Wien - Mittwoch, 6. September 2023, 7:00 Uhr.
In Argentinien hat mit Javier Milei ein Präsidentschaftskandidat mit guten Ergebnissen in den Vorwahlen für Aufsehen gesorgt, dessen politischen und ökonomischen Positionen diejenigen von Papst Franziskus – ebenfalls aus Argentinien – entgegenzustehen scheinen. CNA Deutsch sprach mit dem Priester Martin Rhonheimer, der lange Jahre als Professor für Ethik sowie politische Philosophie an der römischen Päpstlichen Universität Santa Croce lehrte. Dies ist der erste Teil eines zweiteiligen Gesprächs (zweiter Teil hier).
Der argentinische Präsidentschaftskandidat Javier Milei gilt, wenn man den Medienberichten vertrauen kann, als Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie. Sie sind Präsident des „Austrian Institute of Economics and Social Philosophy“ und somit auch ein Vertreter dieser österreichischen Schule. Was genau hat es damit auf sich?
Lassen Sie mich zuerst folgendes präzisieren: Obwohl ich mich mein ganzes Leben lang mit ökonomischen Fragen auseinandergesetzt und entsprechende Literatur gelesen habe, bin ich nicht Ökonom, sondern von Fach Philosoph wie auch studierter Historiker. Wie ich mit den Jahren erkannte, ist die österreichische Schule – wie sie traditionellerweise genannt wird – nicht nur Ergänzung und teilweise auch Korrektiv dessen, was heute an unseren Wirtschaftsfakultäten gelehrt wird, sondern auch von enormer sozialphilosophischer Bedeutung. Zudem besitzt sie, wie sich gerade in den letzte Jahren gezeigt hat, für das Verständnis aktueller Probleme ein enormes Potential.
Die Österreichische Schule der Nationalökonomie entstand in Wien, sie war Protagonistin der sogenannten marginalistischen Revolution (Grenznutzenlehre), ihre großen Köpfe waren Carl Menger, Eugen von Böhm-Bawerk, Friedrich von Wieser, danach Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek, der 1974 für seine Konjunkturtheorie den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Durch die Emigration von Mises in die USA – er war Jude – und die Lehrtätigkeit Hayeks zunächst in London, dann in Chicago (und erst viel später in Freiburg i. Br.) verlagerte sich die österreichische Schule in den angelsächsischen Sprachraum und ist dort heute als „Austrian Economics“ bekannt. Gleichzeitig veränderte sie aber auch ihr Gesicht: Sie begann nämlich im Staat das Wurzel aller Übel zu sehen, was schließlich zu einer prinzipiellen Ablehnung des Staates führte – und das war ganz und gar nicht im Sinne der Gründerväter der österreichischen Schule.
Soweit die Geschichte. Was ist in groben Zügen der Inhalt der „Österreicher“?
Sie stellen in ihren Analysen das handelnde, selbstverantwortliche Individuum in den Mittelpunkt, man nennt das „methodologischen Individualismus“. Sie interessieren sich nicht oder nicht in erster Linie für gesamtwirtschaftliche Aggregate, sondern fokussieren sich auf die wirtschaftlichen Entscheidungen von Individuen, die bestimmte Ziele verfolgen. Dabei wollen sie verstehen, welches die ökonomisch wirksamen Mittel sind, um diese Ziele zu erreichen. Das Verständnis von Ökonomie als eine Theorie des menschlichen Handelns – der Titel von Mises’ Hauptwerk lautet „Human Action“ – liefert viele Schnittstellen mit der klassischen aristotelischen und thomistischen Handlungstheorie und Ethik, auch wenn Mises selbst – meiner Meinung nach war das ein Fehler – diese in kantianisch-aprioristischer Weise verstand.
Da wir Menschen aufgrund unserer Natur danach streben, unser Leben zu verbessern, wollen die Vertreter der österreichischen Schule zeigen, dass dafür am besten das Koordinationssystem einer Marktwirtschaft geeignet ist, die auf dem Schutz der Eigentumsrechte und der damit verbundenen kapitalistischen Produktionsweise gründet. Theoretische Grundlage ist die sogenannte subjektive Wertlehre, die im Gegensatz zur klassischen Ökonomie besagt: der Wert eines wirtschaftlichen Gutes hängt nicht von objektiven Gegebenheiten wie den Produktionskosten (Adam Smith) oder der dafür verwendeten Arbeit (David Ricardo, Karl Marx), sondern allein von den (jeweils marginalen) Präferenzen derer, die diese Güter nachfragen, ab. Wirtschaft ist also sozusagen „Dienst am Konsumenten“ in einer Welt der Knappheit. Marktwirtschaftlich-wettbewerbliche Prozesse sind deshalb, wie vor allem Hayek zeigte, „Entdeckungsverfahren“. In ihnen spielt das freie und innovative unternehmerische Handeln, das mit Hilfe der Preissignale des Marktes die Präferenzen der Verbraucher mit der optimalen Verwendung knapper Ressourcen in Einklang bringt, die wesentliche Rolle. Gerade das können zentrale Planung oder politische Vorgabe und bürokratische Kontrolle nicht leisten. Die Marktwirtschaft ist deshalb von ihrem Wesen her gemeinwohlorientiert oder, wie Ludwig von Mises es formulierte, eine ständige Abstimmung der Konsumenten darüber, was produziert werden soll; Produzenten, die das Abstimmungsergebnis über längere Zeit ignorieren oder falsch interpretieren, scheiden aus dem Markt aus, was entsprechend Ressourcen für deren effizientere Verwendung freisetzt. Als Rahmen für die Marktwirtschaft braucht es klare rechtliche Regeln, die für alle gelten, und einen in diesem Sinne starken Staat, der diese Regeln auch durchsetzt. Staatliche Interventionen in den Marktprozess selbst jedoch führen zu Verzerrungen der Preissignale und damit des Allokationsprozesses und so zu ineffizienten Ungleichgewichten, die nach immer neuen staatlichen Interventionen verlangen – ein Spiel, das weitergeht, bis Marktwirtschaften dysfunktional werden und durch die Macht von mit der Politik verbandelten Interessengruppen ihre innovative und gemeinwohlfördernde Dynamik verlieren. Dieser Prozess ist gegenwärtig gerade in Europa weit fortgeschritten.
Wie wirkt sich die ökonomische Theorie auf die politische Philosophie der „Österreicher“ aus?
Mutet sich der Staat zu viel zu, ist das letztlich die Anmaßung eines Wissens, über das er bzw. staatliche Bürokratien gar nicht verfügen, da dieses Wissen nur dezentral vorhanden ist und in wettbewerblichen Prozessen mit Hilfe des Preissystems des Marktes erst entdeckt oder gar erst geschaffen wird. Das ist wie gesagt eine entscheidende Einsicht eines der wichtigsten Vertreter der österreichischen Schule, Friedrich August von Hayek. Wird sie nicht beachtet, wird staatliches Handeln – Politik und Bürokratie – oft mehr zerstören als aufbauen. Deshalb ist liberale Staatsskepsis wichtig – nicht Ablehnung des Staates, aber als klare Beschränkung seiner Aufgabe und Kontrolle institutionalisierter Macht durch institutionalisierte Gegenmacht und freie Medien ohne öffentlich-rechtliche Monopole – also strikte Gewaltenteilung. Und all dies im Interesse der individuellen Freiheit, aber auch des allgemeinen Wohlstands.
Jeder Liberale begegnet also der Staatsmacht mit Skepsis. Leider sind, wie anfangs kurz erwähnt, die neueren Vertreter der österreichischen Schule vor allem in den USA – unter dem Einfluss von Murray Rothbard, einem Schüler Mises’ – in eine anarchistische Richtung abgedriftet. Staatliche Macht wird hier nicht nur als potentiell immer gefährlich und deshalb zu beschränken und zu kontrollieren betrachtet, sondern als ein Übel, als der eigentliche Feind der Freiheit, von katholischen Libertären sogar als Teufelswerk gesehen. Angestrebt wird eine reine Privatrechtsgesellschaft, in der es nur noch marktwirtschaftliche Beziehungen zwischen freien Eigentümern gibt. Diese „anarchokapitalistischen“ Vertreter der österreichischen Schule, zu denen sich allem Anschein nach auch Javier Milei zählt – berufen sich auch für ihre politische Konzeption und ihre Rechtstheorie oft auf Ludwig von Mises, doch zu Unrecht. Denn Mises hielt den Staat für notwendig, und zwar nicht etwa nur in Sinne eines notwendigen Übels, sondern als einer für das menschliche Zusammenleben und gerade auch für die Sicherung der Freiheit unverzichtbaren und somit im positiven Sinne notwendigen Institution. Zudem war Mises der Ansicht, Anarchismus sei ein noch größerer und gefährlicherer Irrtum als Sozialismus. Auch Hayek vertrat die Meinung, dass es ohne staatliche Zwangsgewalt keine Freiheit geben könne – dass aber gerade deshalb auch die Freiheit durch die Macht des Staates immer gefährdet sei und vor allem durch das Recht gesichert werden müsse.
Milei bzw. seine wirtschaftspolitischen Positionen werden oft kontrastiert mit jenen von Papst Franziskus, der ja selbst aus Argentinien stammt. Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen den beiden? Gibt es vielleicht auch Gemeinsamkeiten?
Ich denke, beide verbindet die Überzeugung, dass die Wirtschaft nicht nur einigen wenigen Privilegierten nützen darf, sondern für alle Menschen jenen Wohlstand bringen sollte, der ein Leben in Würde und Freiheit ermöglicht. Franziskus betonte bereits als Erzbischof von Buenos Aires, dass der der menschlichen Würde angemessene Weg zum Wohlstand die eigene Arbeit sei, man also den Menschen ermöglichen müsse, von ihrer eigenen Arbeit und nicht von Wohltaten des Sozialstaates oder der Nächstenliebe zu leben. Ich vermute, Milei ist damit ganz einverstanden.
Doch damit hören die Gemeinsamkeiten wohl auf, denn Franziskus ist durch das peronistische Argentinien geprägt, also von einem Denken beeinflusst, das die Wirtschaft als eine Art Nullsummenspiel betrachtet. Das heißt als ein „Spiel“, in dem man – wie bei „Monopoly“ – nur dann dazugewinnen kann, wenn andere gleichzeitig entsprechend verlieren. Deshalb meinte im Jahre 1948 der damalige Staatspräsident Juan Perón in einer berühmten Rede vor den versammelten und ihm applaudierenden Bischöfen des Landes, er befinde sich ganz auf der Linie der katholischen Soziallehre, wenn er die Meinung vertrete, die Armen könnten nur reicher werden, wenn die Reichen ärmer werden – also durch Umverteilung. So verstehen wir besser, warum Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si’“ schrieb, um das Leben in den armen Ländern zu verbessern, bräuchte es weniger Wirtschaftswachstum oder gar eine Rezession in den reichen Ländern.
Präsident Perón verteilte Wohltaten an die ihn wählende Arbeiterschaft und schröpfte Unternehmen und Reiche – er ruinierte damit sein Land. Heute sind die Peronisten in Argentinien immer noch an der Macht, nach einigen gescheiterten Versuchen, einen neuen Kurs zu finden, haben sie durch ihre Klientelwirtschaft – deren Teil auch die mächtigen und reichen, aber jeden Strukturwandel blockierenden Gewerkschaften sind – das Land mittlerweile an den Rand des Abgrunds manövriert. Hier legt Milei den Finger auf die entscheidenden wunden Punkte. Ob allerdings seine praktischen Rezepte die richtigen sind und Erfolg haben können, steht auf einem anderen Blatt. Er wird Mehrheiten wie auch gangbare innenpolitische Wege, um die Hauptübel seines Landes zu überwinden, finden und das Vertrauen des Auslandes und von Investoren gewinnen müssen. Um das zu erreichen, genügt eine richtige Analyse nicht und eine doktrinäre Ablehnung des Staates wäre kontraproduktiv.
Kritik an libertären Ansichten kommt oft unter Berufung auf die katholische Soziallehre. Sie sind eher libertär, stehen als Priester aber auch mit beiden Füßen auf dem Boden der katholischen Lehre. Wie passt beides zusammen?
Erlauben Sie mir zunächst zu präzisieren: Als „libertär“ würde ich mich selbst nie bezeichnen. In den USA, wo „liberal“ eine Haltung bezeichnet, die eine Mischung von „linksliberal“ und „sozialdemokratisch“ ist, benutzt man das Wort („libertarian“) hin und wieder, um zu bezeichnen, was in Europa „liberal“ oder besser „klassisch liberal“ heißt. Am liebsten bezeichne ich mich als katholischen Liberalen. Damit stehe ich – wie ja schon das bereits Gesagte zeigen sollte – zumindest ebenso auf dem Boden der katholischen Soziallehre wie jene, die Marktwirtschaft und Kapitalismus ablehnen. Jemandem den Vorwurf zu machen, seine Ansichten in wirtschaftlichen oder sozialpolitischen Fragen widersprächen der katholischen Soziallehre, kommt oft einem Versuch der Einschüchterung gleich. Die Vielschichtigkeit, geschichtliche Variabilität und inneren Widersprüche dieser Lehrtradition werden einfach ausgeblendet und man pickt heraus, was einem passt. Damit bleibt nicht nur eben jene Vielschichtigkeit und Variabilität der katholischen Soziallehre unberücksichtigt; ebenso wird auch die legitime Freiheit und Pluralität innerhalb der Kirche gerade in Fragen missachtet, die nicht wesentlich zum Glauben oder zur christlichen Morallehre gehören.
Können Sie ein paar Beispiele nennen?
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Ich erinnere erneut an Papst Franziskus Vorschlag in der Enzyklika „Laudato si’“, in einigen Teilen der Welt eine „gewisse Rezession zu akzeptieren“, weil dies helfen könne, dass anderswo „ein gesunder Aufschwung stattfinden kann“ (Nr. 193). Ähnliches hatte schon Paul VI. 1967 in seiner Enzyklika „Populorum progressio“ vorgeschlagen, nämlich eine globale Umverteilung von den reichen zu den armen Ländern. Gekommen ist es ganz anders: Infolge der Globalisierung und von mehr Kapitalismus und Marktwirtschaft in jenen Ländern, in denen Hunderte von Millionen von Menschen der Armut entkommen sind, hat sich der Abstand zwischen „reichen“ und „armen“ Ländern dramatisch verringert, so sehr, dass man heute – wie Hans Rosling und auf andere Weise auch der Ungleichheitsforscher Branko Milanović gezeigt haben – die Welt schlicht nicht mehr in „reiche“ und „arme“ Länder aufteilen kann. Wohlstand für die Massen beruht auf einer innovativen und produktiven Wirtschaft, nicht auf Umverteilung.
Die Enzyklika „Centesimus annus“ von Johannes Paul II., veröffentlicht im Jahre 1991, wurde dann dieser Tatsache gerecht und verteidigte praktisch die gegenteilige Position von jener Pauls VI., nämlich, arme Länder könnten sich dadurch am besten entwickeln, dass sie sich in das internationale Handelssystem integrierten. Genau das ist es, so scheint mir, was Papst Franziskus nicht versteht. Für ihn sind Kapitalismus und Marktwirtschaft eine „Wirtschaft, die tötet“ (vgl. dazu meinen FAZ-Artikel aus dem Jahr 2016).
Ein anderes Beispiel: Wie ich vor zwei Jahren in einem Artikel in der Herder Korrespondenz (7/2021) gezeigt habe, enthält die Enzyklika „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus Aussagen über das Privateigentum, die mit der Tradition der Soziallehre der Kirche unvereinbar sind. Dafür konnte ich mich auf die erste Sozialenzyklika berufen – sie ist gleichsam das Gründungsdokument der modernen kirchlichen Soziallehre –, die unter dem Titel „Rerum novarum“ im Jahre 1891 von Leo XIII. veröffentlicht wurde. Darin orientierte sich jener Papst nachweislich an der Eigentumstheorie von John Locke, der übrigens auch für die heutigen libertären „Austrians“ in den USA als liberaler Klassiker gilt, vermutlich auch für Javier Milei.
Locke war der Meinung – und so schrieb er es in seinem „Second Treatise on Government“ –, Gott habe die Güter dieser Welt zum Nutzen aller Menschen geschaffen. Daraus schließt er aber nicht, man müsse sie deshalb vergemeinschaften oder denen, die durch ihre Arbeit Reichtum erworben haben, etwas wegnehmen, also Eigentumsrechte einschränken, um den angeblichen Überfluss an die Ärmeren umzuverteilen. Letzteres entsprach der Ansicht antiker Stoiker, von denen sich einige Kirchenväter beeinflussen ließen. Sie werden hin und wieder in päpstlichen Dokumenten – wie in „Populorum progressio“, aber auch in „Fratelli tutti“ von Papst Franziskus – als die großen Autoritäten zitiert. Vielmehr war Locke – gerade umgekehrt – der Meinung, durch die Arbeit erwerbe man einen Eigentumstitel an deren Früchten und könne dadurch noch produktiver werden, was allen zugutekomme. Genau durch diesen „kapitalistischen“ Prozess, so die Idee, können schließlich alle an den Gütern dieser Erde teilhaben. Schließlich sind ja – abgesehen von Land und Rohstoffen – diese „Güter“ nicht einfach vorhanden, sie werden vielmehr erst durch produktive Arbeit geschaffen (selbst Rohstoffe sind nicht einfach da, sondern müssen in der Regel erst durch harte Arbeit und Erfindungsgeist nutzbar gemacht werden).
Die sich später entwickelnde katholische Soziallehre gründet auf dieser positiven Sicht des Privateigentums und der produktiven menschlichen Arbeit, wenn auch, je nach Zeitgeist, nicht ohne Widersprüche und Inkonsequenzen. Das Prinzip der allgemeinen Bestimmung der Güter schränkt also das Recht auf Privateigentum nicht ein, wie es in „Fratelli tutti“ heißt; gemäß „Rerum novarum“ ist es vielmehr gerade umgekehrt: Das Privateigentum und sein rechtlicher Schutz sind gerade das Mittel, damit das Prinzip der universalen Bestimmung der Güter verwirklicht werden kann.
Wie schaut es mit der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland aus, die sich doch auch auf die katholische Soziallehre beruft?
Mit wirtschaftlicher Freiheit, Marktwirtschaft und Wettbewerb hat sich die Kirche immer etwas schwer getan. Man denke nur – ein weiteres Bespiel für die geschichtliche Variabilität der katholischen Soziallehre – an die korporatistische Konzeption von „Quadragesimo anno“ (1931), die in der Tradition des Solidarismus des Jesuiten Heinrich Pesch als wirtschaftliches Ordnungsprinzip dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb die „soziale Gerechtigkeit“ und eine staatliche gelenkte, als solidarischer empfundene korporatistische Organisation der Gesellschaft entgegenstellte. Noch bis weit in die 1950er Jahre hinein hielt dies Vertreter der katholischen Soziallehre wie auch katholische Politiker vor allem in Deutschland – zu nennen sind hier vor allem Oswald von Nell-Breuning und der junge Anton Rauscher, beide ebenfalls Jesuiten – davon ab, sich mit dem Programm einer „sozialen Marktwirtschaft“ im Sinne Ludwig Erhards – der „sozial“ immer klein schrieb – anzufreunden.
Erhard hatte sich zunächst mit gegenüber der Marktwirtschaft ablehnend eingestellten und planwirtschaftliche Ideen favorisierenden Christdemokraten konfrontiert gesehen und musste sich in seiner eigenen Partei gegen diese durchsetzen. Anton Rauscher – wie etwa auch Johannes Messner in Österreich – schwenkte dann Richtung Marktwirtschaft und einer positiven Sicht des Wettbewerbs um, Nell-Breuning hingegen wandte sich nach seiner Abkehr vom ständestaatlichen Modell von „Quadragesimo anno“ der SPD und den Gewerkschaften zu, blieb also seinem früheren „Antikapitalismus“ weitgehend treu. Später entstand dann – warum auch immer – die sich hartnäckig haltende Legende, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft habe seinen Ursprung in der katholischen Soziallehre, was nicht stimmt und leicht zu widerlegen ist.
All das zeigt, dass die katholische Soziallehre kein geschlossenes Lehrgebäude ist, sondern, sobald sie konkret wird, historisch zum Teil widersprüchliche Ansätze vertritt. Sie schöpft eben gerade nicht aus einem vorgegebenen Offenbarungsschatz, sondern bleibt in jeder ihrer geschichtlichen Ausgestaltungen weitgehend von zeitgenössischen Ansichten zu Fragen der Wirtschaft und Sozialpolitik geprägt. Die konkreten Erscheinungsformen der katholischen Soziallehre – nicht ihre zeitlosen Grundprinzipien – sind deshalb in allen ihren Entwicklungsstadien zeitgeistig gewesen. Gleichzeitig hat die Kirche jedoch immer betont, keine konkreten, „technischen“ Lösungen vorlegen zu wollen, denn das sei nicht ihre Aufgabe.
Meiner Meinung nach kann man deshalb einen Katholiken nicht im Namen des katholischen Glaubens darauf verpflichten, in solchen oft sehr konkreten, „technischen“, politischen und ökonomischen Fragen, die in den kirchlichen Dokumenten mit oft klaren Optionen sehr wohl zur Sprache kommen, auf sein legitimes Recht zu verzichten, eine persönliche und – immer im Rahmen der Prinzipien der katholischen Morallehre – zuweilen auch divergierende Meinung zu haben.
In diesem Sinne verstehe ich auch meine eigene Tätigkeit und die Gründung des Austrian Institute. Unsere Arbeit ist von der Überzeugung geleitet, dass die christlichen Ideale der Gerechtigkeit und Solidarität ohne das Verständnis ökonomischer Zusammenhänge nicht verwirklicht werden können. Und zweitens: Dass Marktwirtschaft und Unternehmertum, gründend auf wirtschaftlicher Freiheit und Kreativität, die entscheidenden Faktoren für Wohlstand und auch für eine Gesellschaft sind, die dem christlichen Menschenbild entspricht. Auf der Website des Institutes finden Sie einen Abschnitt „Unsere Prinzipien“ wie auch eine ganze Seite „Warum die Österreichische Schule der Nationalökonomie?“, wo Sie dies alles etwas ausführlicher nachlesen können.
Kurz: Es gibt meiner Ansicht nach verschiedene Positionen, die im Einklang mit den Prinzipien der katholischen Soziallehre stehen. Einige dieser Positionen halte ich persönlich zwar für problematisch, weil sie der Funktion freier Märkte und der kapitalistischen Produktionsweise nicht gerecht werden und dagegen zu viel vom Staat und seinen Interventionen in den Marktprozess erwarten. Aber ich würde nicht behaupten, sie widersprächen dem, was ein Katholik aufgrund seines Glaubens für richtig und wahr halten müsse. Die Achtung der Freiheit, auch der Freiheit, in solchen Dingen zu irren, wovon ja der Glaube nicht betroffen ist, erscheint mir ein viel höheres Gut zu sein.
Den zweiten Teil des Interviews finden Sie hier.
Prof. Martin Rhonheimer (geb. 1950 in Zürich), hat Geschichte, Philosophie und politische Wissenschaft in Zürich und Theologie in Rom studiert. Er promovierte bei Hermann Lübbe, dessen Assistent er war. 1983 wurde er in Rom von Papst Johannes Paul II. zum Priester geweiht. Von 1990 bis 2020 war er Professor für Ethik und politische Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom, der er als Gastprofessor verbunden bleibt.
Er ist u. a. Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Friedrich August von Hayek-Gesellschaft und der Ludwig-Erhard-Stiftung.
2014 gründete er zusammen mit anderen das Austrian Institute of Economics and Social Philosophy mit Sitz in Wien, dessen Präsident er ist. Er lebt in Wien.
Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Sammelbänden, vornehmlich auf dem Gebiet der Ethik und politischen Philosophie sowie der Wirtschafts- und Sozialphilosophie, darunter mehrere Bücher, die zum Teil in verschiedene Sprachen übersetzt worden sind. Zuletzt: Christentum und säkularer Staat, Freiburg 2012; The Common Good of Constitutional Democracy, Washington D.C. 2013; Homo sapiens. Die Krone der Schöpfung, Wiesbaden 2016; Libertad económica, capitalismo y ética cristiana, Madrid 2017.