26. August 2020
Stehen Katholiken heute unter einem Rechtfertigungsbedürfnis? Müssen wir uns gegenüber Kollegen, Freunden, Bekannten und Verwandten erklären, warum wir – immer noch – nicht aufgeklärte, moderne und liberale Kulturchristen, sondern römisch-katholisch sind? Am 4. Juni 1970 hielt ein Theologieprofessor aus dem schönen Regensburg an der Katholischen Akademie München einen Vortrag zu dem Thema: "Warum bin ich noch in der Kirche?" Die Frage stellt sich vielleicht einigen von uns: Warum sind Sie eigentlich noch Mitglied der Kirche? Und warum bin ich noch in der Kirche?
Heute erinnert Deutschland zuweilen an ein anheimelnd freundliches Paradies für liturgische Nostalgiker. Damit meine ich die Freunde der liturgisch gestaltungsbewussten Nachkonzilszeit. In Gottesdiensten vernehmen gläubige Katholiken oft frei formulierte, selbst ausgedachte Gebete. Mir kommt auch mein erstes Semester in den Sinn. In einem Einführungsseminar zur Theologie gab ein Kommilitone Auskunft: "Religion ist doch mehr so ein Gefühl." Auf meiner Stirn zeichnete sich ein unsichtbares Fragezeichen ab. Eingeladen wurde sogleich zu bunten Workshops, "Persönlichkeitsorientierten Kursen" und "Mitmach-Gottesdiensten". Noch heute höre ich ernsthaft vorgetragene Fürbitten, politisch korrekt, verschachtelt konstruierte Sätze, die vor Gottes Majestät gebracht werden und wahrscheinlich die sogenannte Lebenswirklichkeit authentisch abbilden sollen. Eifrige Vorbeter mühen sich redlich, einige erwidern murmelnd: "Wir bitten dich, erhöre uns!" Danach, zwischendurch und immer wieder werden Lieder gesungen. Die Orgel donnert, manchmal spielt auch eine Band. Am Ende werden Vermeldungen aller Art vorgetragen. Manchmal werden Gebete auch vergessen oder ausgelassen. Warum bin ich eigentlich noch immer in der Kirche? Ich verstehe die Frage nur zu gut. Warum eigentlich?
Warum war ich vor etwa zehn Jahren ratlos und konsterniert, als ein fortschrittlicher Priester im fortgeschrittenen Lebensalter das Hochgebet gewissermaßen fortentwickelte? Er wollte so gern in Gemeinschaft mit dem Papst, den Bischöfen und auch mit der damaligen hannoverschen evangelischen Landesbischöfin sein. Der eigenwillige Pensionär hatte Frau Käßmann offenbar ins Herz und zugleich beherzt ins Hochgebet der Kirche mit eingeschlossen. Der mittlerweile verstorbene Geistliche war im Grunde ein Visionär. Die Vermutung liegt nahe, nicht nur, weil zwischenzeitlich der Ex-Priester und Ex-Katholik Eugen Drewermann, wenn auch beiläufig und unbedacht, zum "verkannten Propheten" erhoben wurde – er selbst sieht sich aber nicht so. Die neue ökumenische Lebenswirklichkeit jedoch beschrieb der Hildesheimer Bischof am Reformationstag 2018. Im evangelischen Dom zu Braunschweig sagte er im Lauf der Predigt: "So freuen wir uns, dass Getaufte etwa als konfessionsverbundene (Ehe-)Paare sich in evangelischen und katholischen Kirchen zuhause fühlen und am Abendmahl und an der Kommunion teilnehmen." Verschiedenheit verbindet? Die neue Gastfreundschaft macht jede Konversion entbehrlich. Wir gehen aufeinander zu, wir gehen miteinander, wir gehen voran – und schwimmen gewissermaßen auf den Wellen der Sympathie. Auch dazu gibt es ein fröhliches "Neues geistliches Lied".
Die Älteren unter uns werden sich erinnern: "Wenn das Rote Meer grüne Welle hat, dann ziehen wir frei, dann ziehen wir frei heim aus dem Land der Sklaverei. / Wenn unsre Tränen rückwärts fließen, dann bleiben wir hier, dann bleiben wir hier, weil sich das Land gewandelt hat. / ... Wenn unsre Träume Früchte tragen, dann bleiben wir hier... / Wenn es dreizehn schlägt und die Zeit zerbricht, dann bleiben wir hier..." Zugegeben, die inhaltliche Deutung dieses Aufbruchssongs könnte zu einer Herausforderung werden. Die jugendbewegte deutsche Nachkonzilskirche mag das noch verstanden haben. Auf der beschaulichen Insel Spiekeroog hörte ich vor rund zehn Jahren in einer Werktagsmesse: "Ich glaub an einen Gott, der singt, von dem alles Leben klingt". Der Gastpriester spielte Gitarre und kannte alle Strophen. Ja, wir wissen – "Wo man singt, da lass dich nieder …", fromme Menschen kennen frohe Lieder! Die Frage: Warum bin ich noch in der Kirche? – stellt sich wirklich, denn das neue spirituelle Wellnessbad befindet sich nicht nur am Nordseestrand. Ein freundlicher Gottesmann predigte am Himmelfahrtstag: "Ich stehe für eine sympathische Kirche." Ein Motto für diese Zeit? Ja, seid nett zueinander! Liebe ohne Wahrheit, gesegnete Zweisamkeit für alle, ob mit oder ohne Trauschein? Fernöstliche Meditationspraktiken inklusive, Kuscheldecken statt Kniebänke und parfümiertes Weihwasser für alle? Warum staunte ich einst, als ein kluger Kollege freimütig bekannte, das letzte "Memorandum" zur Erneuerung von Theologie und Kirche aus einem wichtigen Grund nicht unterzeichnet zu haben – nämlich weil die Forderungen nicht weit genug gingen?
"Wir können Aufbruch", bekannte der Hildesheimer Bischof Dr. Heiner Wilmer in seinem ersten Hirtenwort, sympathisch, zupackend, gut. Ja, können wir. Trotzdem dachten manche Hörer an ein anderes Mutmach-Wort: "Wir schaffen das", erklärte im Jahr 2015 die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie erinnern sich bestimmt. Wer mag mit "wir" gemeint sein? Das hatten schon die Dichter eines anderen "Neuen geistlichen Liedes" nicht genau festgelegt: "Wir sind gemeinsam unterwegs." Immer voran, sicherlich. Auch nach oben natürlich, begeistert, frisch und motiviert – offen für Begabungen und Talente wie das Bistum Essen: "Kirche kann Karriere". Ich frage mich also: Warum bin ich noch in der Kirche? Schließlich war ich, ob Philosophie oder Theologie lehrend, auch stets mit dem Apostel Paulus einig: "Wir dagegen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit." (1 Kor 23–24) Mit allem, was ich philosophisch erwogen und theologisch überlegt habe – damals wie heute –, kann ich mich vollständig geirrt haben und weiterhin irren. Dessen bin ich mir gewiss. Aber kann Kirche Karriere? Paulus hat davon nichts gesagt, Thomas von Kempen auch nicht – und der Herr am See Genezareth ebenso wenig.
Nun stellen Sie sich vor: Ich bleibe einfach unbeirrt, heiter und gelassen in der Freude am Glauben. Die Frage: "Warum bleibe ich noch in der Kirche?" beantworte ich nämlich mit Worten aus dem Jahr 1970: "Ich bin in der Kirche, weil ich daran glaube, dass nach wie vor und unaufhebbar durch uns, hinter »unserer Kirche« »Seine Kirche« lebt und dass ich bei Ihm nicht anders stehen kann, als indem ich bei und in Seiner Kirche stehe. Ich bleibe in der Kirche, weil ich trotz allem daran glaube, dass sie zutiefst nicht unsere, sondern eben »Seine Kirche« ist. … weil die Kirche es wert ist, dass sie geliebt und durch Liebe allzeit neu über sich hinaus zu sich selbst verwandelt wird – das ist der Weg, auf den Verantwortung des Glaubens auch heute weist."
Der Name des hier zitierten Regensburger Dogmatikprofessors lautet übrigens Joseph Ratzinger. Seine Antwort nehme ich dankbar auf. Ratzinger – Benedikt XVI. ist, gemeinsam mit dem heiligen Augustinus, mein Vorbild im Leben wie im Glauben – und im theologischen Denken. Erinnern dürfen wir uns ebenso in den Wirrnissen dieser Zeit in Kirche und Welt auch an die Worte, die der heilige Papst Johannes Paul II. zu Beginn seines Pontifikates wählte: "Non abbiate paura!", das heißt: "Habt keine Angst!" Und nicht zuletzt ergeht an uns alle in jeder heiligen Messe in allen Sprachen der Ruf: "Sursum corda!" Wir antworten darauf: "Habemus ad Dominum." Sodann lädt uns der Priester ein: "Gratias agamus Domino, Deo nostro!" Wir danken dem Herrn, unserem Gott. Wir feiern Eucharistie. Denn so, genau so, ist es würdig und recht, so und nicht anders. Darum bleibe ich römisch-katholisch – und Sie vielleicht auch?
Dr. Thorsten Paprotny lehrte von 1998 bis 2010 am Philosophischen Seminar und von 2010 bis 2017 am Institut für Theologie und Religionswissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. Er publizierte zahlreiche Bücher im Verlag Herder. Gegenwärtig arbeitet er an einer Studie zum Verhältnis von Systematischer Theologie und Exegese im Werk von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. Er publiziert regelmäßig in den "Mitteilungen des Instituts Papst Benedikt XVI.".
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— CNA Deutsch (@CNAdeutsch) January 12, 2019
Hinweis: Meinungsbeiträge spiegeln die Ansichten der Autoren wider, nicht unbedingt die der Redaktion von CNA Deutsch. Erstveröffentlichung am 19. Januar 2019.