21. Oktober 2020
Wie allgemein bekannt ist, begegnen nicht wenige römisch-katholische Christenmenschen, die noch wissen, woran sie glauben, dem medial verstärkten postmodernen Mainstream-Katholizismus mit gewissen Vorbehalten. Warum eigentlich?
Vor wenigen Tagen entdeckte ich einen bemerkenswerten Beitrag. Der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Alexander Grau warb kurz vor dem Weihnachtsfest 2017 im Magazin "Cicero" für das Kulturchristentum. Wer heute mit Zustimmung an das theologisch konzilsfremde Papier "Gemeinsam am Tisch des Herrn" denkt oder an die postmodernen Erneuerungswünsche etlicher Engagierter auf dem "Synodalen Weg", der wird vielleicht dankbar sein für diese beherzte Apologie des Kulturchristentums. Wir lesen in dem Artikel: "Nicht viele Menschen in Deutschland glauben noch an die metaphysischen Aussagen des Christentums. … Religion ist unvermeidbar. Deshalb gibt es keine menschliche Kultur ohne sie. Denn Religion stiftet kollektive Identität, sie legitimiert soziale Ordnungen und vermittelt Sinn. Selbst in Deutschland – nach offizieller Lesart einer der religiös unmusikalischsten Landstriche dieser Erde – gab es daher nie wirklich ein Verschwinden der Religion, sondern deren Transformation zu einem Kulturchristentum. Und das ist kein Verlust. Denn es sind letztlich die religiösen Traditionen und ihre kulturelle Prägekraft, die den Menschen Identität, Halt und Orientierung geben."
Diese "Transformation" mag man – etwa mit protestantischen Theologen wie Ernst Troeltsch, der solche Gedanken vor rund 100 Jahren hegte – als einen Fortschritt oder eine Entwicklung deuten. Philosophisch wäre vielleicht zu erwägen, ob der Glaube an den Jesus Christus, an den Gott, der Mensch geworden ist, gekreuzigt wurde, starb, begraben wurde und auferstanden ist, etwas mit luftiger Metaphysik zu hat. Wichtiger scheint mir die Frage zu sein, ob die Christen und alle jene Zeitgenossen, die sich Christen nennen, überhaupt noch mit dem lebendigen Gott ernsthaft rechnen. Grau schreibt, die "lebenspraktische Relevanz" des Christentums entstehe nicht durch ihren "behaupteten Transzendenzbezug", sondern vielleicht durch die Form, "wie dieser kulturell inszeniert wird: durch Liturgien, Bilder und Zeichen, durch eine spezifische Ästhetik, eine Lebenshaltung". Es gehe nicht um "theologische Spitzfindigkeiten": "Was Religionen ihre Identität verschafft und Glaubensgemeinschaften formt, ist ihre Kultur, ihre Kunst, ihre Gebräuche und ihre Mentalitäten, die sie über Jahrhunderte ausgeprägt haben und selbst denen einen inneren Halt geben, die an die transzendentale Erzählung nicht mehr glauben können oder wollen." Alexander Grau betont den Wert der "kulturellen Überlieferungen". Ich habe mich gefragt, als ich das las, ob ich den "Synodalen Weg" und vieles andere einfach falsch verstehe: Geht es um einen gutgemeinten Rettungsversuch für bestimmte Kulturpraktiken? Oder um eine Erneuerung der Kirche in Christus?
Es ist interessant, dass Grau auf eine Allensbach-Umfrage aus demselben Jahr verweist, dass viele Menschen ein "starkes Zugehörigkeitsgefühl zur christlichen Kulturtradition empfinden" – aber an Gott scheinen sie mehrheitlich nicht mehr zu glauben: "Wer behauptet, Deutschland sei ein entchristianisiertes Land und seine christliche Tradition belanglos und nicht mehr zeitgemäß, der missversteht Religion als ein Nachplappern von Glaubensformeln." Das Christentum sei in Deutschland noch immer ein "Identitätsanker". Wie geht es Ihnen damit? Über den Begriff Identität denke ich eigentlich nicht nach. Das ist mir einfach zu philosophisch. Ich weiß aber sicher, dass mir jede Form des Kulturchristentums zuinnerst fremd ist, aus einem einfachen Grund: Das wirkt auf mich aufgesetzt, künstlich und überflüssig. In Joh 17,16-18 lesen wir, dass die Gläubigen nicht "von der Welt", aber "in die Welt gesandt" sind. Wer diese Sendung ernst nimmt, verwechselt das Sakrament der Taufe nicht mit einem Wellness-Bad, angereichert mit wertvollem, parfümiertem Badeschaum, und die Botschaft des Evangeliums nicht mit den salbungsvollen Allerweltsweisheiten, die einen wohlschmeckenden Glückskeks begleiten. Mit einer ehemaligen Studentin von mir schlenderte ich vor vielen Jahren durch die adventlich beleuchtete Stadt. Ich werde nicht vergessen, was sie über die bunt illuminierte Puderzuckerwelt des Kulturchristentums lächelnd und ernsthaft sagte: "Diese ganze Deko hier brauchst du im Grunde auch nicht." Ein solchen klaren Blick für das Wesentliche wünschte ich mir in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland heute so sehr – nicht nur zur Advents- und Weihnachtszeit.
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