine Reduzierung der Zahl an Migranten fordert: Es gehe “nicht allein um Barmherzigkeit, sondern auch um Vernunft”, wurde Kardinal Reinhard Marx zitiert.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz betont gleichzeitig jedoch weiter seine Unterstützung für und - so wörtlich - seinen “Respekt” gegenüber der Bundeskanzlerin Angela Merkel und deren Politik. Und Marx stellt mit scharfen Worten klar: Die “Alternative für Deutschland” (AfD), die Umfragen zufolge derzeit etwa 12 Prozent Zustimmung hat, sei für ihn keine Alternative.

Des weiteren äußert sich der Erzbischof unter anderem zum Ausgang der Familiensynode, zur Frage, was die Silvester-Verbrechen in Köln und anderen Städten sowie die Reaktion darauf geändert haben, sowie zur Frage nach einer deutschen Beteiligung am militärischen Kampf gegen den genozidalen Islamischen Staat (IS).

CNA dokumentiert hier den vollen Wortlaut des Interviews in der Ausgabe der “Passauer Neuen Presse“ und weiterer Zeitungen, wie ihn die Deutsche Bischofskonferenz publiziert hat.

Kardinal Marx, wie lange kann Deutschland seine Barmherzigkeit gegenüber Flüchtlingen noch durchhalten?

MARX: Es geht nicht allein um Barmherzigkeit, sondern auch um Vernunft. Politik muss immer auf das Mögliche ausgerichtet sein und da gibt es sicher Grenzen. Deutschland kann nicht alle Notleidenden der Welt aufnehmen. Wir müssen diese Situation jetzt meistern und zwar fair gegenüber allen Beteiligten, auch mit Blick auf die Verantwortung in Europa. Da sind Entschlossenheit und Geschlossenheit sehr wichtig. Natürlich kann es hier und da unterschiedliche Positionen geben. Es wird auch auf dem Weg die eine oder andere Korrektur notwendig sein. Aber ich erwarte von unserer Regierung in der jetzigen Lage vor allem, dass sie zusammensteht und gemeinsam handelt, und so die Menschen überzeugt.

Wo hat Barmherzigkeit ihre Grenzen?

MARX: Barmherzigkeit kennt keine Grenze. Genauso wenig, wie es für unser Asylrecht eine Beschränkung nach oben gibt. Jeder, der europäischen Boden betritt, muss anständig behandelt werden und ein faires Verfahren erhalten. Die Grenze Europas darf keine Grenze des Todes sein. Es ist eine Schande, dass geschätzt schon Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ums Leben gekommen sind; vielleicht sind es sogar mehr.

Ist das Europa der offenen Grenzen bald Geschichte?

MARX: Vor 25 Jahren haben viele gedacht, dass wir jetzt in eine neue Weltordnung eintreten und das Ende der Geschichte erreicht sei. Es ist anders gekommen. In Europas Nachbarschaft ist die Lage in den letzten Jahrzehnten prekärer geworden – sei es im Nahen Osten, sei es in Nordafrika. Ungleichheit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit haben zugenommen, und damit steigt auch der Migrationsdruck. Das wird seit Jahren von vielen betont. Dieses Problem wird nicht kleiner, wenn wir die Grenzen schließen. Ich war vor einem Jahr an der Grenze zwischen den USA und Mexiko und habe diesen riesigen Zaun und die Absperrungen gesehen. Da habe ich mir gedacht: Das kann doch wohl nicht die Zukunft für Europas Grenzen sein.

Was schlagen Sie vor?

MARX: Auch als Kirche sagen wir: Wir brauchen eine Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Aber nicht erst dann, wenn die Menschen an unseren Grenzen stehen, sondern es gilt, in den Heimat- und Nachbarländern der Flüchtenden stärker zu helfen. Millionen Menschen sind innerhalb Afrikas auf der Flucht, ebenso im Nahen Osten. Das reiche Europa trägt eine hohe Last, Deutschland besonders – keine Frage. Aber im Vergleich zu Ländern in den Krisenregionen ist diese Last viel geringer. Es gibt keine einfachen Lösungen. Unser Hauptanliegen muss sein, Fluchtursachen zu bekämpfen und illegale Einwanderung über Kontingente in legale zu verwandeln, damit die Aktivität der Schleuser unterbunden wird.

Für den Kurs, den Sie beschreiben, steht Angela Merkel. Wie groß ist Ihr Respekt vor der Haltung der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise?

MARX: Ich habe höchsten Respekt vor Frau Merkel und ihrer Politik, ihrem Mut und ihrer Bereitschaft, in dieser schwierigen Situation Verantwortung zu übernehmen. Sie handelt nicht blauäugig, sondern durchdacht. Politik bedeutet eben, nicht nur einfach Stimmungen zu folgen, sondern Zielen und Prinzipien.

Beten Sie dafür, dass Angela Merkel bei ihrem Kurs bleibt?

MARX: Ich bete für alle unsere Politiker. Seit der Zeit der ersten Christen gehört es dazu, dass wir für diejenigen beten, die uns regieren...

Immer mehr Anschläge auf Flüchtlingsheime, kaum ein Tag vergeht ohne Warnungen von Kommunalpolitikern vor Überforderung. Drei Viertel der Deutschen fürchten, dass noch mehr Flüchtlinge kommen – verschwindet die Willkommenskultur?

MARX: Das Wort “Willkommenskultur” hat inzwischen bei einigen schon fast einen negativen Unterton bekommen. Dabei ist es doch schön, wenn wir Menschen in Not nicht einfach im Stich lassen. Natürlich ist der Blick auf die Situation jetzt nach einigen Monaten mit so hohen Zahlen von Flüchtenden anders. Viele fragen sich inzwischen, wie das gehen soll, wenn weiter so viele Menschen kommen. Aber die Bereitschaft zu helfen, ist unverändert groß. Wir müssen uns jetzt bei denen, die bleiben, um gute Integration kümmern. Gelingt diese große Aufgabe, wird auch unser Land positiv bereichert werden können. Auch deshalb sollten wir uns alle Mühe geben.

Überrascht Sie das Ausmaß der Gewalt gegen Flüchtlingsheime?

MARX: Es hat in Deutschland leider immer ein gewisses Potenzial an Rechtsextremismus  und auch Rassismus gegeben. Diese Ideologie hat sich offenbar weiter verfestigt. Mich erschrecken diese Gewalt und die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge sehr. Es werden nicht nur Brandsätze geworfen. Es fängt viel früher an: Schon die Sprache verroht. Wir erleben Hetze gegen Fremde, bis in bürgerliche Kreise hinein. Der Firnis der Zivilisation ist offenbar doch nicht so dick wie immer gedacht.

Wie sehr haben die Ereignisse der Kölner Silvesternacht die Flüchtlingsdebatte verändert?

MARX: Diese Taten haben zu einem allgemeinen Erschrecken geführt und zu einer sehr aufgeregten Debatte. Übergriffe wie die von Köln müssen konsequent aufgeklärt und geahndet werden. Wer hier kriminell wird, muss bestraft werden oder auch, wenn möglich, unser Land verlassen. Aber viele Betrachtungen nach den Ereignissen von Köln waren mir zu schnell und zu pauschal. Natürlich gibt es kulturelle Unterschiede zwischen uns und Menschen aus Ländern des Orients oder Afrikas. Aber mit pauschalen Urteilen über andere Kulturen und Religionen sollten wir vorsichtig sein. Die überwältigende Zahl der Flüchtlinge bei uns in Deutschland will nichts mit den Tätern von Köln zu tun haben und verhält sich ja auch ganz anders, auch die Muslime. Pauschale Urteile lehne ich ab.

Die AfD schlägt derzeit kräftig Kapital aus der Flüchtlingskrise. Ist diese Partei gefährlich?

MARX: Überlegungen, an den Grenzen auf wehrlose Flüchtlinge zu schießen, sind inakzeptabel und menschenfeindlich. Parteien, die so etwas äußern, sind keine Alternative für Deutschland. Mir macht insgesamt Sorgen, dass der Rechtspopulismus bei uns immer weiter um sich greift. Es wird der Eindruck erweckt, als würde es angesichts des Zustroms der Flüchtlinge einfache Antworten geben. Aber einfache Antworten sind keine Lösung. Ich wünsche mir,  dass die Regierung, die ja eine große Koalition ist, zusammensteht und mit einer gemeinsam getragenen Politik die Menschen überzeugt.

Vergrößert der massive Flüchtlingszustrom die soziale Ungleichheit in Deutschland?

MARX: Auf diese Gefahr haben die Bischöfe schon im vergangenen Jahr in ihrem Hirtenwort hingewiesen. Flüchtlinge fangen in Deutschland ja in der Regel „ganz unten“ an, was Wohnen, Arbeiten, Ausbildung betrifft. Diejenigen, die hier bei uns schon seit längerem unter starkem sozialem und existentiellem Druck leben, sind verunsichert. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Flüchtlinge anderen, die auch nicht viel haben, etwas wegnehmen. Das würde die Spannungen in unserer Gesellschaft nur verstärken. Da ist der Sozialstaat gefordert, um Solidarität und Ausgleich zu ermöglichen.

Fluchtursachen bekämpfen heißt aus Sicht der Bundesregierung auch Kampf gegen den IS. Beteiligt sich Deutschland in Syrien an einem gerechten Krieg?

MARX: Die militärische Option ist immer die Schlechteste von allen. Militärisch lässt sich das Problem in Syrien und im Nahen Osten nicht nachhaltig lösen. Das wissen wir ja aus den Erfahrungen in Afghanistan und im Irak. Was passiert, wenn IS dort besiegt ist? Die entscheidende Frage wird sein, ob die Länder, die jetzt militärisch eingreifen, und die Staaten der Region den gemeinsamen Willen zu einem Frieden haben, der auf Solidarität und Gerechtigkeit ausgerichtet ist. Da bin ich skeptisch. Wer in einen Krieg hineingeht, der sollte wissen, wie er wieder herauskommt und was dann politisch folgen soll. Das kann ich bisher nicht erkennen.

Vor drei Jahren kurz nach seinem Amtsantritt hat Papst Franziskus die Flüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa besucht. Wie sehr hat er die Kirche seitdem verändert?

MARX: Es ist eine Menge geschehen. Natürlich gibt es immer einige, die sich mehr und anderes wünschen, aber aus meiner Sicht ist in den drei Jahren eine Menge passiert. Papst Franziskus setzt auf eine andere Sprache, andere Schwerpunkte. Natürlich will der Papst nicht die Kirche von einem Tag auf den anderen neu erfinden, aber er hat für Bewegung gesorgt. Franziskus wünscht sich Unruhe im Denken. Er will, dass wir in der Kirche aus unserer Selbstbezogenheit ausbrechen.

Wird es jetzt im Nachgang der Familiensynode zu gravierenden Veränderungen kommen?

MARX: Ich rechne nicht mit einschneidenden Veränderungen. Die Weltkirche kann sich nicht einfach an dem ausrichten, was wir hier in Deutschland für richtig halten. Aber es ist ein Wert an sich, dass wir uns bei der Synode so ausführlich mit den Themen Ehe, Familie und Sexualität beschäftigt haben. Ich hätte mir vielleicht noch mehr vorstellen können, aber Synode bedeutet eben, einen gemeinsamen Weg mit allen zu gehen. Der Abschlusstext jedenfalls war ein Schritt nach vorn. Ich denke, Papst Franziskus wird mit seinem Schreiben daran anknüpfen. Es geht darum, Vielfalt auch als etwas Positives zu erkennen und die Lebenswirklichkeit von Menschen anzunehmen. Das wird im Text sehr deutlich. Franziskus will, dass wir in der Kirche gemeinsam vorangehen und nicht am Ende Sieger und Besiegte da sind. So sollte die Kirche nicht sein.

Er sieht sich als "Papst vom Ende der Welt". Wie sehr interessiert er sich überhaupt für Deutschland?

MARX: Er hat großes Interesse an Deutschland. Schon allein, weil er hier als Priester einige Zeit verbracht hat. Franziskus verfolgt die politischen Entwicklungen bei uns genau und hat bereits zwei Mal intensiv mit der Bundeskanzlerin gesprochen. Er interessiert sich auch für Europa. In den letzten drei Jahren hat Franziskus mit großer Neugierde und Offenheit seinen Blick geweitet. Was er aus dem Amt macht, ist einfach unglaublich. Er denkt durchaus politisch, beeindruckt mit seinen Auftritten und Reden, und erkennt auch, was er mit seinen Reisen bewegen kann.

Wie lange wird ein Besuch in Deutschland noch auf sich warten lassen?

MARX: Ich würde mich freuen, wenn er kommt. Aber das ist seine Entscheidung. Die deutschen Bischöfe haben Papst Franziskus im vergangenen Jahr offiziell eingeladen.

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