27. März 2021
Professor Dr. Raphael Maria Bonelli ist Leiter der Neuropsychiatrischen Forschungsgruppe an der Sigmund Freud Universität in Wien und Direktor des interdisziplinären und interreligiösen "Instituts für Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie" (RPP), das er 2009 mit dem Psychoanalytiker Walter Pieringer und dem Theologen Bernd Oberndorfer gegründet hat. Das Institut ging aus einer gleichnamigen, 2007 in Graz gestarteten Kongressreihe hervor und veranstaltet ohne eigene religiöse oder weltanschauliche Ausrichtung jährlich internationale Kongresse und Fachtagungen, auf denen Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie in einen wissenschaftlichen Dialog mit Philosophie, Theologie und Religionswissenschaft treten sollen.
Seit Jahren schon versuchte der renommierte Psychiater deshalb auch Erzbischof Georg Gänswein aus dem Vatikan als Referenten für einen Vortrag zu einer dieser Fachtagungen in Wien zu gewinnen. Viele Aufgaben des Erzbischofs als Präfekt des Päpstlichen Palastes und als Privatsekretär des emeritierten Papstes Benedikt XVI. im Kloster Mater Eccelisae ließen eine solche Begegnung bisher aus Zeitmangel nicht zu. Als das Institut die Tagungen im Jahr 2020 aber aufgrund der Coronavirus-Krise erstmals als online-Veranstaltungen ausrichtehte, änderte sich auch die Möglichkeit der Teilnahme Erzbischof Gänsweins.
Im Dezember 2020 sagte er Dr. Bonelli deshalb spontan einen digitalen Auftritt bei der Tagung "Krise & Chance" unter der Schirmherrschaft der Sigmund Freud Universität zu, wo er am 27. März vor einem internationalen und säkularen Publikum aus Ärzten, Psychologen, Psychotherapeuten sprach, das nach der Auskunft vieler Mitglieder der katholischen Kirche zum großen Teil skeptisch gegenüber steht.
Im Februar 2021 ließ Erzbischof Gänswein seinen Vortrag im Studio von EWTN in Rom aufzeichnen, dem er die Übertragung in dieser österlichen Zeit freundlich gestattet, wofür wir ihm herzlich danken.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie sind – im Gegensatz zu mir – alle Fachleute der Seele, wenn ich das recht verstehe. Umso herzlicher danke ich Professor Bonelli für seine Einladung, als Laie vor Ihrem Kreis sprechen zu dürfen, und kann mein Staunen doch kaum verhehlen, dass er sich mit seinem Anliegen ausgerechnet an mich gewandt hat.
Denn mein Beitrag für Ihre Tagung "Krise & Chance" soll sich ja dem Themenkomplex: "Wege aus der Angst" zuwenden und Fragen wie "Resilienzfaktor Religion?" oder "Macht uns der Glaube krisenfest?" für eine unsystematische kurze Reflexion darüber, welch stärkenden Trost der Glaube in dieser Zeit der Krise zu bieten hat, den die Welt sonst nicht geben kann.
Diese Auskunft erbitten Sie von mir allerdings in einer Zeit, von der Sie alle wissen, dass die katholische Kirche selbst in einer tiefen Krise steckt – mit einem schweren innerkirchlichen Dissens wie seit Jahrhunderten nicht mehr!
Wegen dieser Kirchenkrise aber und wegen aller Debatten darüber welche Wege womöglich aus ihr herausführen können – dürften Sie heute wohl von jedem Bischof in Deutschland verschiedene Antworten auf Ihre Anfrage erwarten, um von den vielen anderen Vertreterinnen und Vertretern der Kirche gar nicht zu reden.
Dass Sie aber ausgerechnet mich gefragt haben, kann deshalb auch nicht heißen, dass Sie eine quasi überparteiische Ansicht hören wollen, sondern dass Sie mich persönlich befragen. Das heißt, Sie erwarten offensichtlich so etwas wie ein Bekenntnis, und nachdem ich Professor Bonelli zugesagt habe, will ich Ihnen das nicht vorenthalten.
Dazu eine Vorbemerkung: Seit dem Jahr 2003 darf ich einem der größten Theologen des letzten Jahrhunderts als Sekretär dienen und bin doch selbst kein Theologe und habe kein einziges seiner Seminare besucht. Ich bin Priester, Kanonist also Kirchenrechtler, aber nicht unmittelbar in der Seelsorge tätig, was ich bei meiner Entscheidung für das Priestertum aber gerne getan hätte.
Wenn ich nun von meiner seelischen und physischen Widerstandskraft reden soll, muss ich ehrlicherweise gestehen, dass ich inzwischen auch die Grenzen dieser Kraft immer mehr wahrnehme, und dass sie weniger akademisch ausgebildet wurde, sondern sich vor allem meiner Kindheit und meinem Elternhaus verdankt.
Deshalb dürfen Sie im Folgenden von mir vor allem ein Plädoyer für den "Kinderglauben" erwarten. Und ich frage mich: Wäre das auch so, wenn ich in einer jüdischen oder muslimischen Familie großgeworden wäre? Das kann ich mir vorstellen. Auf meine spezifisch katholische Prägung werde ich deshalb später noch näher eingehen müssen.
Dies vorab gesagt, möchte ich Sie in meinen Gedanken über die Widerstandskraft in der Krise zunächst an etwas erinnern, was Sie ohnehin wissen: Dem Begriff der Krise (κρίσις) liegt das altgriechische Verb κρίνειν für "trennen","scheiden", "unterscheiden" und "entscheiden" zugrunde. Und da wird gleich offenbar, dass wir uns heute alle wie abgetrennt von der Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie im Januar 2020 erleben. Die weltweite Bedrohung hat zu einer Zeit der Scheidung und Entscheidung geführt, nach der unsere Lebenswelten wie nach einer Weggabelung auf anderen Wegen weitergehen werden als zuvor, und zwar unabhängig von allen Kulturkreisen, Religionen oder Nationen.
So wird der Begriff Krise aber auch zu einem unerwarteten Bindeglied zwischen Ihnen und mir und zwischen der katholischen Kirche und der säkularen Welt. Denn gerade erlebt ja gleichsam die ganze Welt, was die katholische Welt schon seit Jahren erfährt. Ausgerechnet in ihren Krisen treffen sich die katholische Kirche heute mit den kirchenfernsten Milieus überhaupt – in einem ähnlichen Schock über den Abgrund in der Wahrnehmung des Missbrauchs mancher Amtsträger und über den Abgrund einer tödlichen viralen Bedrohung der Menschheit.
Lassen Sie mich deshalb, bevor ich auf die Resilienz zu sprechen komme – mit einer Beobachtung zur Krise der Kirche beginnen:
Nach 2000 Jahren im Umgang mit der Sünde trifft die Kirche seit etwa der Jahrtausendwende die Erkenntnis des Missbrauchs aus unseren Reihen wie nie zuvor. Sexueller Missbrauch ist durchaus kein Alleinstellungsmerkmal der Kirche, wie Sie wissen, doch ich verstehe und teile die Empörung, wenn sich Priester dieses Delikts schuldig machen; es ist und bleibt verabscheuungswürdig.
Dennoch war sich die Kirche seit Beginn ihrer Geschichte immer bewusst, dass sie von Anfang an aus sündigen und schwachen Menschen besteht seit Simon aus Betsaida, dem Freund Jesu, von dem der Evangelist Matthäus schreibt, dass dieser Apostel nach der Verhaftung seines Herrn schrie und tobte, er kenne "diesen Menschen" nicht. Dennoch war es gerade dieser Simon, den Jesus zuvor in "Petrus oder Kephas", d.h. Fels umbenannt hatte, weil er das "Fundament" seiner Kirche sein sollte. So gründete Jesus Christus die Kirche als eine Gemeinschaft brüchiger Menschen und nicht aus Engeln oder Feen und Fabelwesen. Damit soll hier nichts beschönigt oder gar den Opfern unter uns weniger Respekt gezollt werden, den sie so sehr verdienen. Sünde und Verbrechen gab es dennoch schon immer in der Kirche! Von großen Künstlern etwa, die am Petersdom entscheidend mitgearbeitet haben, war es nie ein Geheimnis, das sie auch große Sünder waren.
Jetzt aber traut sich von all dem kaum jemand offen zu reden. Dennoch bleibt es dabei: Das Bewusstsein um das "mysterium iniquitatis", um das "Geheimnis des Bösen", gehört seit den Tagen der Apostel zum Grundbestand des Glaubens der Kirche Christi.
Dazu kommt allerdings noch etwas: Zu allen Zeiten gab es in der Kirche schon immer auch Heilige, und zwar immer gleichzeitig mit den Verbrechern, wie in unserer Zeit: der Zeit Mutter Teresas aus Kalkutta und der Zeit Kardinal McCarricks in Washington. "Die größte Verfolgung der Kirche kommt nicht von den äußeren Feinden, sondern erwächst aus der Sünde in der Kirche", sagte Papst Benedikt am 11. Mai 2010 auf seinem Flug nach Fatima. So ist es – und ohne rot zu werden ist heute hinzufügen, dass selbst Heilige die Verbrecher in ihrer Nähe oft nicht erkannt haben, wie der heilige Johannes Paul II. den Ordensgründer und Missbrauchstäter Marcial Maciel Delegado nicht erkannt hat. Heilige sind keine Hellseher oder Zauberer.
Während ich diese Zeilen zu Papier bringe, erfahren wir gerade neu, dass es eben auch Menschen gibt, in deren Seelen neben dem Heiligen auch Dämonisches hervorbricht, wie es wohl bei Pater Werenfried van Straaten der Fall war, dem großen flämischen Versöhner, der die Heimatvertriebenen Deutschlands im Hungerwinter 1947 von Belgien aus mit Lebensmitteln versorgt hat, als unser besiegtes Vaterland, der ehemalige Erzfeind unter den Völkern Europas, ausgeblutet am Boden lag. Und jetzt erfahren wir, dass dieser gleiche Pater im Jahr 1973 eine Frau gegen deren Willen zum Sex gezwungen hat. Ist sein tätiges Werk vielfältiger Versöhnung deshalb entwertet? – Die Bibel hält in unerhörtem Realismus und ganz ungeschminkt fest, wie der große König David seinem Freund Urìa auf abscheuliche Weise eine tödliche Falle stellte, um seinen eigenen Ehebruch mit dessen Ehefrau Batseba zu vertuschen. – "Cor hominis abyssus" erkannte Aurelius Augustinus, der große Bischof von Hippo im heutigen Algerien, schon im 4. Jahrhundert wie ein erfahrener Therapeut: "Das Herz des Menschen ist ein Abgrund".
Doch jetzt ist es oft, als fielen wir aus allen Wolken, wo und wenn wir genau mit diesem Abgrund konfrontiert werden.
Zur globalen Krise durch das Corona-Virus muss ich vor Ihnen nichts mehr hinzufügen, was nicht schon tausendfach gesagt wurde. Die Bedrohung durch das Virus ist in der Lage, auf Dauer und nachhaltig gerade das zu vergiften, was wir normalerweise mit erfülltem Leben identifizieren: unbeschwerte Begegnungen, Gemeinschaft, menschliche Nähe, Feste, Handel und Wandel. Persönlich, muss ich sagen, sind wir im Monastero Mater Ecclesiae in den Vatikanischen Gärten auf privilegierte Weise von all dem nicht allzu sehr betroffen. Denn es ist für uns ja fast, als hätte Papst Benedikt mit seinem Rücktritt vor acht Jahren gleichsam einen experimentellen Lockdown für uns beschlossen. Doch ich bin natürlich über viele Stimmen unterrichtet, wie schlimm es zahllosen anderen Menschen geht. Ich habe von einem Massenandrang bei Psychotherapeuten gelesen, von gewaltigen Kollateralschäden und alarmierenden Suizidzahlen gehört, die streng tabuisiert werden, und erkenne an den Dauerdebatten in den Medien, dass eine befriedigende Antwort nicht in Sicht ist, wie politisch und gesellschaftlich angemessen auf diese Not zu reagieren sei.
Klar wird heute, im Februar 2021, nur wie schon lange nicht mehr, dass sich unsere Welt von uns Menschen nicht so beherrschen lässt, wie wir uns das mit all unserer Weisheit und Wissenschaft gemeinhin gern einbilden und wünschen mögen.
Nach über 70 Jahren Frieden zumindest in Europa und bei wachsendem Wohlstand hätte uns diese Krise jedenfalls nicht unvorbereiteter treffen können. Als das Virus der "Spanischen Grippe" von 1918 bis 1920 in nur zwei Jahren über 50 Millionen Menschen dahinhinraffte, hat sie die Menschen, wie ich das sehe, ohne alle Lockdowns und Masken und Impfdebatten nicht halb so geängstigt wie heute die Covid19-Pandemie. Vielleicht sehe ich das auch falsch und habe es einfach nicht genug studiert. Jedenfalls habe ich weder im Geschichtsunterricht noch an der Universität je wesentlich anderes über jene Epoche gehört, die sich für die Aufmerksamkeit der Nachgeborenen vor allem nur immer durch den Ersten Weltkrieg oder die politischen Revolutionen und Umwälzungen jener Jahre eingeprägt hat. Vielleicht ging die damalige Generation durch die große "Vorschule des Todes" im Ersten Weltkrieg mit der Pandemie der Spanischen Grippe ja auch einfach nur anders und beiläufiger um, nachdem in den Jahren von 1914 bis 1918 das Grauen des Krieges aus Menschenhand rund 20 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Doch das müssen wir uns vor Augen halten: Die etwa zwei Jahre lang grassierende Virus-Seuche kostete damals mehr als doppelt so vielen Menschen das Leben wie unmittelbar davor der vier Jahre dauernde Weltkrieg! Sollten wir uns da in der heutigen Pandemie nicht glücklich schätzen ohne dieses apokalyptische Vorspiel zu der heutigen Menschheitskrise?
Eigentlich ja, aber wir tun es nicht. Wir schauen heute nicht, wenn ich das recht sehe, gelassener als die Menschen von 1918 bis 1920 auf das bedrohliche Virus. Lag es vielleicht daran, dass die Völker damals grosso modo noch stärker in der Religion und deren Tröstungen und Resilienz beheimatet waren? Ich weiß es nicht. Aus meiner Familiengeschichte weiß ich nur, dass in der Generation meiner Großeltern auch der Tod in gewisser Weise noch einfach als "Teil des Lebens" wahr- und angenommen wurde.
Was heute hingegen die säkulare Gesellschaft mit ihren Politikern und die katholische Kirche mit ihren Bischöfen in diesen Krisen verbindet, ist vielleicht wie selten sonst das Empfinden ihrer Ohnmacht. Es ist eine Ohnmacht der Sünde gegenüber und eine Ohnmacht dem Virus gegenüber, als wären sie verwandte Bedrohungen. Und in mancher Hinsicht erinnern mich viele Bemühungen in der Kirche, der Sünde des Missbrauchs Herr zu werden an die hektischen Bemühungen der säkularen Welt nach einem ultimativen Impfstoff. Soviel zu dem Wort und dem Begriff der κρίσις an dieser Stelle.
Danach will und muss ich hier – als katholischer Priester – aber nun auch noch an ein zweites altgriechisches Wort aus dem Fundament unserer gemeinsamen Kultur erinnern. Das ist der Ausdruck λόγος für das "Wort", in einem sehr großen Bedeutungsspektrum, wie wir in der Bibel erfahren, dem Weltkulturerbe par excellence, die auf verschiedene Weise für Juden und Christen als verbindlich und "heilig" gilt, und die sich für Christen in das von ihnen so genannte Alte Testament mit 52 jüdischen Schriften gliedert und in das Neue Testament, mit 27 christlichen Texten, die alle in dieser jüdischen Welt entstanden sind.
"Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", heißt es im allerersten Buch der Bibel. Am Ende der christlichen Bibel aber beginnt dann der Evangelist Johannes sein Evangelium mit den Worten: "Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott" – um kurz danach fortzufahren mit: "Und das Wort ist Fleisch geworden".
Diesen letzten Satz dürfen Sie gleichsam als Grundstein aller christlichen Kultur überhaupt verstehen, weil der Begriff "Logos" im jüdischen Kontext des Evangelisten Johannes auch paradigmatisch für den hebräischen Begriff "Tora" steht, der im Deutschen meist als "Lehre", "Weisung" oder "Gesetz" übersetzt wird. Denn die Tora umfasst die ersten fünf Bücher der Bibel, mit allen verbindlichen Gesetzestexten des Judentums.
Johannes sagt also: all diese Texte, das ganze göttliche Gesetzeswerk, habe in Jesus die Daseinsweise der Schrift verlassen und sei in Jesus von Nazareth Mensch und lebendig geworden. Denn in ihm habe sich der allmächtige Schöpfergott wie nie zuvor entäußert. In der Person Jesu Christi habe sich Gott selbst für immer verbindlich gezeigt und mitgeteilt.
Von all dem wusste meine Mutter wohl nur wenig oder bewusst noch nichts, die mich dennoch von Kindesbeinen an quasi in diesem Sinn gebadet hat, weil ich aus ihrem Mund erstmals das Gebet vom "Engel des Herrn" gehört habe. Das ist der traditionelle "Angelus Domini", in dem die "Menschwerdung Gottes" als zentrales Geheimnis der Christenheit gepriesen wird, mit dem Moment, in dem der Erzengel Gabriel an Maria herantritt, um der noch nicht verheirateten Jungfrau zu verkünden, dass sie vorehelich schwanger und einen Sohn gebären würde. Es war also ein Versprechen in höchst prekären Umständen, um wenig zu sagen. Das Gebet vom "Engel des Herrn" geht auf eine Anregung des Franziskaner-Generals Bonaventura aus dem Jahr 1263 zum Läuten der Abendglocken zurück und wurde in seiner heutigen Form im Jahr 1571 von Papst Pius V. festgelegt – nach dem Abwehrsieg über die Eroberungspolitik der Osmanen in der Schicksals-Seeschlacht von Lépanto.
"Der Engel des Herrn" ist ein klassisches Gebet, das der Katholik täglich spricht, dreimal wenn möglich, und das Papst Franziskus Sonntag für Sonntag um Punkt 12.00 Uhr hoch über dem Petersplatz vom Fenster des Apostolischen Palastes der ganzen Christenheit vorspricht.
Denn es ist quasi ein Gebet über die Herzmitte des christlichen Glaubens an die "Menschwerdung Gottes", von der Joseph Ratzinger vor über 50 Jahren in seinem Buch "Glaube und Zukunft" schrieb: "Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluss oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt: Jesus Christus."
Das Christentum ist also keine Buchreligion wie der Islam und in gewisser Hinsicht auch das Judentum. Die katholische Kirche lebt vor allem in ihrem Blick auf Jesus von Nazareth und sie löst sich da auf und verkümmert, wo sie ihn aus dem Blick verliert.
Ihre Ursprungsfrage nach der Resilienz aus dem katholischen Glauben könnte ich also gelassen mit einem Satz beantworten: Ja, dieser Glaube macht widerstandsfähig. Er macht widerstandsfähig gegen jede Angst und zwar zunächst durch die Sakramente der Eucharistie und der Beichte, die für Katholiken als "Heilszeichen" gelten.
Die Eucharistie dürfen Sie sich dabei vorstellen als so etwas wie die physische Vereinigung mit Gott, und das Sakrament der Beichte als einen Ort und Moment der Freiheit und Wahrheit in der konkreten Erkenntnis der eigenen sündigen Natur vor Gott.
Beide Sakramente sind Kraftquellen der Resilienz als gleichsam göttliche Medizin. Die Eucharistie feiere ich jeden Morgen gemeinsam mit dem emeritierten Papst in unserer Hauskapelle und zur Beichte gehe ich etwa alle drei Wochen. Dazu aber macht der katholische Glaube noch besonders widerstandsfähig durch sein ganz besonderes Gebet!
Das muss ich ein wenig erläutern. Das Gebet ist für Priester zunächst das für sie verpflichtende Brevier, zu deutsch "Stundengebet", wie es von Mönchen und Nonnen und in Klöstern entwickelt wurde, mit Psalmen und anderen Texten der großen jüdischen und christlichen Gebetskultur.
Und es ist zuerst das "Vaterunser", das Jesus selbst uns gelehrt hat, oder das christliche Credo von Nizäa aus dem Jahr 325, das den Glauben der Christen wie unter einem Brennglas verdichtet. Ein Versuch allerdings, Ihnen diese beiden Texte so gut ich kann auszulegen, würde meinen Vortrag unweigerlich sprengen und in eine Predigt umschlagen lassen, wozu Sie mich aber nicht eingeladen haben.
Gestatten Sie mir dafür bitte die Freiheit einer persönlichen Erinnerung. Am 19. Februar 2015, also jetzt vor sechs Jahren, ist mein Vater Albert in meiner Heimat im Schwarzwald mit fast 94 Jahren gestorben, von dem ich gar nicht sagen kann, wie sehr er mich geprägt hat. Wenn ich an ihn denke, habe ich heute noch den Geruch verbrannten Horns in der Nase, wie damals, als ich ihn als Kind in seiner Schmiede dabei beobachtete, wie er Pferde mit neuen glühenden Hufeisen beschlagen hat. Zeit seines Lebens habe ich zu ihm hochgeschaut. Meine Mutter Gertrud ist sechs Jahre vor ihm gestorben. Doch seit dem Tod meines Vaters ist mir zunehmend, als wäre mir der zurückgetretene Papst Benedikt zu einem neuen Vater geworden, wie es wohl nie hätte geschehen können, wäre er im Amt geblieben. Das geschieht in einer immer stärker wachsenden Vertrautheit, wie wir sie zuvor so nicht erlebt haben, wenn wir Nachmittag für Nachmittag gemeinsam in den Vatikanischen Gärten im Rosenkranz-Gebet unseren Herrn und Erlöser Jesus Christus betrachten. Es ist ein Gebet, in dem ich Gott immer wieder als Immanuel erkenne, das heißt, als einen "Gott-mit-uns", in Kongruenz zu den Erfahrungen meines eigenen Lebens, das ich so, wie es sich entfaltet hat, doch niemals hätte planen können.
Das heißt, an jedem Tag erfahren wir in diesem Rosenkranzgebet abwechselnd, wie leise und verborgen Gott meist handelt – an der Welt und an mir, wie verlässlich und wunderbar und unberechenbar Er seine Wunder tut, wie Er uns in jedem Leid und Schmerz immer voraus und immer bei uns ist, und wie schließlich unsere Existenz von Seiner Sphäre und Seinem Sinn gleichsam überwölbt werden.
Über all dies brauchen wir dann später am Abend gar nicht mehr eigens zu reden und tun es auch nicht. Diese Gebete sind in unserem Monastero Mater Ecclesiae so selbstverständlich wie das Atmen geworden. Sie nehmen Angst, immer wieder neu, gar keine Frage. Das beständige Schauen auf Gott in Jesus Christus stärkt meine Widerstandskraft mehr als jede Medizin. Und ganz offensichtlich haben diese Gebete auch Benedikt XVI. Widerstandskräfte zuwachsen lassen, die er sich nie hätte träumen lassen. Als er im Frühjahr 2013 zurücktrat, war ihm und mir – das darf ich hier gestehen – als hätte er nur noch einige Monate vor sich, aber keine acht Jahre mehr. Nun ist alles ganz anders gekommen.
Da werden sich manche unter Ihnen sicher auch fragen, was ein Gebet für mich überhaupt ist und worum ich denn überhaupt bitte und bete. Darauf kann ich nur antworten, dass meine Gebete, je älter ich werde, immer absichtsloser werden, ohne jedes warum und wozu. Das war natürlich nicht immer so.
Und da werden Sie natürlich auch wissen wollen, welche Widerstandskraft mir überhaupt durch den Sinn geht, wenn Sie mich danach fragen. Kraft wofür und Widerstand wogegen?
Angst ist in der Tiefe wohl nichts anderes als die elementare Furcht aller Kreatur vor dem Tod, mit existentiellen Fragen wie diesen: Was wird aus uns, was wird aus mir? Was ist der Tod, und was kommt danach? Auch mich bewegen diese Fragen natürlich, je älter ich werde, immer mehr. Es sind die Fragen nach dem Ewigen Leben und dem Tod, die gewiss zum depositum fidei, das heißt zum Glaubensgut der Christenheit, gehören, seit wir begonnen haben, daran zu glauben, dass Jesus Christus durch seine Auferstehung aus dem Grab den Tod für immer überwunden hat. Den Tod fürchte ich offen gestanden nicht, Bange wird mir aber etwas im Ausblick auf das Sterben. Das muss ich frei gestehen. Hier sieht man, dass ein gewisser Zweifel den Glauben auf Schritt und Tritt als treuer Zwilling begleitet. Es ist, um es deutlich zu sagen, die Versuchung, von diesem anspruchsvollen Glauben abzufallen, den Verlockungen eines billigen Nihilismus zuliebe, den ich als die große und verbreitete Kontrastreligion zum katholischen Glauben verstehe, als ein gleichsam schwarzes Loch, das jede Wahrheit und jeden Sinn der Existenz verschlingt mit der irrigen Überzeugung, dass uns nicht Gott, sondern das Nichts umfängt.
Hier breche ich ab, um zu einem letzten, abschließenden Gedanken zu kommen.
Oft wundere ich mich über die selbstverständliche existentielle Zuversicht, die aus Kirchenliedern aus der Zeit des 30-jährigen Krieges zu uns spricht, etwa von dem Jesuiten Friedrich von Spee (1591-1635) oder dem evangelischen Theologen Paul Gerhardt (1607-1667). Es war eine grausame Epoche, wo der Glaube an Christus unter den zerstrittenen Katholiken und Protestanten dennoch als das Allerselbstverständlichste der Welt erschien. – Heute hingegen sind wir immer wieder auf fast törichte Weise stolz, modern zu sein. Modern waren diese Menschen aber auch. Unser Zeitalter fing quasi mit ihnen an. Folgende Zeilen eines Kirchenlieds von Georg Neumark gehen mir deshalb noch heute unter die Haut, der im Jahr 1641 gegen Ende dieses verheerenden Krieges dichtete: "Was helfen uns die schweren Sorgen? / Was hilft uns unser Weh und Ach? / Was hilft es, dass wir alle Morgen / Beseufzen unser Ungemach? / Wir machen unser Kreuz und Leid / Nur größer durch die Traurigkeit."
Beenden möchte ich meine kleine Confessio vor Ihnen deshalb nicht sehr originell mit einem berühmten Wort des Aurelius Augustinus. Dieser Bischof war gar nicht modern. Er war im Gegenteil ein noch ganz und gar antiker Mensch, von dem uns viele Zeitalter trennen. Doch er war ein Mensch unserer Gattung und hat schon das gleiche Glaubensbekenntnis von Nizäa wie wir gebetet und hat mit seinem Glauben die katholische Kirche für Jahrhunderte gegen die Viren der Barbarei geimpft. Der Zuversicht, die uns aus den Kirchenliedern des Barockzeitalters so oft entgegenschlägt, hat Augustinus um das Jahr 400 zu Beginn seines berühmten Bestsellers "Confessiones" eine Hoffnung und Sehnsucht vorangestellt, in der auch ich mich heute ganz und gar wiederfinde, wo er schreibt: "Auf dich hin, oh Gott, hast du uns geschaffen, und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir."
Ich danke Ihnen.
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