Ein Freund, dessen Namen ich nicht nennen will, hat in den letzten Jahren über 200 (in Worten: zweihundert) erwachsene Muslime in Deutschland zur Taufe geführt. Aber warum nur, wollte ich bei unserer letzten Begegnung von ihm wissen, und ist das nicht gefährlich? Da schaute er mich nur an und sagte: "Gefährlich? Das weiß ich nicht. Aber weißt du was, alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung! Um das zu begreifen, müsstest du einmal erleben, wie befreit sich all diese Menschen nach der Taufe erleben und nach ihrer Bekehrung zu Jesus, dem Christus, in dem Gott selbst uns sein Gesicht gezeigt hat!" Offensichtlich ist der Stern also immer noch da und leuchtet, der schon die Sterndeuter aus dem Osten vor rund 2000 Jahren wie eine Supernova zum neugeborenen Gott nach Bethlehem geführt hat.

"Gott ist der Kleinste!" schrieb Erzbischof Georg Gänswein in einem ähnlichen Zusammenhang dazu im letzten Jahr für die Weihnachtsausgabe der "Badischen Zeitung", seinem alten Heimatblatt, nachdem zuvor am 11. Dezember 2018 ein islamistischer Attentäter mit "Allahu-akbar"-Rufen auf dem Weihnachtsmarkt in Straßburg fünf Menschen getötet und elf weitere zum Teil schwer verletzt hatte. "Allahu akbar" ist der ergreifende Gebetsaufruf der islamischen Welt, den auch Jerusalempilger kennen, wo die Beter morgens damit geweckt werden, noch bevor die Hähne zu krähen beginnen. Er heißt auf Deutsch "Gott ist größer", wird aber meist als "Gott ist der größte" übersetzt. Im Koran kommt der Satz nicht vor. Dennoch ist er schon aus der Frühzeit des Islam als Schlachtruf überliefert.

Die Erkenntnis, dass Gott größer ist als alles, was wir von ihm verstehen, ist aber auch der christlichen Gedankenwelt nicht fremd. Die Erkenntnis "Deus semper maior – Gott ist immer größer" ist schon beim heiligen Augustinus von Hippo (354 – 430) grundgelegt. Es ist eine Gewissheit, die sich wie die Leuchtspur eines Kometen durch die Kirchengeschichte zieht, über Wilhelm von Ockham (1285–1347) bis zu Ignatius von Loyola (1491–1556), dem Gründer des Jesuitenordens. So wundert nicht, dass Georg Gänswein vor einem Jahr bei dem muslimischen Lob der Größe Gottes auch schrieb: "Da würden wir gern mit einstimmen", bevor er dann fortfuhr: "Das Wimmern des Christkinds in der Krippe aber flüstert uns das Gegenteil ins Ohr: ,Gott ist der Kleinste. Er selbst hat es so gewollt'." Oder auf gut Arabisch: "Allahu huwa al-asghar".

Diese Erkenntnis verdanken wir aber weniger den Worten als unserer Vorstellung und Bildern der Menschwerdung Gottes, die wir den Evangelien entnehmen. Da ist zunächst die Ankündigung dieser Geburt an Maria durch den Erzengel Gabriel, als die Jungfrau von der Kraft "des Allerhöchsten überschattet" wurde. Von dieser Sekunde an war sie mit Jesus schwanger. Das ist der Kern unseres Evangeliums, der Europas Malergenies viele Jahrhunderte lang zu ihren prächtigsten Meisterwerken herausgefordert hat. Und dann ist da die Geburt des Gottessohnes selbst, die sich jedem Kind wie von selbst erschließt – so lange wir die Kinder noch an die Krippe führen.

Karfreitag und Ostern sind von Erwachsenen kaum zu erfassen und erst recht nicht die Menschwerdung Gottes. Weihnachten aber ist das, was Kinder von Gott begreifen können, als Fest schlechthin, an dem sich ihnen unser anspruchsvoller und wunderschöner Glaube wie in keinem Lebensalter sonst erschließt, wo der Allerhöchste sich allen Kindern der Welt zuerst als Kind offenbart, hilflos wie am Ende bei seinem Tod am Kreuz, doch jetzt noch mit dem Nimbus eines Neugeborenen in Chören von Engeln. Dass Gott also nackt und in Blut und duftend in die Welt kommt und winzig und schielend – bevor er sie nackt und blutend wieder verlässt und glorreich von den Toten aufersteht. Es ist die Wesensmitte der Heiligen Nacht, dass Gott Mensch geworden ist, in Bethlehem geboren wurde und in die Windeln und ins Stroh machte, weil es in der Höhle so frisch war, und die lässt sich, wenn überhaupt, wohl nur von einem Kind begreifen.

In Jesus von Nazareth hat uns Gott sein Gesicht gezeigt, und zwar zuallererst in dem Gesicht eines vollkommen hilflosen und frischgeborenen Säuglings. Hier haben wir Gott zum ersten Mal gesehen. Deshalb können wir Sein Gesicht auch heute noch in den Gesichtern der Milliarden Föten wiederfinden, denen ein Leben nach der Geburt in den ehemals christlichen Ländern dieser Erde in unserer Zeit nicht mehr gestattet wird. Gott ist Mensch geworden. Das heißt: Zuerst wurde er eine befruchtete Eizelle im Mutterleib einer jungen Jüdin in Galiläa, dann ein wachsender Fötus, der neun Monate später in einer Felsgrotte in Bethlehem das Licht der Welt erblickt hat, genauer: wohl das Licht einer Öllampe, das Josef im Gepäck hatte wie alle Reisenden, als er den Säugling erstmals in die Hände nahm, um ihn seiner Mutter zu zeigen. Das Bild dieser Begegnung sprengt die Worte aller Theologie.

Mit dieser konkreten Erinnerung aber ist die katholische Kirche, das kann man drehen und wenden, wie man will, und das kann auch kein Atheist, der nüchtern auf die Geschichte schaut, im Ernst bestreiten, zur Seele des Abendlands geworden. Damit wurde die Kirche auch zum Quellgrund von allem, was Europas Gesicht so einzigartig und anziehend gemacht hat. Das Wunder der Christnacht ist deshalb bis heute mit dafür verantwortlich, dass sich ein Großteil der Ströme der neuen Völkerwanderung in großer Not nicht in das superreiche China aufmacht oder zur arabischen Halbinsel, sondern zu uns, nach Europa, wohin der Völkerapostel Paulus die frohe Botschaft von der Menschwerdung Gottes aus Jerusalem zuerst brachte, nachdem er sie zunächst auf dem Boden der heutigen Türkei verkündet hatte, wo kaum noch daran erinnert werden darf.

Denn vor diesem Säugling, als der sich der Allerhöchste in der Christnacht zuerst vor unseren Augen offenbart, muss keiner vor Angst gelähmt zu Boden stürzen. Er ist kein furchterregender Götze. Hier zeigt sich der Schöpfer des Himmels und der Erde als derjenige, der keinen zwingt und knechtet, sondern der um unsere Herzen wirbt. Er ist der Gott, in den wir uns nur verlieben können. Diese unfassbar werbende Zurückhaltung aber ist der Ursprung unserer Freiheit, die keine andere Kultur so kennt. Das arabische Wort Islām trägt die "Unterwerfung" schon im Namen dieser großen Religion. Und von dem jüdischen Gelehrten Isaak Luria (1534 – 1572) aus Safed in Galiläa stammt die Einsicht, dass der allmächtige Gott seine Allmacht schon bei der Erschaffung des Menschen – um unserer Freiheit willen! – zurücknehmen musste, damit wir neben ihm und seiner Allmacht überhaupt Luft zum Atmen finden konnten. Doch wo sehen wir die Zurücknahme Gottes mehr und radikaler als hier in der Weihnachtsnacht bis heute: in dem Kind in der Krippe, zu dem Gott selber wurde!? Es ist ein Schlüssel für das Geheimnis unserer Freiheit. Diese Freiheit aber ist unser Glück und das allergrößte Weihnachtsgeschenk der Christenheit für die ganze Welt. Sie ist auch der Schlüssel für jene Befreiung nach der Taufe, von der mein Freund erzählt. Auch G.K. Chesterton (1874–1936) hat darauf hingewiesen, dass wir selbst die Freiheit, nicht glauben zu müssen, sondern nur glauben zu dürfen, diesem wehrlosen Säugling verdanken. Diese Freiheit der Atheisten gab es nie zuvor in allen anderen Religionen. Unser Gott lädt uns ein, sich frei für ihn zu entscheiden, der sich für uns so hilflos gemacht hat. Es ist ein unfassbares Wunder, was Gott sich da angetan hat, und es ist dennoch der Kern unseres Glaubens. Der König des Weltalls hat sich auf unsere Natur eingelassen, auf die Natur der sündigen Menschen, nur ohne die Sünde, die jeden von uns so oft gefesselt hält. Ein größerer Liebesakt ist nicht vorstellbar.

Deshalb wird sie leider auch von vielen und in vielen anderen Religionen als höchst provokante Zumutung bis auf den heutigen Tag begriffen. Und innerhalb der Christenheit und Kirche wird die Freiheit als unser kostbarstes Geschenk Tag für Tag ausgenutzt. Doch darauf hat Gott sich eingelassen, der selbst die Sünde zugelassen hat, als Preis für unsere Freiheit, die er noch höher schätzt als jeden Missbrauch, ja auch höher als jedes Verbrechen im Namen der Freiheit. Er will uns als freie Gegenüber in einer Liebesbeziehung, nicht als Sklaven. Wo Angst herrscht, ist unser Gott nicht zu finden. Bei den Katharern Südfrankreichs im Mittelalter wie bei der so genannten Integrierten Gemeinde unserer Tage und überhaupt bei jedem Missbrauch haben sich Christen deshalb zuerst einmal in einem entscheidenden Schritt von dem Säuglings-Gott in der Krippe abgewandt.

Christenverfolgungen und alle Angriffe auf die Kirche von innen und außen sind deshalb aber auch ohne diese Herausforderung an den Verstand nicht zu begreifen. Dennoch hat keine Geburt die Welt je so verändert wie die des heiligen Säuglings in Bethlehem, nach dem wir bis heute die Jahre unseres Kalenders zählen. Seine Geburt aus der Jungfrau Maria ist zum Referenzpunkt der Weltgeschichte geworden. Nichts hat die Welt schöner und menschlicher gemacht als dieses unfassbare Wunder in der Jungfrau Maria, in deren Leib der Erlöser der Welt heranreifte. Alle Schönheit Roms und Europas verdankt sich diesem Liebesakt, und der ganze Kosmos der abendländischen Musik, wie Papst Benedikt oft betonte. Das lässt sich nicht begreifen, das lässt sich nur bestaunen, am besten mit großen Kinderaugen mit unserem Blick auf den Neugeborenen.

Als acht Tage vorüber waren und das Kind nach jüdischem Brauch beschnitten werden sollte, erzählt Lukas weiter, "gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutterleib empfangen war." Der Evangelist Johannes hingegen nennt denselben Sohn Marias in seinem Weihnachtsevangelium zunächst nicht mit seinem Namen oder "Kind", sondern nur "Logos" auf griechisch. Das heißt auf deutsch: "Wort". Dieses Wort, sagt Johannes im ersten Satz seines Evangeliums, habe in Jesus "Fleisch angenommen" und sei Mensch geworden. Was wir "Logik" nennen, stammt von diesem Begriff. Denn im tiefsten Sinn heißt Logos "Vernunft". Nach Johannes ist mit der Geburt Jesu also die Vernunft also "Mensch geworden".

Was ist daraus geworden? Hat die Vernunft bis in unsere Tage nicht immer nur zugenommen, mit märchenhaften Erfolgen, weshalb eine ehrgeizige Denkschule innerhalb der Kirche, deren Vordenker lange Zeit Joseph Ratzinger höchstpersönlich war, sich unermüdlich bemühte, "Glauben und Vernunft zu versöhnen." Oder ist vielleicht doch nicht alles so vernünftig, was da vor unseren Augen flimmert und glitzert auf den Bildschirmen unserer Smartphones und Tablets?

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", heißt nun aber auch eine berühmte Radierung des spanischen Malers Francisco de Goya aus dem Jahr 1799, und im Jahre unseres Herrn 2019 muss ich zum Festtag der Geburt Christi keine Horrornachricht wiederholen, um darauf hinzuweisen, dass auch in der römisch-katholischen Kirche der göttliche Logos an vielen Orten eingeschlafen scheint und Ungeheuer gebiert. Zum Schlaf aber kommt mir auch noch ein anderes Bild in den Sinn, so heiter und trostreich wie kaum ein Bild sonst zu Weihnachten. Es stammt aus der Lazarus-Kathedrale von Autun im Burgund, die ein gewisser Meister Gislebertus in den Jahren 1120 bis 1135 als Steinmetz geschmückt hat, wo wir auf einem seiner Reliefs eines Säulenkapitells die heiligen drei Könige entdecken, wie sie unterwegs auf ihrem langen Weg nach Bethlehem friedlich schlafen. Alle drei liegen gemeinsam unter einer einzigen Decke. Alle drei haben auf diesem Lager im Schlaf wie in einem mittelalterlichen Comic ihre Kronen aufgesetzt wie Schlafmützen, die selbst auf dem Kissen nicht verrutschen. Es ist zum laut Auflachen. Und da tritt dann ein Engel an die drei heran und berührt den oberen König zart mit einem Finger an seiner rechten Hand, die über der Decke liegt, und weckt ihn. Der schlägt die Augen auf und sieht den Engel, der mit dem Finger seiner linken Hand auf den Stern am fernen Himmel weist, dem sie weiter folgen sollen, damit er sie unter dem antiken Götterhimmel zum winzig wahren Gott hinführt: zu einem frisch geborenen Säugling in einer Futterkrippe für Herdentiere in einer Felsenhöhle. "Willkommen im 13. Jahrhundert!" höre ich da einen prominenten deutschen Kirchenfürsten rufen, von dem wohl bekannt ist, dass er eher auf seine wirkmächtige Erscheinung in den Medien schaut als zum Himmel hinauf, in dem einmal Engel die Geburt unseres Erlösers rühmten und besangen. Diesem Stern aber, zu dem dieser Engel in Autun weist, ist die katholische Kirche rund 2000 Jahre über viele Irrwege und Abwege und durch viele Tränentäler bis gestern unverdrossen gefolgt. Es ist der Stern der Erlösung, der uns auch morgen sicherer als jeder Satellit und Navigator zum wahren Gott hinführt, auch wenn ihn hin und wieder eine schwere Wolke verdeckt.

Der Stern der Hirten ist immer noch da, der uns auf dem Weg zur Wahrheit leiten will, die in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist. Auch der Logos, die Vernunft, wird deshalb nicht auf ewig schlafen, wie es seit den Tagen Goyas oft den Anschein hatte. Christen wissen, dass sie die Wahrheit nicht haben. Sie wissen, dass die Wahrheit kein Ding ist, sondern Person, der wir uns nur annähern können. Die Wahrheit ist Christus. Sein zweiter Name ist "Weg", sein dritter "Leben". Er ist immer noch da und wartet geduldig auf uns, doch straft keinen, der nicht kommen will. In ihm müssen Glaube und Vernunft nicht versöhnt werden. In ihm sind beide von Anfang an eins. Die Mitte aller Vernunft ist das Wunder.

Zuerst erschienen im Vatican-Magazin. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

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