München - Sonntag, 5. Juni 2022, 11:00 Uhr.
Was feiern wir an Pfingsten? An Pfingsten feiern wir eine geistige Explosion. Beim Pfingstereignis in Jerusalem kam ein neuer Geist in die Welt. Es war eine unerwartbare Explosion des Geistes.
Ich muss diese These erklären.
Wir müssen dazu zurück gehen zum Golgotha-Hügel, wo Jesus gekreuzigt wurde. Und ich möchte konkret anknüpfen an die Passionsspiele von Oberammergau. Wenn ich dort einmal Regie führen würde, dann würde ich Jesus und das Kreuz nicht ins Zentrum stellen und die Menge der Menschen rund um das Kreuz. Ich würde das Kreuz an den Rand stellen und Menschenmassen über die Bühne ziehen lassen. Denn es war am Vorabend eines großen jüdischen Feiertages und die Menschenmassen strömten in die Stadt. Die meisten Menschen schauten gar nicht hinauf zu den gekreuzigten Männern, die da an Balken hängen und langsam vor sich hin starben. Der eine oder andere schaut vielleicht doch hinauf zu den Gekreuzigten und kommentieren: „Haben sie mal wieder ein paar Terroristen erwischt und aufgehängt. Recht geschieht ihnen.“ Manche würden den berühmtesten Gekreuzigten erkennen und im Weitergehen sagen: „Jetzt haben sie ihn aufgehängt. Recht geschieht ihm! Warum war er so anspruchsvoll? Ja – fast arrogant.“ Nur ein paar Frauen und ein Mann stehen nahe bei dem Gekreuzigten. Und es stehen halt die Wächter, die sich langweilen. Jesus wäre nicht im Zentrum, sondern am Rand, belächelt, übersehen, vielleicht angespuckt.
Das Bild würde zeigen: Das Leben Jesu auf Erden endete mit seinem Scheitern, in Tragik. Und die paar Kenner Jesu würden sich fragen: „Wo sind denn seine Anhänger, seine Getreuen? Die Gruppe, die er um sich gesammelt hatte? Nur der eine einzige junge Mann war da, der sich besonders an Jesus gehängt hatte.
Und dann fünfzig Tage später geschieht die Explosion. Plötzlich sind die geflohenen Feiglinge auf den Plätzen Jerusalems und schreien vor Begeisterung: Unser Meister ist von den Toten auferstanden. Er ist uns erschienen. Er lebt und er ist der Erlöser der Welt, der Messias, den Israel seit Jahrhunderten erwartet hat. Sie werden zwar beschimpft, belächelt und auch bewundert. Es ist eine geistige Explosion. Aus den unverständigen und feigen Anhängern Jesu sind Zeugen geworden, Zeugen des auferstandenen Jesus Christus. Und sie geben dieses Zeugnis später weiter bis in ihren Tod. Es ist ein Wunder geschehen. Und das Wunder setzt sich bis heute fort. Pfingsten ist das größte Wunder, das Gott mit und in Jesus Christus gewirkt hat. Es setzt sich bis heute fort mit Schwierigkeiten, mit Rückschlägen, mit vielen Sünden, mit sehr vielen Sündern. Die Anhänger dieses Jesus sind weiterhin meist keine Heiligen, aber viele stehen dann doch zu ihm.
Und vor allem: Sie haben durch den Geist Jesu ein neues Menschenbild in die Menschheit gebracht. Aufgrund dessen, was ihnen Jesus immer wieder gesagt hatte, wurde die geistige Welt plötzlich auf den Kopf gestellt. Für die Jesusanhänger waren nicht mehr die Könige und Superreichen die Wichtigsten, sondern die Armseligen, die Kranken, die Dummen. Plötzlich galten neue Regeln. Ein neues Menschenbild kämpfte mit dem veralteten. Das neue Menschenbild setzte sich nie ganz durch. Aber viele Weise der Welt haben erkannt: Nur so funktioniert die Gesellschaft, wenn Gerechtigkeit und Liebe gelten. Aber natürlich sind nicht alle Menschen weise. Und vor allem die Jesusanhänger merken, dass sie selbst in ihren Inneren immer noch an den alten Klischees hängen, an Reichtum und Eitelkeit und Macht. Vor allem die Jesusanhänger merken, wo die Uhren falsch gehen. Und die Jesusanhänger wissen auch, dass es ein geschichtlicher langer Kampf ist und bleibt. Sie wissen, dass der Geist immer noch gegen den Ungeist kämpft, dass das alte Denken zäh ist.
Aber es war eine geistige Explosion. Damals und immer noch und immer wieder explodieren Funken durch die ganze Geschichte hindurch. Sie explodieren in großen Persönlichkeiten, die wir Heilige nennen, aber sie explodieren auch in Millionen von kleinen Jesusanhängern, die treu auf ihrem Weg bleiben, auch wenn sie ausgelacht werden. Jesus hatte ihnen ja auch keine Triumphzüge versprochen, sondern, dass sie ausgelacht und verfolgt werden. Pfingsten ist wie ein Feuerwerk, das nicht aufhört, sondern immer mal wieder Funken sprüht. Achten wir auf die Funken. Es ist der Heilige Geist, der die Welt verändert. Amen.
Pater Eberhard von Gemmingen SJ war von 1982 bis 2009 Redaktionsleiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.