3. Dezember 2019
Vor einem Jahr hat Bischof Dr. Heiner Wilmer in einem Interview mit dem "Kölner Stadtanzeiger" für Aufsehen gesorgt. Er sprach davon, dass der Missbrauch von Macht in die "DNA der Kirche" eingezeichnet sei. Dieser Tage hat er die Formulierung in einem Interview mit der "Augsburger Allgemeinen" wiederholt. Auch an Klarstellungen und kritischen Einwänden zu der unglücklich gewählten molekulargenetischen Metapher mangelte es 2018/19 nicht – insbesondere die Kardinäle Müller und Woelki äußerten sich hierzu, ebenso Erzbischof Dr. Georg Gänswein und der Regensburger Bischof Dr. Rudolf Voderholzer.
Bischof Dr. Wilmer erfährt in vielen Medien Zustimmung und genießt besonders im Bistum Hildesheim eine hohe Wertschätzung. Er ist ein kirchlicher Sympathieträger, ein Gottesmann mit positiver Ausstrahlung, dessen Aufgeschlossenheit der Kirche spürbar guttut. Seine Äußerungen und Auftritte werden medial begleitet. Insbesondere sein glaubwürdiges Engagement zur schonungslosen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals findet viel Zuspruch und Anerkennung.
Der Hildesheimer Bischof wirbt nun für ein realistisches Bild von Kirche in der Welt von heute: "Wie denken wir die Kirche? Wir haben immer noch ein altes Kirchenbild, nämlich das der »perfekten Gesellschaft« – obwohl das Zweite Vatikanische Konzil dieses Bild schon korrigiert hat. Die Kirche ist dem Konzil zufolge der Leib Christi, der liebenswert ist, aber auch anfällig. Mein Eindruck ist, dass viele Menschen noch immer völlig verinnerlicht haben, die Kirche sei vollkommen und man darf nicht an ihrem Image kratzen. Dies hat dazu beigetragen, dass bestimmte Dinge nicht sein durften und man sie unter den Tisch gekehrt hat: Bloß nicht darüber reden, um nicht das Image der Kirche zu beschädigen!"
Die Kirche hat eine Außenwirkung, aber kein "Image". Sie hat auch eine Botschaft, die zu verkündigen sie bestellt ist. Die Kirche muss darum auch nicht ein "Image" aufpolieren – wie vielleicht eine Partei, eine Gewerkschaft oder ein Schützenverein. Die Kirche braucht kein Marketing, sondern Zeugen des Herrn. Vergessen werden darf nicht, dass die Kirche auch vielen schutzsuchenden und -bedürftigen Menschen ein Obdach, ein Zuhause in dieser Welt geschenkt hat und noch immer schenkt. Ich spreche nur aus meiner Erfahrung, da ich selbst in einem "fernen Land", wie der heilige Johannes Paul II. sagte, auch geistlich verwurzelt bin. Dieses Obdach suchten polnische Katholiken in der Zeit des Kommunismus, dieses Obdach suchen heute verfolgte Christen in Syrien oder im Irak. Diese Heimat Kirche begleitete Vertriebene aus Ostpreußen und Schlesien am Ende des Zweiten Weltkriegs in den Westen. Die Kirche schenkte Schriftstellern der inneren Emigration, wie Werner Bergengruen oder Reinhold Schneider, in der NS-Zeit ein Obdach. Schon immer wurde von aufmerksamen Christen die Kluft bemerkt, die Bischof Dr. Wilmer hier feststellt, und schon immer haben besonders romtreue Katholiken an der Kirche gelitten. Ganz normale Katholiken waren und sind aber nicht so einfältig und töricht, dass sie die Kirche in ihrer Struktur und ihrer weltlichen Gestalt sowie die Amtsträger an sich verklären. Es gab und gibt in der Kirche Streit um Vorrechte, ja – von Disputen um die Abfolge der Tische im Gemeindesaal, etwa bei Basaren, an denen Kleinigkeiten für Missionsprojekte verkauft wurden, oder in der Sakristei, wenn ein Lektor sich zurückgesetzt fühlt, weil immer andere Engagierte an Hochfesten scheinbar bevorzugt wurden. Das alles ist nur kindisch. Dass in Institutionen und Behörden Machtpositionen eingenommen und missbraucht werden, ist nicht neu. Und das ist und bleibt skandalös. Aber all das wird auch ein Strukturwandel nicht aufheben, höchstens graduell verbessern können. Wir alle wissen heute: Geistliche Würdenträger sind zu Straftätern geworden. Der Missbrauchsskandal offenbart das auf erschreckende Weise. Dass diese Verbrechen von anderen geistlichen Würdenträgern und Weltchristen in Institutionen gedeckt wurden, ist ein beispielloser Skandal, der Empörung hervorruft. Bischof Dr. Wilmer fordert Aufklärung – und das völlig zu Recht. Dafür ist ihm zu danken. Der Bischof von Hildesheim verdient also jede nur mögliche Unterstützung.
Trotzdem ist es theologisch verwunderlich, dass der Streit unter den Aposteln, den der Herr beendet, von ihm als "Missbrauch" von Macht identifiziert wird: "Der Missbrauch der Macht ist so alt wie die Kirche selbst. Das haben wir schon im Evangelium. Die Jünger stritten darüber, wer der erste unter ihnen sei. Die katholische Kirche ist heilig, aber auch eine menschliche Institution. Das ist gute, alte Theologie." Die Kirche ist nicht aus sich selbst heraus heilig, sondern nur als Stiftung Jesu Christi. Der Herr stiftete mitnichten weltliche Strukturen – sie gehören dazu –, aber die Kirche ist Sakrament des Heils. Das gilt nicht für den zugehörigen Apparat, den Bischof Dr. Wilmer reformieren möchte. Wenn die Kirche nur ein säkularer Klub mit Gremien, Referaten und Vorständen wäre, würde ich heute noch austreten. Ich gehöre keiner Partei an, also auch keiner Kirchenpartei. In der "guten, alten Theologie" – von Augustinus über Thomas von Aquin bis hin zu Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger – lese ich nichts davon, dass in das Evangelium, in die "Frohe Botschaft", der Missbrauch von Macht eingezeichnet ist. Wenn ich die Evangelien mir vergegenwärtige, ob im Original oder in den Übersetzungen, lese ich noch immer nichts davon. Im Evangelium ist die Rede von Sünde und Umkehr, von Schuld und Vergebung. Immer wieder muss der Herr seine Jünger ermahnen und korrigieren. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Advent ist eine Zeit der Besinnung. Wir brauchen keine neue Kirche, und wir brauchen auch keine problematischen ekklesiologischen Metaphern. Wir brauchen jede nur mögliche Klarheit und Aufklärung über den schändlichen, skandalösen Missbrauch – und eine Besinnung auf das Credo der Kirche sowie auf die Dogmatische Konstitution "Lumen gentium": "Christus ist das Licht der Völker. Darum ist es der dringende Wunsch dieser im Heiligen Geist versammelten Heiligen Synode, alle Menschen durch seine Herrlichkeit, die auf dem Antlitz der Kirche widerscheint, zu erleuchten, indem sie das Evangelium allen Geschöpfen verkündet (vgl. Mk 16,15). Die Kirche ist ja in Christus gleichsam das Sakrament, das heißt Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit. … Alle Glieder müssen ihm gleichgestaltet werden, bis Christus Gestalt gewinnt in ihnen (vgl. Gal 4,19)."
Die Kirche benötigt eine christozentrische Erneuerung und damit jeder Einzelne von uns: Das ist gute, alte Theologie. Das ist die Theologie der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. Das ist die Theologie der Kirche aller Zeiten und Orte. Diese Theologie reicht vom Evangelium bis in unsere Gegenwart hinein. Und das ist auch die Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils.
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