5. Oktober 2020
Das Phänomen der Leugnung der objektiven Wahrheit reicht bis zurück in die griechische Antike. Im Bereich der Philosophie maskieren sich Leugner der Wahrheit heute als Konstruktivisten. Auch in manchen Fächern der Theologie wertschätzen und folgen Gelehrte dieser spezifischen Sichtweise der Wirklichkeit.
Papst Franziskus findet in seiner neuen Enzyklika "Fratelli tutti" deutliche Worte: "Der Relativismus ist keine Lösung. Unter dem Deckmantel von vermeintlicher Toleranz führt er letztendlich dazu, dass die Mächtigen sittliche Werte der momentanen Zweckmäßigkeit entsprechend interpretieren." (FT, 206)
Wir wissen, dass der Diskurs nicht Wahrheit hervorbringt oder erzeugt, aber in einem Austausch von Überlegungen und Argumenten zur Einsicht führen kann, dass Meinungen erlaubt sind, aber dass das, was wir Wahrheit nennen, sich hiervon unterscheidet. Summarisch spricht von Franziskus über die "Mächtigen", die also von säkularen Nützlichkeitsaspekten sich leiten lassen oder mit nebulösen Begriffen wie "Lebensqualität" vielleicht die Abtreibung legitimieren oder sich für den assistierten Suizid aussprechen.
Sie alle kennen sicher den Ausspruch: "Das ist doch kein Leben mehr!" Leben ist Leben – von Anfang an und bis zuletzt. Papst Franziskus erinnert an die Unverfügbarkeit der Menschenwürde und bekräftigt, "dass jeder Mensch heilig und unantastbar ist": "Damit eine Gesellschaft eine Zukunft besitzt, muss sie eine tiefe Achtung vor der Wahrheit der Menschenwürde entwickeln, der wir uns unterwerfen. Dann wird man es nicht aus Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung und vor der Last des Gesetzes, sondern aus Überzeugung unterlassen, jemanden zu töten." (FT, 207) Der Papst sagt unmissverständlich: "Zum Relativismus kommt die Gefahr hinzu, dass der Mächtigste oder Schlauste am Ende eine Scheinwahrheit aufoktroyiert." (FT, 209)
Zugleich warnt er vor dem "»Konsens« einer eingeschläferten und eingeschüchterten Bevölkerung" (FT, 209). Mit Nachdruck wendet er sich gegen die "Manipulation, Verzerrung und Verschleierung der Wahrheit", die real stattfindet – und wer sich darüber informieren möchte, der schaue sich an, wie über den Berliner "Marsch für das Leben" alle Jahre wieder berichtet wird. Der Papst sagt deutlich: "Was wir »Wahrheit« nennen, ist nicht nur die Faktenvermittlung durch den Journalismus." (FT, 208)
Wir verlernen vielleicht in einer vielfach bunt illuminierten Welt auch das Gespür für die Unterscheidung. Wer die Wahrheitsfrage ausblendet, weicht dem aus, was wesentlich und verzichtbar ist. Wir können die Wahrheit leugnen oder abstreiten, aber wir alle kommen an dem, der die Wahrheit ist, nicht vorbei. Auch wenn wir das Jüngste Gericht nicht wahrhaben wollen, dieses zu einem Mythos oder Symbol erklären, gehen wir dem wiederkommenden Herrn entgegen. Auch lassen sich Fegefeuer und Hölle leugnen oder symbolisch deuten, aber missverständliche wie irreführende Interpretationen gibt es immer wieder.
Papst Franziskus sieht aber auch die inneren Gefährdungen bei uns selbst. Der "gleichgültige und unerbittliche Individualismus" sei ein "Ergebnis der Trägheit" (FT, 209). Es herrsche eine "verkehrte und leere Logik". Die "sittliche Vernunft werde verdrängt". Man behauptet: "Es gibt kein Gut und Böse an sich, sondern nur eine Berechnung von Vor- und Nachteilen. … So triumphiert am Ende die Logik der Gewalt." (FT, 210) Die "grundlegenden Wahrheiten" gingen aber über "Dialog und Konsens" hinaus – "wir erkennen sie als Werte an, die unsere individuelle Situation überschreiten und niemals verhandelbar sind" (FT, 211).
Unser Verständnis hinsichtlich ihrer Bedeutung und Wichtigkeit mag wachsen – und in diesem Sinne ist der Konsens etwas Dynamisches –, aber an sich werden sie aufgrund ihrer ihnen innewohnenden Bedeutung für unveränderlich gehalten: "Wenn man die Würde des Nächsten in jeder Situation respektieren soll, dann nicht etwa deshalb, weil wir die Würde des anderen erfinden oder annehmen, sondern weil er wirklich einen Wert besitzt, der über die materiellen Dinge und die Umstände hinausgeht; dieser erfordert, dass wir ihn auf andere Weise behandeln.
Dass jeder Mensch eine unveräußerliche Würde besitzt, ist eine Wahrheit, die der menschlichen Natur unabhängig jeden kulturellen Wandels zukommt. Deshalb besitzt der Mensch in jeder zeitlichen Epoche die gleiche unantastbare Würde. Niemand kann sich durch die Umstände ermächtigt fühlen, diese Überzeugung zu leugnen oder ihr nicht entsprechend zu handeln.
Der Verstand kann also durch Reflexion, Erfahrung und Dialog die Wirklichkeit der Dinge erforschen, um innerhalb dieser Wirklichkeit, die ihn übersteigt, die Grundlage bestimmter allgemein gültiger sittlicher Ansprüche zu erkennen." (FT, 213) Papst Franziskus bekräftigt sodann das Naturrecht: "Für Gläubige ist die menschliche Natur als Quelle ethischer Prinzipien von Gott geschaffen, der diesen Prinzipien letztlich eine feste Grundlage verleiht." (FT, 214) Zugleich betont er die Notwendigkeit eines aufrichtigen und authentischen Dialogs. Was Franziskus darlegt, steht im Einklang mit der Lehre der Kirche aller Zeiten und Orte – und zeigt besonders seine geistliche Verbundenheit mit dem emeritierten Papst Benedikt XVI.
Der Relativismus wird gegenwärtig auch in der Kirche oft als eine Lösung ausgegeben. Tatsächlich ist aber, wie Franziskus bekräftigt, der Relativismus niemals und damit auch nirgends eine Lösung, nicht einmal ein Teil davon, sondern ein sehr ernstes Problem. Die Kirche hat – wie das Zweite Vatikanische Konzil bekräftigt – auf den zu verweisen, der das "lumen gentium" ist, das Licht der Völker, nämlich Christus. Dann schenkt sie Orientierung. Orientiert sie sich selbst relativistisch, vermehrt sie nur die Konfusion in der Welt.
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