24. September 2018
Wer über Verhältnisse in der katholischen Kirche wissenschaftlich arbeitet, muss besonders darauf achten, nur als wissenschaftliche Ergebnisse auszugeben, was sich mit Daten seriös belegen lässt. Das ist in der MHG-Studie leider spektakulär misslungen.
Offensichtlich ist man der Versuchung erlegen, eine Studie mit schwacher Datenbasis dadurch öffentlich zu platzieren, dass man – ohne Datenbasis – die üblichen kirchenkritischen Themen raunend oder dezidiert anspricht, was sofort für öffentliche Aufmerksamkeit sorgt. Darüber hinaus hat man dann noch über eine für wissenschaftliche Veröffentlichungen absurde Geheimhaltungsstrategie das öffentliche Interesse zum Sieden gebracht – und den verständlichen journalistischen Ehrgeiz geweckt, das Geheimnis zu lüften. So ist nun eine Studie, die kaum einer kennt, in aller Munde.
Wer die ganze Studie dann liest, ist befremdet vom unwissenschaftlichen Stil weiter Passagen, von feuilletonistischen und anekdotischen Bemerkungen und vom fast vollständigen Mangel an wissenschaftlich-kritischer Diskussion der Ergebnisse.
Das Missglücken der Studie hat auch mit ihrer Geschichte zu tun. Im Jahre 2011 entschloss sich die Deutsche Bischofskonferenz zur wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Die führenden deutschen forensischen Psychiater Leygraf, Kröber und Pfäfflin wurden beauftragt, alle Tätergutachten aus den Jahren 2000-2010 auf die Frage hin zu untersuchen, ob sich daraus Konsequenzen für den Umgang der Kirche mit dem Missbrauchsthema ergäben. Diese Studie, die alle Tätergutachten aus fast allen deutschen Diözesen berücksichtigen konnte, also nahe an Repräsentativität heranreichte, erschien bereits 2012 und gab gute handlungsrelevante Hinweise. Allerdings gab sie sich streng wissenschaftlich, verzichtete auf Spekulationen, referierte nur den Stand der Forschung und gab die erhobenen Daten und ihre wissenschaftliche Diskussion wider. Das erregte damals allerdings kaum öffentliche Aufmerksamkeit.
Dagegen hatte sich Professor Christian Pfeiffer selbst der Bischofskonferenz als jemand empfohlen, der eine hohe Medienpräsenz habe. Er wolle alle Akten aller Diözesen erforschen und sei sich jetzt schon gewiss, dass dabei herauskommen werde, dass der Zölibat bei Missbrauch ein protektiver Faktor sei. Obwohl führende Wissenschaftler dringend von der Bestellung Pfeiffers abrieten, der in Fachkreisen als unseriös galt, ging die Bischofskonferenz wohl in der Hoffnung auf gute mediale Effekte auf das Angebot Pfeiffers ein. Erst nach zwei Jahren merkte man dann, auf was man sich eingelassen hatte und beendete die Zusammenarbeit. Bei dieser Gelegenheit bewies Pfeiffer seine Behauptung, über eine starke mediale Wirkung zu verfügen, indem er es tatsächlich erreichte, die eigentlich unspektakuläre Beendigung einer Zusammenarbeit zu einem erstrangigen Medienereignis zu machen.
Die Bischofskonferenz war jetzt in einer Zwickmühle. Die Bedenken bezüglich des Pfeiffer-Projekts aus Wissenschaftskreisen lagen ja nicht nur an den Bedenken bezüglich der wissenschaftlichen Seriosität von Pfeiffer, sondern auch an der Fragwürdigkeit seines Projekts. Man wusste bereits, dass die Datenbasis äußerst fragmentarisch sein musste, da sich herausgestellt hatte, dass viele Akten routinemäßig oder mit Vertuschungsabsicht vernichtet worden waren. Außerdem gab es Datenschutzprobleme und schließlich fragte man sich, was man für heute und morgen aus Einsichten lernen könnte, die die 50-er Jahre betrafen. Doch man brauchte einen so langen Zeitraum, um überhaupt an ein gewisses Quantum an Daten zu kommen. Für heute und morgen war die Leygraf-Studie eigentlich entscheidend, da sie auf stundenlangen gründlichen fachärztlichen Untersuchungen jetziger Täter beruhte und nicht auf unsicher interpretierbaren Aktennotizen. Doch die Bischofskonferenz war jetzt im Zugzwang, denn Professor Pfeiffer behauptete mit großer öffentlicher Anteilnahme, die Kirche wolle vertuschen und habe deswegen sein verdienstvolles Projekt sabotiert. Deswegen hielt man an dem Projekt fest, veranstaltete eine Ausschreibung, zog dafür einen wissenschaftlichen Beirat heran, und den Zuschlag erhielt ein Konsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen, das nur teilweise einschlägig kompetent war.
Wie schon bei dem Pfeifferprojekt, reicherte man die Aktenstudie mit anderen „Teilprojekten“ an, wohl damit die fragwürdige Datenbasis nicht allzu deutlich wurde. Diese Teilprojekte stehen weitgehend unverbunden nebeneinander, konnten deswegen auch schon teilweise publiziert werden und sind von sehr unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität und ebenso sehr unterschiedlicher Relevanz. Da ist das
Teilprojekt 1, das vor allem einfach nur beschreibt, wie man an die Daten gekommen ist, aber auch, was die Diözesen bisher unternommen haben.
Teilprojekt 2 besteht aus Interviews mit mehr oder weniger zufällig gefundenen Betroffenen, Beschuldigten und nicht Beschuldigten (als Vergleichsgruppe). Naturgemäß sind die Aussagen dieses Teilprojekts nicht repräsentativ und daher kaum verwertbar.
Teilprojekt 3 ist dagegen wirklich aussagekräftig, weil hier versucht worden ist, systematisch mit hohem Aufwand an alle irgendwie erreichbaren Strafakten zu kommen und diese zu analysieren.
Teilprojekt 4 fällt dagegen wieder in seinem wissenschaftlichen Niveau stark ab, weil es zwar eigentlich um die „Analyse von Präventionsaspekten und kirchlicher Präventionsarbeit“ hätte gehen sollte. In Wahrheit referiert dieses Teilprojekt vor allem die Forderungen der befragten Präventionsbeauftragten nach mehr Stellenkontingenten und mehr Wertschätzung. Das Teilprojekt versäumt es aber, die inhaltliche Validität der Präventionskonzepte wissenschaftlich zu prüfen. Das Motto ist: „So viel wie möglich“, aber nicht „so gut wie möglich“.
Teilprojekt 5 betrifft eine „Systematische Literaturübersicht zum sexuellen Missbrauch in Institutionen und Metaanalyse zu Präventionsevaluationen“. Dieses Teilprojekt ist wissenschaftlich wieder sehr sauber recherchiert und auch interessant, belegt vor allem immer wieder, dass die MHG-Studie nichts Neues zeigt, lässt aber gewisse Mängel in der kritischen Diskussion von Studienergebnissen erkennen.
Das Teilprojekt 6 ist dann der Kern des Ganzen. Hier sind die Ergebnisse der Aktenanalyse aus allen Diözesen Deutschlands aufgeführt. Leider ist dieses Kernstück der MHG-Studie das wissenschaftlich Bedenklichste. Es beginnt schon bei der Würdigung der Daten. An keiner Stelle wird auch nur diskutiert, dass die jetzt durch die Medien gehenden 1670 beschuldigten Kleriker eben gerade keine „Täter“ sind. Wie sich aus den gemeldeten Zahlen einer Diözese ergibt, waren dort 6 % der gemeldeten Fälle staatsanwaltlich dokumentierte Falschbeschuldigungen und 34% der gemeldeten Fälle „Aussage-gegen-Aussage-Situationen“, wo man es aus welchen Gründen auch immer versäumt hatte, die Beschuldigungen wissenschaftlich korrekt zu klären. Nur in 60% aller genannten Beschuldigungen ist also die Beschuldigung zweifelsfrei bewiesen. Das stützen auch die Daten von Teilprojekt 3, in dem weitgehend repräsentativ Strafakten gesichtet wurden. Dabei ergaben sich nur in 31% der Fälle am Ende Verurteilungen und in 21% Freisprüche oder Einstellungen des Verfahrens wegen mangelndem Tatverdacht. Würde man die Diözesanzahlen auf die Grundgesamtheit übertragen, blieben 1020 zweifelsfrei bewiesene Fälle. Deswegen ist auch die Verwendung des Hellfeld-Begriffs in der Studie falsch. Es geht bei alldem nicht um irgendeine Verharmlosung, jeder Fall ist entsetzlich, es geht darum, dass eine wissenschaftliche Studie Daten korrekt wiedergibt und vor allem wissenschaftlich diskutiert. Außerdem ist es zwar ganz korrekt, in der Präventionsarbeit darauf hinzuweisen, dass auch unangemessene Körperberührungen, die nicht strafbar sind, einen unguten oder sogar traumatischen Effekt auslösen können. Dennoch muss eine wissenschaftliche Studie klären, wie viele Taten aus der genannten Gesamtzahl gegebenenfalls ausschließlich unangemessene Körperberührungen betreffen. Immerhin ist das, wie die Studie feststellt, die prozentual größte Gruppe der Missbrauchshandlungen mit 29,5%. Allerdings sind da auch Mehrfachnennungen möglich und wenn jemand vergewaltigt wurde, gab es da natürlich auch „unangemessene Berührungen Betroffener über der Kleidung“. Es ist der Studie aber nicht zu entnehmen, in wie vielen Fällen es sich ausschließlich um solche Berührungen handelt. Es ist aus wissenschaftlicher Sicht problematisch, wenn eine solche Körperberührung genauso gewertet wird wie eine Vergewaltigung. Über diese wissenschaftlichen Mängel in der Datenpräsentation hinaus gibt es völlig unbelegte kühne Forderungen, die den gängigen Forderungen an die katholische Kirche entsprechen und die die Studie wohl für die Öffentlichkeit besonders interessant machen sollen. Man kann solche Forderungen stellen, man kann sie auch begründen, aber in einer wissenschaftlichen Studie muss man sie wenigstens rudimentär mit Daten belegen können. Das ist aber in der MHG-Studie nicht der Fall, schon weil die Datenbasis so brüchig ist. Es gibt aber auch darüber hinaus so viele andere Fehler, die unten dargelegt werden, dass man sich die Frage stellt, wer das wissenschaftlich kontrolliert hat.
Im Teilprojekt 7 konnten sich Betroffene anonym an eine Hotline wenden. Diese zufällige Auswahl von Aussagen, deren Wahrheitsgehalt naturgemäß nicht überprüft werden konnte, erbringt nur sehr begrenzte Einsichten. Das wird wieder wissenschaftlich überhaupt nicht ausreichend diskutiert. Streng genommen geht es hier gar nicht um Wissenschaft, sondern die Autoren machen sich zum Sprachrohr von Menschen, die sich nicht hinreichend gehört fühlen. Das ist sicher verdienstvoll, aber damit noch kein wissenschaftliches Projekt. Natürlich melden sich da vor allem Menschen, die mit Recht tief enttäuscht sind von der Kirche und es ist erschütternd zu lesen, mit wie vielen von ihnen niemand angemessen gesprochen hat.
Der wissenschaftliche Tiefpunkt des Ganzen ist aber die Zusammenfassung, die nicht, wie sonst bei Studien üblich, am Ende steht, sondern am Anfang, wohl auch, um die Aufmerksamkeit gleich auf die angeblich spektakulären Ergebnisse zu richten und damit den größten Medieneffekt zu erreichen – was ja auch gelungen ist. In diese Zusammenfassung sind offensichtlich so gut wie alle wissenschaftlich unbelegten, aber populären Forderungen eingegangen. Es bleibt dabei unklar, wer die Verantwortung für diese Zusammenfassung übernimmt. Man kann sich eigentlich nicht vorstellen, dass irgendein Wissenschaftler so etwas schreibt.
Nun aber noch einmal zu den Teilprojekten im Einzelnen:
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Teilprojekt 1:
Eine erstaunliche Erkenntnis ist tatsächlich ganz am Anfang, dass die Diözesen nicht in der Lage waren, die Gesamtzahl der in ihrem Bereich tätigen Kleriker für den Untersuchungszeitraum zu nennen. Das ist für die Studie misslich, weil jetzt sogar die Grundgesamtheit, auf die man sich beziehen wollte, unbekannt bleibt. Die Aktenführung in den Personalabteilungen muss zum Teil abenteuerlich gewesen sein. Typisch für die mangelnde wissenschaftliche Neutralität der Autoren ist aber dann, dass dieses Defizit aus ihrer Sicht nur zu einer „Unterschätzung der Häufigkeitsberechnung des sexuellen Missbrauchs durch katholische Kleriker“ (36) führen könne. Wenn man nicht von vorneherein von bösen Absichten ausgeht, dann könnte es sein, dass man gerade die „brisanten“ Akten aufbewahrt hat und die „normalen“ zur Entlastung des Archivs vernichtet, natürlich kann es auch umgekehrt so sein, dass man die „brisanten“ Akten möglichst schnell vernichtet hat und die anderen aufgehoben hat. Das kann von Bistum zu Bistum und von Verantwortlichem zu Verantwortlichem unterschiedlich sein und wie es ist, darüber kann man seriös wissenschaftlich nur sagen, dass es eben „unbekannt“ ist.
Dann taucht die raunende Bemerkung auf, „dass Aktenvernichtungen und Aktenmanipulationen nicht auszuschließen waren bzw. aus einzelnen Diözesen explizit berichtet wurden“ (37) Das ist nichts Neues, sondern war schon 2010 bekannt und führte u.a. zu den Bedenken bezüglich des Projekts. Die „einzelnen Diözesen“ sind exakt zwei. Siehe Seite 40! Bei der Aktenmanipulation ist auf S. 40 von „einzelnen Fällen“ die Rede, da wären genauere Angaben hilfreich gewesen, auch mit der praktischen Konsequenz, dass Diözesen vielleicht noch lebende Aktenverantwortliche zur Rechenschaft ziehen könnten. Die Untersuchung könne „keinesfalls“ (41) das Ausmaß des gesamten Sachverhalts widerspiegeln, ist zwar sachlich richtig, aber eine unwissenschaftliche Formulierung, die spekulierend nur nach oben gehende Zahlen unterstellt.
Und dann wird aus einer Vermutung eine unbelegte Behauptung: „Es ist davon auszugehen, dass ein nicht bekannter, wahrscheinlich aber nicht unbedeutender Anteil von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Kleriker nicht in den Personalakten der jeweiligen Beschuldigten Niederschlag fand oder aus den Akten gelöscht wurde.“ (41) Wenn man diesen völlig unbelegten Satz wirklich glaubt und nicht bloß raunt, dann müsste man eigentlich die Mitarbeit an einem Projekt mit den Personalakten ablehnen.
Dann kommt die Studie völlig unkritisch auf das Verfahren zu „Leistungen in Anerkennung des Leids, das Opfern sexuellen Missbrauchs zugefügt wurde“ zu sprechen. Damals wurde dieses Verfahren von vielen Fachleuten kritisiert, weil hier Menschen ohne wirklichen Nachweis der Glaubhaftigkeit ihrer Beschuldigung von der Kirche Geld ausgezahlt bekommen. Im Teilprojekt 7 wird deutlich, dass auch die Betroffenen diese Reaktion der Kirche, womit man damals auf den medialen Druck reagierte, für völlig unangemessen halten. Hat wirklicher schwerer Missbrauch über Jahre stattgefunden, sind 5.000 Euro lächerlich wenig, wenn aber eine Falschbeschuldigung mit 5.000 Euro honoriert wird, dann diskreditiert das alle Bemühungen um echte Aufarbeitung.
Schon bei Beginn dieser Aktion gab es sichere Hinweise auf Falschbeschuldigungen, bis ein solcher Fall mit der evidenten Falschbeschuldigung des verstorbenen Bischofs von Hildesheim Janssen auch öffentlich wurde. Ein angeblicher Betroffener hatte die 5.000 Euro erhalten und erst gesagt, er wolle nicht, dass dem weiter nachgegangen werde. Dann aber erpresste er die Kirche: Wenn sie ihm nicht einen höheren Geldbetrag zahle, dann gehe er zum Spiegel. Die Kirche tat das nicht und der Spiegel tat dem Mann den Gefallen, eine Story daraus zu machen. Sofort trat ein Weihbischof auf und erklärte aus eigener Kompetenz, die Beschuldigung sei glaubwürdig. Inzwischen ist offenbar durch die Recherchen eines Notars klar, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handelte, doch niemand seitens der Kirche wollte an den Fall noch einmal rühren. Für diese Eskalation war die leichtfertige Gewährung der 5.000 Euro der Ausgangspunkt.
De facto werden ja so gut wie alle Anträge genehmigt. Es gibt nur 4% Ablehnungen. Der Teilstudie 1 kann man nun genauere Zahlen entnehmen, die aber wissenschaftlich nicht kritisch diskutiert werden. Immerhin hat man bei 23% der Antragsteller Hinweise in den Personalakten gefunden, aber bei 50 Prozent (!) zahlte man ohne jeden Aktenhinweis (45), man zahlte wegen der „Glaubwürdigkeit des Antragstellers .. oder aus caritativen Erwägungen“(46). Der wissenschaftliche Tiefpunkt von Teilprojekt 1 ist dann der abenteuerliche Schluss, den die Autoren daraus ziehen. Sie meinen nämlich, dass alle Antragsteller, über die in den Akten nichts zu finden ist, natürlich zum „Dunkelfeld“ zählen müssen. Das widerspricht nun jeder wissenschaftlichen Evidenz. Ohnehin ist schon auf S.42 fälschlicherweise von „Anträge(n) und damit die entsprechenden Missbrauchsfälle(n)“ die Rede.
Endlich klagen die Autoren auf S.51 noch darüber, dass die Kirche die Fälle jetzt immer gleich an die Staatsanwaltschaft abgibt und damit delegiert, ohne selber tätig zu werden. Dabei entspricht das exakt den Empfehlungen, die 2003 auf dem vatikanischen Missbrauchskongress von internationalen Experten gegeben wurden, die darauf hinwiesen, dass das amateurhafte Sprechen von Kirchenleuten mit allen Beteiligten und der Versuch, in solchen Gesprächen die „Wahrheit“ herauszubekommen, schädlich ist und möglicherweise auch die professionellen staatlichen Ermittlungen stört oder sogar konterkariert. Es besteht aber in der Praxis in Deutschland tatsächlich das Problem, dass die staatsanwaltlichen Verfahren sich bisweilen so hinziehen, dass das zumal für Falschbeschuldigte äußerst schwierig ist und auch die kirchlichen Behörden nicht genau wissen, wie sie jetzt verfahren sollen. Das ist das Problem und nicht die in der Studie genannte wirklichkeitsferne Spekulation. Und zur Priesterausbildung wartet Teilprojekt 1 mit der Bemerkung auf „Insgesamt erscheint die Beschäftigung mit diesen Themen in der Priesterausbildung zeitlich knapp bemessen.“ Vermutungen, Raunen, aber keine Belege für solche Allgemeinheiten.
Teilprojekt 2:
Schon gleich zu Anfang stellen die Autoren korrekt fest, dass aus den gewonnen qualitativen Ergebnissen keine Erkenntnisse über die „relative Häufigkeit in der Grundgesamtheit“ (55) folgen. Es wird dann die Interviewmethode beschrieben, die sehr eindrucksvoll respektvoll und empathisch mit den interviewten Menschen umgeht, die aber von dem Gerontologen Andreas Kruse für seinen Kompetenzbereich entwickelt worden ist und vor allem bei Beschuldigten nur sehr bedingt sinnvoll anwendbar ist. Wenn man vorrangig darauf setzt, dass der Interviewpartner sich verstanden fühlt, dürfte das manche Täter dazu ermutigen, ihre Entschuldigungsstrategien weiterzuführen. Diesen Fehler kann man sogar beweisen. Auf S. 64 berichten die Autoren des Teilprojekts 2, „dass das Missbrauchsgeschehen in vielen Fällen wahrscheinlich weniger auf einen von Beginn an bestehenden Vorsatz des Beschuldigten zurückgeht als vielmehr auf die Dynamik der Beziehung....“. Das ist tatsächlich das, was einen die Beschuldigten immer wieder ganz harmlos glauben machen wollen, und das glauben offensichtlich auch die Autoren. Die Realität steht auf Seite 171 in Teilprojekt 3: 83,1 % der Taten sind geplant, nur 5,4% sind spontan. Offensichtlich haben die Autoren ihre Texte nicht gegenseitig gelesen. Die Empathie führt zu gut gemeinten, aber eigentlich empörenden Formulierungen, wenn der Täter nach Meinung der Autoren „mit der ganzen Intensität seiner Emotionalität, Erotik und Sexualität konfrontiert wird, die er ... überhaupt nicht mehr kontrollieren kann“ (68). Wer selber als Therapeut das unsägliche Leid der Betroffenen erlebt hat und die unsäglichen Entschuldigungsstrategien der Täter gehört hat, die exakt auf die oben von den Autoren gewählten Formulierungen hinauslaufen, kann bei einem solchen Ausmaß an Unkenntnis über Täter tatsächlich kaum ruhig bleiben.
Es gibt dann auch ganz unwissenschaftliche Kategorien wie „reifer Umgang mit Konflikten“, was immer das heißt. Und in einer Tabelle (113) haben 14 Beschuldigte einer Gruppe „Schuldgefühle“, aber nur 11 zeigen „Reue“, nur 9 „Selbstvorwürfe“, aber dann tun wieder 11 „Buße“. Niemand erklärt, was der genaue Unterschied zwischen diesen Begriffen und Haltungen sein soll. Es ist halt nur so eine Tabelle.
Im Übrigen heißt es dann in Teilprojekt 2 auf S. 61 ganz ehrlich: „Hier muss zugestanden werden, dass die Studie über keine verlässlichen Außenkriterien verfügt, von denen aus ein belastbares Urteil über die Gültigkeit der in den Interviews getroffenen Aussagen abgeleitet werden könnte.“ An dieser Stelle könnte man eigentlich schon die Befassung mit Teilprojekt 2 beenden – wenn da nicht noch 70 Seiten folgen würden.
Auf S. 112 dann der Tiefpunkt von Teilprojekt 2. Ohne jede Datengrundlage, aufgrund einer zufällig zusammengesetzten, aus unterschiedlichen Gründen kirchenkritischen Stichprobe (die Betroffenen sind verständlicherweise nach ihren Erlebnissen kirchenkritisch und die Beschuldigten fühlen sich von der Kirche auch ungerecht behandelt, schieben gerne alles auf die kirchlichen Strukturen und haben nur ein mäßiges Schuldbewusstsein) gibt nun das Teilprojekt „Vermutung(en)“ zum Besten: Die Haltung der katholischen Kirche zur Homosexualität, ja „eine für Teile der römisch-katholischen Kirche charakteristische Homophobie“ habe „zum sexuellen Missbrauch von Minderjährigen beigetragen haben können“. Es gibt etliche Täter, die die Gesellschaft, ihre Eltern, die Kirche, den Arbeitgeber und ganz viele andere beschuldigen, für ihren Missbrauch verantwortlich zu sein. Da ist es dann erste Aufgabe des Therapeuten, eindeutig klarzumachen, dass ein erwachsener Mann für seine Taten ausschließlich selber verantwortlich ist. Ich sehe schon Täter, die mir dann mit der Studie in der Hand etwas anderes nachweisen wollen...
Das Teilprojekt 2 hätte zu interessanten Ergebnissen kommen können, wenn die Autoren nicht – mutmaßlich durch mangelnde Erfahrung mit der Klientel – kritiklos den Entschuldigungsstrategien der Täter aufgesessen wären. Von Ahnungslosigkeit auf diesem Feld sprechen auch die gut gemeinten Ratschläge auf Seite 128, dass man durch „Fort- und Weiterbildung, Supervision, Gesprächsgruppen oder Psychotherapie“ dazu beitragen könne, dass pädophile Präferenzstörungen „gut kontrolliert und kompensiert“ werden können. Ziemlich genau diese Auffassung haben viele Kirchenverantwortliche viel zu lange gehabt, die jetzt vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens stehen. Da ist die Lage doch etwas komplizierter.
Teilprojekt 3:
Das Teilprojekt 3 ist wissenschaftlich eine Erholung. Hier hat man den Eindruck, eine ganz normale wissenschaftliche Studie zu lesen mit interessanten Ergebnissen, so zum Beispiel der signifikant gegenüber der Vergleichsgruppe erhöhte Anteil von Alkoholmissbrauch bei Beschuldigten. Erschütternd auch, wie wenige der Täter Reue zeigten. Erfreulich dagegen, dass der Anteil der Anzeigen durch die Kirche selber inzwischen doppelt so hoch ist wie bei den Vergleichsinstitutionen. Außerdem gibt es seit dem Jahr 2000 einen kontinuierlichen Rückgang der Ersttaten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Betroffenen sich mitunter erst nach langer Zeit melden. Vor allem aber sind die Zahlen überraschend, die am Ende (184/185) mitgeteilt werden. Von 249 Verfahren (bei 209 Beschuldigten) endeten 77 mit Verurteilung, 52 mit Freispruch oder Einstellung des Verfahrens wegen mangelnden Tatverdachts, darüber hinaus wurde in 116 Fällen wegen Verjährung eingestellt. Das ergibt bei einem annähernd repräsentativen Datenmaterial 31% nachgewiesene Schuld, 21% nachgewiesene Unschuld, der Rest unklar, insbesondere wegen Verjährung. Das ist zu berücksichtigen, vor allem wenn man die Daten von Teilprojekt 6 wertet. (Was aber in Teilprojekt 6 nicht geschieht, noch nicht einmal diskutiert wird). Erschütternd ist wiederum die Angabe der Zahlen über die Verdeckung der Taten durch die Institution, die bei 20% liegen. Unklar bleibt, ob es sich bei den Versetzungen der Beschuldigten an Stellen mit Kontakt zu Kindern und Jugendlichen um freigesprochene Beschuldigte oder um Straftäter handelt.
Teilprojekt 4:
Das Teilprojekt 4 fällt wissenschaftlich wieder ab. Es ist insgesamt mehr eine Befragung von Präventionsbeauftragten zu ihrer Berufszufriedenheit. Die klagen offenbar vor allem über ihre Chefs: „Macht aufgrund von Weihe“, „unzugängliche klerikale Netzwerke“, das mag es geben, wird aber wissenschaftlich nicht belegt, sondern nur als Meinungsäußerung vorgetragen. Auch hier sind die Autoren mehr Sprachrohr als Wissenschaftler. Die empfehlenswerte Evaluation der Präventionsschulungen über bloße Rückmeldebögen der Teilnehmer hinaus wird wenigstens kurz angesprochen (205). Am Anfang wird zwar anerkennend erwähnt: „Es gibt keine vergleichbar große Institution in Deutschland, die flächendeckend ähnliche personelle Ressourcen für die Präventionsarbeit vorhält“ (193), aber dann ist der Tenor: Noch nicht genug. Ziel sei: Soviel wie möglich – ohne dass wissenschaftlich fundierte Überlegungen dazu angestellt werden, wie viel denn nötig ist.
Teilprojekt 5:
In Teilprojekt 5 geht es erfreulicherweise wieder wissenschaftlich zu. Die systematische Literaturübersicht ergibt zum Beispiel, dass 44% aller Studien über Missbrauch in Institutionen katholische Einrichtungen betreffen und dass ausschließlich Studien, die im Auftrag der katholischen Kirche in Auftrag gegeben wurden, sich mit der Reaktion der Institution auf den Missbrauch befassen (219). Auf Seite 235 zitieren die Autoren korrekt in indirekter Rede Studien, die im Auftrag der Kirche von Juristen und Theologen angefertigt wurden und die zum Teil deswegen wissenschaftlich umstritten sind, weil sie unbelegte psychopathologische Thesen aufstellen und pauschal und ebenso unbelegt bestimmte schon länger bekannte kirchenkritische Positionen in Zusammenhang mit dem Missbrauchsgeschehen bringen. Das heißt nicht, dass diese Thesen nicht stimmen könnten, aber dann müssen sie belegt und nicht bloß – jetzt bei Gelegenheit des Missbrauchsthemas – behauptet werden.
Als durchgehenden Tenor zeigt das Teilprojekt 5, dass die MHG-Studie gegenüber anderen Studien nichts Neues zeigt. Das ist an sich noch kein Mangel, im Gegenteil, wenn völlig andere Ergebnisse herauskommen, muss man an einer solchen Studie zweifeln. Aber es spricht auch gegen das öffentliche Erstaunen, das nach Teilveröffentlichung der Ergebnisse bei einigen eintrat. Als Ergebnis stellt Teilprojekt 5 fest, dass die in der Literatur untersuchten Taten in vielen Merkmalen keinen Unterschied zwischen katholischen und anderen Institutionen zeigten (236). Ganz am Ende wird noch eine mit höchstem wissenschaftlichen Aufwand betriebene Einschätzung von Präventionsprogrammen für Kinder und Jugendliche angeschlossen, die allerdings keine katholischen Programme enthält und mit der lapidaren Einsicht schließt, dass wenn Kinder gelernt haben, zwischen gutem und bösem Körperkontakt zu unterscheiden, die sich das auch merken.
Teilprojekt 6:
Der Kern der Studie ist das Teilprojekt 6, über das deswegen oben schon Einiges gesagt worden ist. Das soll hier aber noch im Einzelnen am Text entlang belegt werden. Die hier besonders gepflegte Methode des Raunens wird schon auf Seite 250 eingeführt: „Auch nach Abschluss der Erhebungsarbeiten wurden weitere Beschuldigungen bekannt, die in die Analysen nicht mehr einbezogen wurden“. Das ist eigentlich selbstverständlich und man erwähnt das deswegen normalerweise nicht oder man nennt Zahlen und Daten. Und dann gibt es gleich auf Seite 251 die ominöse Zahl 1670 Kleriker und auf Seite 252 der geringere Prozentsatz der Diakone. Dann heißt es zwar wissenschaftlich korrekt: „Die ermittelte Quote ... unterliegt aber erheblichen methodischen Einschränkungen, Insbesondere kann nicht von einer Repräsentativität der dargestellten Befunde ... ausgegangen werden.“ Aber diese erhebliche Einschränkung wird später nicht mehr erwähnt.
Es wird vor allem in der Diskussion nicht noch einmal klar gemacht, dass auch Freisprüche und unbewiesene Anschuldigungen unter der Zahl 1670 figurieren. Und auch, dass nicht strafbare, aber zweifellos zu vermeidende „unangemessene Körperberührungen“ (nicht an den primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen) genauso wie Serienvergewaltigungen in dieser Zahl zusammengefasst werden, wird nicht noch einmal ausdrücklich klar gemacht. Vielmehr wird nur auf die unzureichende Datenerhebung in den Diözesen abgestellt.
Dann wird wieder geraunt, allerdings diesmal auch wissenschaftlich fehlerhaft. Die Autoren nennen die 1670 Fälle „Hellfeld“, dabei haben sie darüber gerade zu recht festgestellt, dass es sich vielmehr um nicht verifizierte Fälle handelt. Staatsanwaltlich nachgewiesene Falschbeschuldigungen können nicht als Hellfeld-Taten bezeichnet werden. Außerdem ist die kritiklose Heranziehung der empirischen Delinquenzforschung in diesem Fall fehlerhaft, da es ein einmaliger Vorgang ist, dass eine Institution ganz niedrigschwellig Personen, die sich als Betroffene bezeichnen, 5.000 bis 10 000 Euro zahlt. Wenn man der Meinung wäre, dass dadurch das Dunkelfeld mutmaßlich nicht verkleinert wird, müsste man eine solche Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion wenigstens begründen. In der Familie missbrauchte Kinder erhalten von niemandem Geld. Außerdem ist die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Phänomen Missbrauch in der katholischen Kirche so gewaltig, dass auch dadurch – erfreulicherweise – das Dunkelfeld gewiss reduziert wurde. Man mag das anders sehen, aber man muss das wenigstens diskutieren.
Wenn man das aber nicht tut, kann man wieder medienwirksam raunen, das sei eben „nur ein Teil des Missbrauchsgeschehens im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz“ (253) Auf Seite 255 wird wieder die These vertreten, die Zahlen bei Diakonen sprächen gegen den Zölibat. Doch auch da werden die Daten einfach naiv genannt, aber nicht wissenschaftlich diskutiert. Wahrscheinlich wussten die Autoren nicht, dass es bis zum II. Vatikanischen Konzil keine verheirateten Diakone gab, so dass über die Hälfte der Priesterfälle in die Zeit vor 1965 fällt, in der es keine solchen Diakone gab. Dies und auch andere entsprechende Einschränkungen solcher Aussagen müssten wenigstens in einer wissenschaftlichen Studie diskutiert werden, das findet aber nicht statt.
Auf Seite 257 findet sich dann der wissenschaftliche Tiefpunkt der ganzen Studie: Zunächst versucht der Autor mit allen Mitteln zu erklären, dass es den überall festzustellenden Rückgang der Fälle nicht gibt, weil zum einen – und dieses Argument muss man tatsächlich diskutieren – die absolute Priesterzahl zurückgeht und zum anderen die Betroffenen sich oft erst nach langen Jahren äußern. Doch hier ist angesichts der oben schon erwähnten allgemeinen Aufmerksamkeit auf das Phänomen und ebenso angesichts der Leid-Anerkennungs-Gelder die Wahrscheinlichkeit größer geworden, dass Betroffene erheblich zeitiger reagieren. Das muss man wenigstens diskutieren, was hier wieder nicht geschieht. Im Bemühen, die in der Öffentlichkeit sicher spektakuläre These aufrechtzuerhalten, das sich nichts geändert hat, lassen die Autoren sich dann aber zu dem Satz hinreißen: „Das bedeutet, dass sexueller Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker der katholischen Kirche kein vergangenes oder abgeschlossenes historisches Phänomen darstellt, sondern ... weiterhin stattfindet.“ Medial hat das auch funktioniert, das war die Schlagzeile in vielen Medien. Aber dieser Satz ist natürlich aus Sicht des Schutzes von Betroffenen fatal. Eine Einrichtung, die sich einbilden würde, Missbrauch sei bei ihr ein „vergangenes oder abgeschlossenes historisches Phänomen“ hätte wirklich gar nichts verstanden. Man kann solche Phänomene leider nicht abschließen und wer das behaupten würde, handelte grob fahrlässig. Man kann nur dafür sorgen, dass man alles Menschenmögliche tut, damit es möglichst nicht passiert, und das tut die katholische Kirche jetzt seit Jahren, wie in der Studie auf Seite 193 nachzulesen ist.
Im Weiteren (259) hantieren dann die Autoren mit wenig aussagefähigen Zahlen und mit vage raunenden Spekulationen. Da wird dann, statt sich auf Daten zu beziehen, der verdienstvolle Therapeut Wunibald Müller zitiert, der die Erklärung der Bildungskongregation von 2005 kritisiert. Dann wird weiter geraunt von „ambivalenten Haltungen der katholischen Sexualmoral zur Homosexualität und die Bedeutung des Zölibats“. Nicht dass man das alles nicht ernsthaft diskutieren könnte, aber in einer Studie, die zu neuen Erkenntnissen führen soll, haben solche mit den Daten der Studie nicht zu belegenden allgemeinen Erwägungen nichts zu suchen. Da wird dann der diagnostisch unbekannte Begriff der „unreifen homosexuellen Neigung“ eingeführt. Und nach all dem Raunen kommt dann wieder der salvatorische Satz: „Zu betonen ist bei solchen Überlegungen, dass natürlich weder Homosexualität noch der Zölibat eo ipso Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen darstellen“. Eo ipso eben.
Die einzige wirkliche Neuigkeit der ganzen Studie kommt dann auf Seite 262, nämlich, dass die Zahlen der MHG-Studie insbesondere gegenüber der John-Jay-Studie von 2011 einen höheren Anteil an jüngeren Betroffenen zeigen.
Bei den Zahlen ist man immer wieder erschüttert, dass den Betroffenen zu einem so hohen Prozentsatz nicht geglaubt wurde. Das stimmt sicher, aber man muss wissenschaftlich an diesen Stellen seriös diskutieren, dass nach Teilstudie 3, 20% der dort belegten Fälle Falschbeschuldigungen betraf. Das muss man wenigstens erwähnen, sonst bringt auch das – gute – Teilprojekt 3 nichts.
Auf Seite 271 wird wieder rein spekulativ die „katholische Sexualmoral“ angeschuldigt, die daran schuld sei, dass die Betroffenen sich niemandem anvertraut haben, dabei ist das gar nicht abgefragt worden. Schamgefühle haben auch missbrauchte Atheisten. Auf Seite 295 ist man wieder entsetzt, dass die Kirche 9,2 % der Beschuldigten keine Strafe erteilt hat. Aber die Autoren stellen in der Diskussion nicht die an dieser Stelle nötige Information des Teilprojekts 3 vor, dass dort 20% Falschbeschuldigungen waren. Um das klarzustellen: Es hat empörende Untätigkeit und Vertuschung durch kirchliche Instanzen gegeben und das muss aufgeklärt werden. Aber mit seriösem Zahlenmaterial. Auf Seite 296 kann man die seltenen Meldungen an die römische Glaubenskongregation lesen, erfährt aber nicht, dass dieser Weg erst seit 2002 vorgesehen ist. Weil die Autoren das offensichtlich nicht wissen, heißt es dann bei ihnen (296): „Somit ist die Bereitschaft der Kirche, Fälle des sexuellen Missbrauchs ... mit eigenen... Verfahren zu untersuchen... als nicht sehr ausgeprägt anzusehen.“
Was die zu recht kritisierte gefährliche Versetzungspraxis der Kirche betrifft, so sind die Angaben völlig untauglich. Die Studie erweckt den Eindruck, dass Versetzung von Tätern per se falsch ist. Das ist natürlich Unsinn. Wenn Missbrauch geschehen ist, dann muss der Täter aus den Augen der Betroffenen geschafft werden und das möglichst schnell. Bevor er dann woanders eingesetzt wird, muss nach einer eventuellen Verurteilung und nach Abbüßen der Strafe nach einem forensischen Gutachten, das die Gefährlichkeit professionell einschätzt, eine neue Stelle gefunden werden und das Wichtige ist, dass da in der Umgebung jemand ist, der über alles informiert ist. Dass das nicht geschah, ist das schlimme Versäumnis früherer Zeiten, nicht die Versetzung an sich. Anstatt die Versetzungsproblematik differenziert aufzuarbeiten, verbreiten sich die Autoren in Spekulationen über „Klerikalismus“ (307). Klerikalismus ist schrecklich, aber diese Debatte hilft hier nicht weiter.
Gegen Ende des Teilprojekts 6 versuchen sich die Autoren noch an einer Selbstbeauftragung mit einer Nachfolgestudie (300): „Um die betreffenden Personen nicht unter einen Generalverdacht zu stellen, bedarf es einer vertiefenden Analyse....“.
Teilprojekt 7
Das Teilprojekt 7 betrifft Menschen, die sich an eine Hotline wenden konnten, um dort ihr Leid zu klagen. Das ist an sich durchaus sinnvoll. Aber es muss wissenschaftlich diskutiert werden, dass das eher schwere Fälle mit hohem Leidensdruck sein werden und dass andererseits auch der Wahrheitsgehalt naturgemäß nicht überprüft werden kann. Es sind dabei auch nur 69 Personen befragt worden. Aus den Aussagen dieser Gruppe, von der erwartungsgemäß die meisten aus der Kirche ausgetreten oder anderweitig von ihr distanziert sind (76% „negative Folgen für den Glauben“ wurden genannt), hat man nun Ideen für eine Kirchenreform destilliert. Es geht dabei vor allem verständlicherweise um die Klage über das „Aufrechterhalten einer klerikalen Struktur“, die allerdings zur Zeit der Taten vor etwa 30 Jahren anders war als heute.
Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur Zusammenfassung, die nicht wie üblich am Schluss, sondern am Anfang steht. Hier gewinnt man den Eindruck, dass nicht die Wissenschaftler selber, sondern andere Kräfte beauftragt worden sind, alle nicht datengestützten, aber medienwirksamen Aussagen der Studie plakativ zusammenzufassen. Ein wirkliches Zusammenführen der Erkenntnisse der Studie gibt es nicht, weswegen den Autoren Widersprüche in der Studie selber offensichtlich gar nicht aufgefallen sind. Es steht dort auch zu recht, dass die Befunde der Studie „rein deskriptiv“ seien und „ein statistischer Nachweis kausaler Zusammenhänge zwischen einzelnen Phänomenen oder Variablen (sei) nicht möglich“, aber dann strotzt schon der Text der Zusammenfassung nur so von kausalen Spekulationen. Und auch in der Zusammenfassung fehlt der Satz nicht: „Sofern sich die Deutsche Bischofskonferenz dazu entschließen kann, die hier formulierten Empfehlungen umzusetzen, müsste deren Wirksamkeit in prospektiven Studien untersucht werden....“
Am Ende dieser Kommentierung ist es vielleicht nützlich, wenn ich darauf hinweise, dass ich keinerlei eigenes Interesse an der Angelegenheit habe, außer dass ich viele von sexuellem Missbrauch Betroffene behandelt habe und auch Täter kenne, dass ich daher Missbrauch durch katholische Priester und Ordensleute für schlimmer halte als anderen Missbrauch und mich schon seit Jahren dafür einsetze, dass die Kirche da angemessene Maßnahmen ergreift. Doch die jetzige mangelhafte Studie ist für die weitere Entwicklung deswegen kontraproduktiv, weil man befürchten muss, dass damit die Hilfe der Wissenschaft diskreditiert wird. Diese Hilfe halte ich aber auch künftig für unabdingbar. Im übrigen äußere ich mich hier ausschließlich aus eigenem Antrieb. Ich bin zwar Chefarzt eines katholischen Krankenhauses, als solcher aber nicht weisungsgebunden und durch Bücher und Vorträge finanziell völlig unabhängig.
Bornheim, den 22. September 2018
(*) Dr. Manfred Lütz ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln
Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten des jeweiligen Autors wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch.
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