Jeder, der den Namen Immanuel Kant kennt, hat auch schon vom Kategorischen Imperativ gehört. Dieser lautet: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. Ottfried Höffe glaubt, ihn auf die Formel verkürzen zu können: "Handle moralisch!" (Höffe, Ethik des kategorischen Imperativs, in: A. Pieper, Hg., Geschichte der neueren Ethik I, Tübingen, Basel 1992, S. 132).

Mit einer gewissen Einschränkung gebe ich ihm recht. Der Kategorische Imperativ erfüllt zwei Funktionen. Zum einen formuliert er ein Testverfahren fürs moralische Handeln. Eine Handlung ist demnach nur dann moralisch gut, wenn sie einer Maxime entspricht, deren strenge Allgemeingültigkeit gewollt werden kann. Zum anderen ist dieses Testverfahren aber selber in der Form eines kategorischen Imperativs formuliert. Wenn es nur um die heuristische Funktion ginge, würde ein hypothetischer Imperativ genügen: "Wenn du moralisch handeln willst, dann handle nur nach derjenigen Maxime..." Aber darauf beschränkt sich Kants Formulierung eben nicht. Vielmehr ist der kategorische Imperativ der moralische Imperativ selber, nur eben bei Kant in einer Weise formuliert, dass er unserem Bedürfnis nach Operationalisierbarkeit entgegenkommt. Überspitzt könnte man sagen: Als Testverfahren ist der Kategorische Imperativ eine Erfindung Kants, aber als Imperativ jenes Faktum der Vernunft, das jeder Mensch in sich vorfindet. Um diesen Imperativ zu finden, braucht man weder Kant zu studieren noch überhaupt Philosophie.

Höffe hat also recht: Sofern die heuristische Funktion außer acht gelassen wird, lässt sich der Kategorische Imperativ auf die Formel reduzieren: "Handle moralisch!" Es ist genau diese Erfahrung eines ursprünglichen Aufgefordertseins, das den Menschen zu einem moralfähigen Wesen macht, und er ist ein solches notwendigerweise, weil er Vernunft hat.
Diese Einsicht Kants deckt sich mit der scholastischen Lehre über die Synderesis, das Urgewissen. Denn statt "Handle moralisch!" kann man auch sagen: "Tue das Gute, meide das Böse!" Wenn auch in der Ausdeutung dieses Phänomens die Gemeinsamkeiten zwischen Kant und der Scholastik ganz schnell wieder zu Ende sind, bleibt doch festzuhalten, dass Kategorischer Imperativ und die Lehre über die Synderesis ein und dasselbe, allen Menschen gemeinsame Phänomen sittlicher Urerfahrung betreffen. Nur die Weise, es philosophisch zu fassen und denkerisch zu bewältigen, ist verschieden.

John Henry Newman (1801-1890) geht vom selben Phänomen aus, wenn er in seinem berühmten Werk Grammar of Assent aus dem Gewissen einen Weg zur Gotteserkenntnis macht. Er unterscheidet im Gewissen einen ‘moral sense’ und einen ‘sense of duty’. Der moral sense erfasst die moralische Qualität einer Handlung, der sense of duty ihre Gesolltheit. So übt nach Newman das Gewissen ein doppeltes Amt aus: ein kritisches und ein richterliches. Durch die Unterscheidung des richterlichen Aktes vom kritischen präpariert Newman aus dem Gesamtphänomen des Sittlichen genau jenes Moment heraus, das Kant die "bloße Form des Gesetzes" nennt, also den Verpflichtungscharakter als solchen, unabhängig von aller Materie des Gesetzes. Das Gewissen in seiner kritischen Funktion kann irren. In schwierigen, komplexen Fällen kann es vorkommen, dass Menschen gleicher Gewissenhaftigkeit zu unterschiedlichen Gewissensurteilen kommen. Es können nicht beide recht haben. Das tut aber dem sense of duty keinen Abbruch, der die Verpflichtungskraft als solches wahrnimmt. Durch diesen Imperativ erweist sich das Gewissen als einen mit Autorität ausgestatteten Ermahner, der über sich selbst auf eine Quelle dieser Autorität hinweist. Das Gewissen ist bloß die Stimme dieser Quelle, seine Autorität nur eine geliehene. "Wenn wir, wie es ja der Fall ist, uns verantwortlich fühlen, beschämt sind, erschreckt sind bei einer Verfehlung gegen die Stimme des Gewissens, so schließt das ein, dass hier Einer ist, dem wir verantwortlich sind, vor dem wir beschämt sind, dessen Ansprüche an uns wir fürchten" (Entwurf einer Zustimmungslehre, Mainz 1961, S. 77).

Dieser Schluss aus dem moralischen Imperativ auf eine göttliche Autorität wird hinfällig, wenn Thomisten im Anschluss an den aristotelischen Ansatz des Aquinaten aus dem bonum der Synderesis ein appetibile machen. Der sonst von mir hochgeschätzte Josef Pieper (1904-1997) tut genau dies. In seinem Büchlein Die Wirklichkeit und das Gute (München 1949) erkennt er zunächst an, dass das Vernunfturteil der Synderesis ein Imperativ ist (S. 61). Diesem Imperativ liegt nach Pieper ein Wille zugrunde, aber nicht der göttliche, sondern der menschliche Wille, und zwar als "einfache Wollung der naturhaften Liebe zum Guten" (S. 62). "Die imperativische Form jenes Spruches leitet sich her, das wurde schon gesagt, von einem voraufgehenden Willensakt (...) Wäre der Wille nicht wirksam, es könnte kein Imperativ zustandekommen; das ‘soll sein’ wäre undenkbar" (S. 66).

Dieser Fehlschluss aus einem "Ich will" auf ein "Ich soll" ist das Ergebnis der schon besprochenen Identifizierung des moralisch gesollten Guten mit dem aristotelischen Guten, wonach alles strebt. Weil das Gute den Charakter des Zieles hat, "darum geschieht es, dass die Vernunft naturhaft alles als gut erfaßt, wozu der Mensch eine naturhafte Wesensneigung hat" (S. 68), so übersetzt Pieper Thomas in S. th. I, II, 94, 2: "Quia vero bonum habet rationem finis (...), inde est quod omnia illa, ad quae homo habet naturalem inclinationem, ratio naturaliter apprehendit ut bona".

So aber wird völlig unplausibel, woher das Gewissen seine Autorität haben soll. Wie kann sich eine inclinatio in einen Imperativ verwandeln? Das Gute, das Gegenstand einer Neigung ist -einer Neigung egal welcher Art, ob sinnlich, vernünftig oder naturhaft - kann uns zu einer Handlung locken und motivieren, sie aber niemals befehlen. Das appetibile, das Appetitive (L. Honnefelder) kann immer nur einen hypothetischen, nie eine kategorischen Imperativ begründen: "Wenn du deiner Neigung nachgeben willst, dann tue das Gute." In der aristotelisch-thomistischen Konzeption wird das moralisch Gute auf das Begehrenswerte reduziert und verliert damit seine ganze Hoheit und Autorität, mit denen es unser Tun in Anspruch nehmen kann und die ein Reflex der göttlichen Autorität sind. Diese ist es, die im moralischen Imperativ erscheint und ihm seine Verbindlichkeit verleiht, nicht der menschliche Wille oder eine natürliche Neigung, ein naturhaftes Streben (naturalis inclinatio).

Im Thomismus ergibt sich also aus der fatalen Ineinssetzung des außermoralischen aristotelischen Guten mit dem gesollten moralischen Guten die Ineinssetzung der naturhaften Inclinatio mit einem Imperativ. Aber so wenig ich das moralisch Gute auf ein appetibile reduzieren kann, so wenig kann ich aus einer Neigung einen Imperativ ableiten. Woher hat die Neigung ihre Autorität? Die Neigung als Neigung kann nicht die Quelle eines Sollens sein, sonst müsste ich jeder Neigung folgen. Nicht die Neigung entscheidet darüber, was ich wollen soll, sondern das Sittengesetz entscheidet, welcher Neigung ich folgen darf. Die Neigung ist nicht der Ursprung des moralischen Sollens, sondern unterliegt ihm als einer Instanz, die unabhängig von ihr existiert. Nicht die Neigung entscheidet über das, was als gut zu gelten hat, sondern das von ihr unabhängige Sittengesetz richtet über die Neigung. Oder anders ausgedrückt: Das Sittengesetz verdankt seine Verbindlichkeit nicht der Neigung, sondern die Neigung ihre Erlaubtheit dem Sittengesetz.

C. S. Lewis (1898-1963) schreibt in der Abschaffung des Menschen über solche Reduktion des moralisch Guten auf Außermoralisches bzw. über denjenigen, der das tut und "versucht, aus Voraussetzungen im Indikativ eine Schlussfolgerung im Imperativ zu ziehen": Und mag er es in alle Ewigkeit versuchen, es wird ihm nicht gelingen, denn die Sache ist an sich unmöglich." (39). Lewis Widerlegung der Leugnungen des Naturrechts fällt in diesem Buch deshalb so überzeugend aus, weil er in dieser Frage kein Thomist ist. 

Die Serie "Um eine Philosophie des Guten" erscheint alle 14 Tage am Dienstag um 9 Uhr bei CNA Deutsch. 

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