Oberndorf - Dienstag, 24. Dezember 2024, 7:00 Uhr.
Sie müssen dringend zum Bahnhof, doch es ist noch Zeit für ein letztes Selfie. Und so stehen sie da auf der kleinen Teerstraße, oben auf dem Deich, der die Stadt von dem Fluss trennt, der wiederum zwei Länder trennt. Sie hält ihre rote Glühweintasse in der Hand, er das Handy. Ein letztes Foto, ein letzter Schluck aus der Glühweintasse. Der Bahnhof ist nicht weit.
Das junge Paar hatte erst vor einer Woche geheiratet und wollte für die Flitterwochen nach Europa fliegen, um einmal in ihrem Leben einen „echten Weihnachtsmarkt“ zu sehen. „Wir hatten die Wahl, entweder nach Budapest oder nach Salzburg“, sagt die frischvermählte Braut, „aber da mein Mann unbedingt einmal die Alpen sehen wollte, haben wir uns für Salzburg entschieden“. – „Aber warum seid ihr dann ausgerechnet nach Oberndorf gekommen“, frage ich, der aufdringliche EWTN-Reporter, in dem Wissen, dass die Bahn nicht ewig warten würde. „Wir lieben das Lied ‚Stille Nacht‘ und da wir ohnehin schon mal in der Gegend waren…“, sagt die Frau und lacht.
Es ist ein kalter Freitagabend in der Woche vor dem Dritten Advent. Für das Wochenende war Schnee angekündigt, doch an diesem Tag blinkten und leuchteten die Lichter, Kerzen und Feuer des Oberndorfer Adventmarktes auch auf grüner Wiese in voller Pracht. Hier, in dieser kleinen Stadt, etwa 30 Autominuten nördlich von Salzburg, direkt am Fluss Salzach, die als nasse Grenze zwischen den Bundesrepubliken Österreich und Deutschland dient, liegt der Geburtsort des wohl berühmtesten Weihnachtsliedes. Im Jahr 1818 hatte hier der Priester Joseph Mohr am Weihnachtsabend erstmals das Lied „Stille Nacht“ auf seiner Gitarre vorgespielt, nachdem der Lehrer Franz Xaver Gruber ihm eine Melodie zu seinem Text komponiert hatte. Mehr als 200 Jahre später wurde das Lied bereits in etwa 300 Sprachen übersetzt. Vor vier Jahren adelte Papst Franziskus „Stille Nacht“ gar als sein „Lieblingslied“.
Die musikalische Faszination von „Stille Nacht“
„Wer singt, betet doppelt“, hatte einst der Kirchenvater Augustinus gesagt. Auf dem Weg nach Oberndorf treffen wir im Stift Klosterneuburg bei Wien auf Johannes Zeinler, dem Stiftsorganisten der Augustiner Chorherren. Zeinler unterrichtet außerdem an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien. „Da, wo Worte dann ein Ende finden, kommt Musik dazu. Und da, wo Musik nicht ganz weiterkommt, können wieder Worte helfen.“
Wie viele Musiker hat auch Johannes Zeinler eine besondere Beziehung zu „Stille Nacht“. Für ihn sei es „mit Abstand das emotionalste Lied, das ich als Musiker zu spielen habe im ganzen Kirchenjahr“. „Es ist eigentlich fast so wie eine Hymne, etwas ganz Besonderes, was die Leute zusammenschweißt“, so der Musiker weiter. „Und ich glaube auch, dass viele Leute zu Weihnachten in die Kirche gehen, um dieses Lied singen zu können oder miterleben zu können, selbst, wenn sie es selbst nicht mitsingen können.“ Denn insgesamt sei „Stille Nacht“ für Laien „gar kein so leichtes Lied, weil es einen relativ großen Stimmumfang benötigt“, weiß Zeinler. Doch der „Wiegenliedcharakter“ dieses Liedes ziehe die Menschen an und gebe ihnen das Gefühl von Geborgenheit.
Der Geburtsort von „Stille Nacht“
Wenn man in Oberndorf reinfährt, wird man früh darauf hingewiesen, wer hier seine Spuren hinterlassen hat. Es gibt ein „Stille-Nacht-Museum“, einen „Stille-Nacht-Friedensweg“, ein „Stille-Nacht-Stüberl“ und natürlich einen „Stille-Nacht-Platz“. Dort steht im Zentrum, mit der Hausnummer 1, die Stille-Nacht-Kapelle.
„Dieser Ort ist deshalb sehr besonders, weil hier die St.-Nikolaus-Kirche in Oberndorf gestanden ist, in der 1818 zum ersten Mal das Lied ‚Stille Nacht‘ erklungen ist“, erklärt Josef Bruckmoser, Vize-Präsident der „Stille-Nacht-Gesellschaft“. Ja, auch das gibt es. Bruckmoser war von 1978 bis 1989 Pressereferent der Erzdiözese Salzburg, heute arbeitet der 70-jährige Journalist noch als freier Mitarbeiter bei die Salzburger Nachrichten.
Die ursprüngliche Nikolauskirche musste man nach schweren Hochwasserschäden 1910 abreißen, man hat sie an anderer Stelle wieder neu aufgebaut, weiter flussaufwärts. Mithilfe des Schutts der alten Kirche wurde am ursprünglichen Ort ein Hügel angelegt. Darauf steht heute die „Stille-Nacht-Kapelle“. Das kleine Oktogon mit dem Glockendach wird für liturgische Zwecke allerdings nicht genutzt; es gehört der Stadtgemeinde Oberndorf, manchmal finden darin standesamtliche Trauungen statt.
Was vor 200 Jahren an diesem Ort geschah, als die Kirche noch stand und Joseph Mohr auf seiner Gitarre der Welt zum ersten Mal „Stille Nacht“ vorspielte, weiß keiner so genau, sagt Josef Bruckmoser. „Aber es ist eine Tatsache, dass irgendwie die Orgel nicht in Ordnung war und deshalb Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber dieses Lied miteinander geschrieben haben.“
Den Text hatte Mohr bereits 1816, zwei Jahre vorher, in seiner damaligen Gemeinde in Mariapfarr gedichtet. „In seiner Not ist er dann zu dem Schullehrer Franz Xaver Gruber gegangen und hat gesagt: Du, kannst du nicht eine schöne Melodie dazu erfinden, dann könnten wir das heute Abend singen“, erzählt Bruckmoser. „Es ist zum ersten Mal wahrscheinlich nicht in der Christmette gesungen worden, wie viele annehmen, sondern nachher vor der Krippe. Es war ja damals nicht so üblich, mit der Gitarre in der Kirche zu spielen. Das war im Gegenteil verpönt, weil die Gitarre war ein weltliches Instrument.“
Die Stille-Nacht-Kapelle nicht nur als Fotomotiv
In dieser Woche vor dem Dritten Advent herrscht in Oberndorf Hochbetrieb. Von Ende November bis Heiligabend findet hier der Stille-Nacht-Adventmarkt statt. Sobald die Sonne untergeht, werden kleine Leuchtfeuer entzündet, die Menschen scharen sich dann um die aufgestellten Feuertonnen. Karoline Schink leitet das Tourismusbüro von Oberndorf und erzählt, dass jährlich etwa 60.000 Besucher in den kleinen Ort kommen.
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„Wir haben viele internationale Gäste, viele Amerikaner, Neuseeländer, auch Australier, und natürlich Europäer, Deutsche vorwiegend“, sagt sie. „Die Leute lieben unser ‚Stille Nacht‘-Lied“. Sie fährt fort: „Es ist ein Lied, das verbindet und das uns ein gutes Gefühl gibt. Es ist ein Friedenslied. Und das spürt man einfach, wenn man es hört und wenn man es singt.“
„Wenn es geschneit hat, mache ich gerne Fotos von der Kapelle und mache daraus zum Beispiel diese Magneten mit dem Bild drauf und habe einfach große Freude daran, wenn diese Artikel von unseren internationalen Kunden gekauft werden und dann beispielsweise in den USA oder auch in Italien am Kühlschrank hängen“, sagt Christoph Thür, der als Kleinkind nach Oberndorf kam, hier aufgewachsen ist und einen „Stille-Nacht-Shop“ betreibt. „Das Lied ist ein Klassiker“, sagt er, und meint damit „Stille Nacht“, obwohl gerade aus den Lautsprecherboxen des Adventmarktes das Lied „Last Christmas“ ertönt, welches eine Rockband aus der Gegend auf einer kleinen Bühne in der Mitte des Marktes zum Besten gibt.
Die Stille-Nacht-Gedächtniskapelle auf dem Hügel in der Mitte des Platzes schätzt der Oberndorfer allerdings nicht nur als Fotomotiv. „Hier versammeln sich am Heiligen Abend mehrere tausend Menschen und singen das Lied ‚Stille Nacht‘ in allen sechs Strophen, jeder in seiner eigenen Landessprache.“ Gerademweil das Lied ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Hoffnung stifte, ist es nach Christoph Thürs Meinung 2011 völlig zurecht von der UNESCO zum immateriellen Weltkulturerbe erklärt worden. Er ist sich sicher: „Das wird auch noch die nächsten 200 Jahre das bekannteste Weihnachtslied bleiben.“
Ein Friedenslied, das aktuell bleibt
Pfarrer Nikolaus Erber ist vor 22 Jahren nach Oberndorf gekommen. Für ihn ist „Stille Nacht“ gar „eine Meditation über die Texte der Christmette“. Im Liedtext sei zum einen der Jesaja-Text verwoben, in dem der Friede Gottes prophezeit wird. Auch die zweite Lesung aus dem Titusbrief mit der Ankündigung, dass „die Menschenfreundlichkeit Gottes“ erschienen sei, sieht Pfarrer Erber in „Stille Nacht“ verarbeitet. „Und dann die Verkündigung im Evangelium, die Geburt Jesu in Bethlehem und die Verkündigung an die Hirten durch die Engel.“
Der Priester muss lachen, als er gefragt wird, ob er das Lied überhaupt noch hören könne. „Ich schätze dieses Lied sehr“, sagt er schließlich. „Ich glaube, es hat die Kraft, dass es alle anderen Dinge überdauert, alles, was da so verkitscht wird oder wofür es sonst verwendet wird. Denn die Botschaft des Liedes bleibt. Und die Melodie ist unvergesslich.“
Josef Bruckmoser von der Stille-Nacht-Gesellschaft betont derweil: „Das Lied gilt als Friedenslied, weil es einfach in der ganzen christlichen Welt verbreitet ist. Es gibt ja diese Geschichten aus dem Weltkrieg, wo dann in der Christnacht tatsächlich an der Front Ruhe herrschte und ‚Stille Nacht‘ gesungen wurde.“ In der muslimischen Welt sei das Lied freilich nicht so sehr verbreitet, da es dort keinen Bezug zu Weihnachten gebe. „Aber insgesamt in der westlichen Welt, wo wir in Europa die Situation haben mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, da ist dieses Lied etwas, das auch dann wohl am Heiligen Abend dort eine Rolle spielen wird“, so Bruckmoser.
Der Oberndorfer Pfarrer ergänzt: „Ja, das ist die Grundbotschaft, dass mit diesem Jesus Gott uns nahegekommen ist, dass der Friede gekommen ist.“ Aber „es fängt bei mir selber persönlich an, dass dieser Friede, den Jesus gebracht hat, diese Versöhnung schon in meiner Beziehung zu ihm aktuell wird. Und diese Sehnsucht ist in allen Menschen drinnen. Die Menschen wollen keinen Krieg.“
Die zentrale Weihnachtsbotschaft
Mittlerweile ist es dunkel geworden in Oberndorf. Auf der kleinen Bühne in der Mitte des Adventmarktes schlägt die Rockband gerade die ersten Töne von „Zombie“ von den „Cranberries“ an. Auch das ist ein Friedenslied, allerdings aus den 1990er Jahren, als in Nordirland der Bürgerkrieg zwischen irischen Nationalisten und britischen Unionisten tobte, als Katholiken und Protestanten sich noch gegenseitig töteten. Unterdessen stehen die Menschen auf dem Oberndorfer Stille-Nacht-Adventmarkt an den Feuertonnen und halten sich an ihren Glühweintassen fest. Ein Paar tanzt sogar, und auf dem Kapellenhügel rollen ein paar fröhlich-aufgekratzte Kinder durch das Gras. Das frischvermählte Ehepaar aus Amerika sitzt schon im Zug nach Salzburg.
Und während die Welt um sie herum erneut in Kriegen zu versinken droht, steht auf diesem kleinen Schutthügel in dieser kleinen Stadt in Österreich eine kleine Kapelle und erinnert an die wichtigste Botschaft der Weihnachtszeit – mit einem Lied, das nun schon seit mehr als 200 Jahren verkündet: „Christ, der Retter, ist da!“
Hinweis: Die Video-Reportage über den Ursprung von „Stille Nacht“ ist mittlerweile auch auf Deutsch hier auf dem Youtube-Kanal von EWTN Deutschland erschienen: